M. Reif H. Baitsch Genetische Beratung Hilfestellung für eine selbstverantwortliche Entscheidung? Mit 10 Abbildungen Springer-Verlag Berlin . Heidelberg . NewYork London . Paris . Tokyo Dr.rer.soc. Dipl.-Psych. Maria Reif Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Helmut Baitsch Abteilung für Anthropologie und Wissenschaftsforschung der Universität Ulm, Am Hochsträß 8, 7900 Ulm ISBN13: 978-3-540-16958-1 e-ISBN:978-3-642-71505-1 DOI: 10.1007/978-3-642-71505-1 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Reif, Maria: Genetische Beratung - Hilfestellung für eine selbstverantwortliche Entscheidung? / M. Reif; H. Baitsch. Berlin; Heidelberg; New York; London; Paris; Tokyo: Springer, 1986 NE: Baitsch, Helmut Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Da tenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugs weiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs.2 UrhG werden durch die ,Verwertungsgesellschaft Wort'. München, wahrgenommen. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1986 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß sol che Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu be trachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Datenkonversion und Gesamtherstellung: Appl, Wemding 2119/3140-543210 Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen eines Forschungspro jekts, das wesentlich aus zwei biographischen Wurzeln erwuchs: Weit zurück reichen die Erfahrungen und Ideen von Helmut Baitsch, der sich bereits in den 50er Jahren mit der Geschichte und dem Selbstverständnis der Anthropologie und Humangenetik aus einandersetzte. Diese Reflexionen über die historische Entwicklung des Fachgebietes, die Aufgaben, Ziele, Wertkonzepte und Auswir kungen der Anthropologie und Humangenetik auf die Gesellschaft und insbesondere auf den einzelnen und seine Familie führten da zu, die genetische Beratung als komplexen psychosozialen Prozeß zu verstehen. Ende der 70er Jahre konzipierte er das Projekt Ärztli che und psychologische Aspekte der genetischen Beratung als ein Teil projekt des Sonderforschungsbereiches 129 Psychotherapeutische Prozesse, dessen Sprecher er damals war. Maria Reif befaßte sich zunächst im Rahmen der Sozialisationsforschung mit Fragen der in terpersonellen Wahrnehmung und des wechselseitigen Verständnis ses. Hierbei ging es ihr insbesondere um die Fähigkeit des einzelnen zu erkennen, was und aus welchem Grund der jeweilige Interak tionspartner in einer gegebenen Situation von ihm erwartet, um die Fähigkeit, dies mit den eigenen Bedürfnissen, Erwartungen und Wertorientierungen in Beziehung zu setzen, und - beides berück sichtigend - handeln zu können. Die Komplexität, die Situations spezifität und die Subjektivität des menschlichen Handelns sowie die Schwierigkeit, diese im Forschungsprozeß angemessen zu erfas sen, stellten seit jeher einen besonderen Anreiz und damit Arbeits schwerpunkt für sie dar. Dies führte zu einer ausführlichen Ausein andersetzung mit Konzepten der Sozialisationstheorie, der Sozial psychologie, der phänomenologisch orientierten .soziologie und schließlich der qualitativen Sozialforschung. 1980 konnte mit Beginn der finanziellen Förderung des Sonder forschungsbereiches durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft die gemeinsame Arbeit am Projekt aufgenommen werden. Der un terschiedliche Erfahrungshintergrund der Verfasser erwies sich als wertvolle Herausforderung und führte zu einer intensiven und fruchtbaren Diskussion. Die ursprüngliche Antragsformulierung wurde tiefgreifend überarbeitet; die Konturen eines differenzierten Konzeptes genetischer Beratung entstanden als Ausgangspunkt für VI Vorwort das weitere Vorgehen. In engem Zusammenhang hiermit war zu überlegen, welcher methodische Ansatz dem komplexen Sachver halt, den es zu erforschen galt, am ehesten gerecht wird und welche Gütekriterien außer der Angemessenheit zu erfüllen sind. Es war ei ne Phase umfassenden Lernens: Der Psychologin und Sozialwissen schaftIerin erschloß sich ein neues Problemfeld mit seinem histori schen Hintergrund, seinen medizinisch-genetischen und psychoso zialen Aspekten sowie mit Wertorientierungen und ethischen Dilemmata, die mit ihm verbunden sind. Der Naturwissenschaftler und Arzt sah sich mit Denkweisen der Sozialwissenschaften kon frontiert, die ihm eine neue Dimension im Verständnis der geneti schen Beratung eröffneten. So war es für ihn folgerichtig, der Unter sucherin (Maria Reif) den erforderlichen Freiraum für die Entwick lung einer der Fragestellung angemessenen Methodik einzuräumen, sich für die zum damaligen Zeitpunkt als gewagt erscheinende (und auch heute erst ansatzweise etablierte) Vorgehensweise zu begei stern und sie zu unterstützen. Auch stellte er sich selbst als einer der (zu beforschenden) genetischen Berater zur Verfügung. Die Verfas ser entschieden sich für einen qualitativen Ansatz, in dem Klienten und Berater nicht als Forschungsobjekte, sondern als Partner im Forschungsprojekt, als Experten für Fragen, auf die die Forscher Antworten suchen, betrachtet werden; sie wählten ein Vorgehen, das ermöglicht, das Wahrnehmen und Erleben, die Sicht von Bera ter und Klienten, zu erfassen. Die rege interdisziplinäre Diskussion wurde durch die Koopera tion mit anderen Teilprojekten des Sonderforschungsbereiches und mit den an der empirischen Untersuchung teilnehmenden geneti schen Beratern erweitert und intensiviert. Mit der Institution der ge netischen Beratung machte sich die Untersucherin u.a. durch die Teilnahme an regelmäßigen Beratungsbesprechungen der Berater gruppe vertraut; auch nahm sie bereits vor der Datenerhebung an genetischen Beratungen teil. Hieraus ergaben sich weit über die üb liche Forschungsbeziehung hinausgehende wechselseitig anregende Kontakte. Inzwischen bildete sich eine Gruppe von Beratern, die sich gemeinsam mit der Verfasserin in einer regelmäßigen Ge sprächsrunde mit psychosozialen Gesichtspunkten der Beratung, dem eigenen Selbstverständnis und eigenen Wertorientierungen auseinandersetzt. Die Mitarbeit einer Linguistin (Jennifer Hartog), kurzzeitig einer weiteren Psychologin (Hilde Mergel-Hölz) sowie zweier zuneh mend an sozialwissenschaftlichen Fragestellungen interessierten Biologinnen (Annette Fässler, Gerlinde Sponholz) ermöglichte wei tere methodische Zugangs weisen zur Fragestellung und die Bear beitung bestimmter Detailfragen. Die vorliegende Arbeit, die auf einer Fülle vielseitiger Anregun gen basiert, ist aus der Perspektive der Untersucherin geschrieben und umfaßt den Bereich, den sie in Diskussion mit Helmut Baitsch Vorwort VII erarbeitet hat. A.Fässler, J.Hartog und G.Sponholz werden zu ei nem späteren Zeitpunkt gesondert über ihre Befunde berichten. Unser Dank richtet sich an viele: An Walther Vogel, den Leiter der Abteilung Klinische Genetik der Universität Ulm, der uns die Datenerhebung, den Zugang zu den Klienten ennöglichte, sich selbst als genetischer Berater für die empirische Untersuchung zur Verfügung stellte und auch darüber hinaus unsere Projektarbeit tat kräftig unterstützte; er richtet sich an Dorothee Speit und Michael Wolf (Abteilung Klinische Genetik), die ebenfalls als genetische Be rater mitwirkten und die Untersucherin in vielen, auch sehr persön lichen Gesprächen mit der genetischen Beratung vertraut machten; er gilt den Teilnehmern der Gesprächsrunde der Berater, die sich seit Anfang 1985 mit der Verfasserin zur Besprechung psychosozia ler Gesichtspunkte genetischer Beratung trifft. Vor allem gilt unser Dank den Klienten, die in einer Situation, die eine besondere Vertrauensbasis voraussetzt, bereit waren, an unse rer Untersuchung teilzunehmen. Daß die Klienten diese Teilnahme nicht als belastend, sondern zum Teil sogar als hilfreich wahrnah men und dies auch der Untersucherin vennittelten, bedeutet uns viel. Anregungen methodologischer Art verdanken wir verschiedenen Mitarbeitern des Sonderforschungsbereiches, insbesondere Petra Christian-Widmaier, Lisbeth Neudert-Dreyer und Horst Kächele. Unser Dank gilt Horst Kächele insbesondere auch deshalb, da er uns ennutigte und wesentlich dazu beitrug, unsere Arbeit in dieser Fonn zu veröffentlichen. Die Erstellung des Manuskripts in einer Fonn, die die Druckle gung erleichtert, erforderte besonderen Einsatz von Gerti Kinzler und Christa Kuisl. In kürzester Zeit machten sie sich mit der ge wählten Fonn der Textverarbeitung vertraut. Günter Neumann (Universitäts-Rechenzentrum) trug wesentlich hierzu bei; für die Probleme, die sich für uns aus der Textverarbeitung ergaben, fand er immer eine praktikable Lösung. Ulrike Ziegler, die auch das Litera turverzeichnis erstellte, und Christa Kuisl übernahmen wesentliche Aufgaben des Korrekturlesens. Eine Durchsicht des gesamten Ma nuskripts nach inhaltlichen Gesichtspunkten und eine Diskussion der einzelnen Kapitel mit der Verfasserin übernahm Dorothe.e Speit, deren Rückmeldung uns auch in ihrer Rolle als in die Untersuchung einbezogene genetische Beraterin besonders wichtig war. Während unserer Arbeit über genetische Beratung mit dem Ziel, Klienten Hilfestellung für eine selbstverantwortliche Entscheidung zu geben, geriet die genetische Beratung verschiedentlich in die öf fentliche Kritik, so z.B. auf dem Kongreß Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik im April 1985 in Bonn. Die Annahme, es würden (auch heute noch) eugenische Ziele verfolgt, der Vorwurf der Individualisierung des Problems einer denkbaren Behinderung, statt dieses auf gesellschaftspolitischer Ebene anzugehen, sowie die VIII Vorwort Sicht, daß die genetische Beratung als Institution das negative Be hinderten bild der Gesellschaft verstärke, führten zu einer Ableh nung der genetischen Beratung durch die Teilnehmerinnen dieses Kongresses. Wir hoffen, mit der vorliegenden Arbeit, die sich mit dem Wandel der Zielvorstellungen genetischer Beratung, mit ihr verbundener Dilemmata wie auch konkreten Beratungsfällen und deren Erleben durch die Klienten auseinandersetzt, zu einer sachli chen Diskussion der genetischen Beratung, ihrer Aufgaben, Ziele und Möglichkeiten - auch ihrer Gefahren - beizutragen. Ulm, im Oktober 1986 Maria Reif Helmut Baitsch Inhaltsverzeichnis Einftihrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... 1 . . 1 Ziele, Möglichkeiten und Auswirkungen der genetischen Beratung 4 1.1 Zielvorstellungen . . . . 4 1.1.1 Wandel der Zielvorstellungen in den USA. 4 1.1.2 Wandel der Zielvorstellungen in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. . . 1.2 Möglichkeiten der genetischen Beratung, Hilfestellung für eine selbstverantwortliche Entscheidung zu geben 15 1.3 Auswirkungen der genetischen Beratung . . . . . . . . 21 2 Dilemmata der genetischen Beratung . . . . . . . . .. . . 27 2.1 Selbstverantwortliche Entscheidung der Klienten im Rahmen persönlicher sowie gesellschaftlicher Wertorientierungen und Normen . .. ... . . . 27 2.2 Selbstverantwortliche Entscheidung der Klienten im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Information und dem Anspruch auf Nichtwissen . . . . . 32 2.3 Ziel: Individuelle Hilfestellung - Verdacht: Verfolgung eugenischer Zielvorstellungen . . 35 2.4 Konstruktive Versuche, den gegebenen Dilemmata zu begegnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39. . 3 Beratungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 3.1 Konzepte, die auf Informationsvermiulung abzielen 46 3.1.1 Entscheidungstheoretisch orientierte Ansätze . 46 3.1.2 Nichtdirektive, klientenzentrierte Informationsvermiulung . . . . . . . . . . . . 48 3.1.3 Informationsvermiulung mit klientenspezifischen Empfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 0 3.2 Konzepte mit dem Ziel umfassender Hilfestellung 54 X Inhaltsverzeichnis 3.3 Psychotherapeutische Konzepte mit Bedeutung für die genetische Beratung . . . . 58 3.3.1 Konzepte der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie .. . . 58 3.3.2 Ein Konzept theorie-und therapieübergreifender Interventionsstrategien 60 3.3.3 Gestaltberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4 Genetische Beratung als Interaktionsprozeß . . . . . . . 6.4 4.1 Genetische Beratung als Teil des Entscheidungsprozesses der Klienten . . . . . . . . . . . . . . . 64 4.2 Genetische Beratung als gegenseitiger Informationsaustausch . . . . . . . . . 66 4.2.1 Erwartungen, Vorwissen und Sichtweisen der Klienten 68 4.2.2 Informationsvermittlung . . . . . . . . . 70 4.2.3 Auswirkungen der genetischen Beratung . . . . . ... 71 5 Methodischer Zugang zum Interaktionsprozeß der genetischen Beratung und zum Entscheidungsprozeß der Klienten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 3. . 5.1 Methodologische Überlegungen 73 5.2 Datenerhebung . . . . . . . . . 77 5.2.1 Datenquellen . . . . . . . . . . 77 5.2.2 Zugang zu den Beratern und zu den Klienten 81 5.3 Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . 83 6 Befunde .................... . .. . 96 6.1 Kurzbeschreibung der einbezogenen Beratungsfälle 96 6.2 Ablaufstrukturanalyse des genetischen Beratungsgesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 09. 6.2.1 Gemeinsamkeiten der Ablaufstruktur der verschiedenen, Beratungsgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6.2.2 Ablaufstruktur der Beratungsgespräche bei den einzelnen Beratern ............... . 114 6.2.3 Besonderheiten der Ablaufstruktur der Beratungsgespräche der verschiedenen Berater . . 125 6.3 Erwartungen der Klienten . . . . . 127 6.3.1 Strukturierung der Erwartungen . . . . . . . . . . . 127 6.3.2 Übereinstimmung der Erwartungen zwischen den Partnern . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. 47 Inhaltsverzeichnis XI 6.3.3 Übereinstimmung zwischen den Erwartungen der Klienten und der Wahrnehmung dieser Erwartungen durch den Berater . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 . 6.3.4 Beispiele für die Komplexität der Erwartungen der Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 6.4 Vorwissen und Sichtweisen der Klienten .... . 155 6.4.1 Vorwissen der Klienten zur Gen.etik . . . . . . . 155. 6.4.2 Vorwissen der Klienten zur genetischen Beratung . 161 6.4.3 Vorwissen der Klienten zur Pränataldiagnostik . . .1 62 6.4.4 Sichtweisen der Klienten zur Pränataldiagnostik . . 164 6.4.5 Sichtweisen der Klienten zur Frage nach dem "Warum" .. 166 6.4.6 Sichtweisen der Klienten zur Reaktion ihrer Umwelt. . 168 6.4.7 Sichtweisen der Klienten, die auf Partnerkonflikte schließen lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 . . . 6.4.8 Sichtweisen der Klienten, die auf Emotionen schließen lassen . . . . .. . . ... .. .. ..... . · 174 6.4.9 Die Sichtweisen der Klienten im Rahmen des Entscheidungsprozesses . . . . . . . . · 177 6.5 Infonnationsvennittlung . . . . . . . . . . · 199 6.5.1 Hinweise auf empathische Infonnationsvennittlung · 201 6.5.2 Explizit auf die Entscheidung bezogene Infonnationsvennittlung . . . . . . . . . . . . . 204 6.5.3 Beispiele für die - teilweise - Unwirksamkeit der Infonnationsvennittlung . . . . . . . . . . .210 6.6 Auswirkungen der genetischen Beratung . . . · 213 6.6.1 Veränderung des Kenntnisstandes der Klienten. · 214 6.6.2 Emotionale Entlastung und emotionale Belastung · 217 6.6.3 Genetische Beratung als "Hilfsmittel" gegenüber der Umwelt . . ... .. . .. . . . . ...... . · 221 6.6.4 Zur Rolle dieser Auswirkungen im Entscheidunsprozeß der Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 22. . . . . 7 Perspektiven.. .. ....... . 230 7.1 Perspektiven für die Forschung . 230 7.2 Perspektiven für die Praxis der genetischen Beratung. . 234 Literatur .... .239 Sachverzeichnis . .245