Nikolaus Pechstein Euripides Satyrographos Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Michael Erler, Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 115 s B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig Euripides Satyrographos Ein Kommentar zu den Euripideischen Satyrspielfragmenten Von Nikolaus Pechstein Β B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1998 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pechstein, Nikolaus: Euripides Satyrographos: ein Kommentar zu den Euripideischen Satyrspielfragmenten / von Nikolaus Pechstein. — Stuttgart; Leipzig: Teubner, 1998 (Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 115) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1997 ISBN 3-519-07664-0 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts- gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 1998 B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig Printed in Germany Druck und Bindung: Röck, Weinsberg Vorwort Bedenkt man die herausragende Bedeutung des tragischen Dichters Euripides, weit über das fünfte Jahrhundert v. Chr. hinaus, und das große Interesse an seinem Satyrspiel Kyklops,1 dem einzigen, nur durch einen Zufall der Überlieferungsge- schichte vollständig erhaltenen Satyrspiel, so überrascht die verhältnismäßig geringe Beachtung, die die philologische For- schung seinen Satyrspielfragmenten schenkte.2 Zum einen mö- gen spektakuläre Papyrusfunde von Aischyleischen und Sopho- kleischen Satyrspielen3 die Aufmerksamkeit abgelenkt, zum an- deren ein - eher unberechtigtes - abfälliges Werturteil über den Kyklops4 den Blick für die Bedeutung dieser Fragmente zum Verständnis nicht nur der Euripideischen Satyrspielproduktion, sondern auch der Gattung überhaupt getrübt haben. Der vorliegende Kommentar will daher eine Lücke füllen, indem er versucht, als Ergänzung zu den philologischen Kom- mentaren zum Kyklops die Satyrspieldichtung des Euripides zu erschließen. Die vorliegende Arbeit, zugleich überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die der Fachbereich Altertumswissenschaf- ten der Freien Universität Berlin im Frühjahr 1997 angenommen hat, versteht sich indessen nicht als eine Textausgabe; die Texte von Fragmenten und Testimonien folgen den jeweils maßgeblichen Ausgaben und bieten einen textkritischen Apparat nur da, wo neue Konjekturen oder (bei den Papyrustexten) 1 Dieses Interesse dokumentiert sich nicht nur in den drei philologi- schen Kommentaren, die in den letzten 20 Jahren erschienen sind, son- dern auch in nicht wenigen modernen Aufführungen (zuletzt 1995 am Deutschen Theater Berlin). 2 Vgl. vor allem die Darstellung von Steffen 1971 a. 3 Zu nennen sind hier größere Fragmente aus Aischylos' Diktyulkoi und Isthmiastai, sowie vor edlem natürlich ein über 450 zum Teil sehr gut erhaltene Verse enthaltendes Fragment (F 314) aus Sophokles' Ichnetdai. 4 Vgl. ζ. B. Churmuziadis 1974,115 ff. 6 Vorwort neue Lesarten zu verzeichnen sind, oder wo der Kommentar eine andere Lesart bzw. Konjektur favorisiert respektive disku- tiert.5 Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, Inge und t Dr. Klaus Pechstein, die mir Studium und Promotion ermög- lichten und mich alle Zeit nach Kräften unterstützt haben. Besonderer Dank gebührt Herrn Prof. Bernd Seidensticker, der diese Arbeit angeregt und betreut hat; zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Prof. Tilman Krischer für die Übernahme des Koreferats, Herrn Prof. Ernst Heitsch für die Aufnahme dieser Arbeit in die Beiträge zur Altertumskunde und ganz beson- ders Herrn Prof. Richard Kannicht, der mir mit seinem Rat zur Seite stand. Der Freien Universität Berlin gilt mein Dank für ihre Un- terstützung meines Promotionsvorhabens durch ein NAFÖG-Sti- pendium. Diese Arbeit wäre nicht ohne geduldige und sachkundige Unterstützung zustandegekommen. Besonderer Dank gilt meiner Frau Karin Wake; ferner möchte ich Gabriele Beekmann, Alex- ander Herda, Dr. Ralf Krumeich, Peter Kruschwitz, Dr. Carola Metzner-Nebelsick, Dr. Louis Nebelsick, Babette Pütz, Efstra- tios Sarischulis, Dr. Gerson Schade und Beate Zielke danken. Berlin, März 1998 Nikolaus Pechstein 5 Die Fragmente von Aischylos, Sophokles und der Tragici Minores sind nach der Snell-Kannicht-Radtschen Ausgabe (TrGF), die Fragmente des Euripides nach der Ausgabe von Nauck (TGF2) respektive dem Supple- ment von Bruno Snell zitiert. Generell sind bei den Autoren die Ausgaben der Oxford Classical Texts (im Fall von Aischylos Martin Wests Teubneriana) zugrundegelegt, wo nicht andere Herausgeber genannt werden. Inhaltsverzeichnis Einleitung Euripides Satyrographos 9 Die Zahl der Euripideischen Satyrspiele 19 Exkurs: Die Dramentitel auf dem Marmor Albanum (IG XIV1152) . 29 Euripides fälschlich zugeschriebene Satyrspiele 34 Autolykos Identität 39 Testimonien 41 Exkurs: Tzetzes' Quelle 51 Fragmente 56 Exkurs: Die Athleteninvektive 70 Sagenstoff 88 Vasenbilder 93 Exkurs: ,Homerische Becher' und Euripideische Dramen 99 Rekonstruktion 113 Exkurs: Autolykos, Mestra und Erysichthon 118 Busiris Identität. Testimonien 123 Fragmente 125 Sagenstoff 130 Vasenbilder 134 Rekonstruktion 137 Epetos ? Identität 141 Testimonium 142 Sagenstoff 143 Eurystheus Identität 145 Testimonien. Fragmente 146 Sagenstoff 168 Rekonstruktion 172 Lamia ? Identität 177 Testimonium 179 Fragment 180 Sagenstoff 182 8 Inhaltsverzeichnis Sisyphos Identität 185 Exkurs: Wilamowitz' Zweifel an der Echtheit des Euripideischen Sisyphos 185 Testimonien 192 Exkurs: Ε Oxy 2455 fr. 5-8 und die Reihenfolge der mit Σ beginnenden Dramenhypotheseis in den Tales from Euripides .... 196 Fragmente 204 Sagenstoff 208 Rekonstruktion 216 Skiron Identität. Testimonien 218 Fragmente 228 Sagenstoff 238 Rekonstruktion 239 Syleus Identität. Testimonien 243 Fragmente 255 Sagenstoff und Vasenbilder 272 Rekonstruktion 275 Theristai Identität. Testimonium. Sagenstoff 284 Unsichere Fragmente Autolykos 287 Autolykos oder Sisyphos Die Frage der Autorschaft von [43 Kritias] F 19 TrGF 1 289 Die Zitatquellen von F 19: (1) Aetios Plac. 1, 7 302 Exkurs: Die in F 19 vertretene atheistische Position 307 Die Zitatquellen von F 19: (2) Sextus Empiricus M. 9, 54 310 Fragmente 319 Busiris 344 Busiris oder Skiron 345 Epeios? 346 Eurystheus 347 Skiron 353 Syleus 354 Fragmente ohne Zuordnung 359 Verzeichnis der abgekürzten Literatur 362 Abbildungsnachweis 377 Index Namen und Sachen 378 Index Griechische Wörter 386 Stellenindex 388 Man wird durch die große Kunst in Erstaunen versetzt, und das Unanständige hört auf, es zu sein, weil es uns auf das gründlichste von der Würde des kunstreichen Dichters überzeugt. Johann Wolfgang von Goethe (1824) Der erste wahre Erzähler ist und bleibt der von Märchen. Wo guter Rat teuer war, wußte das Märchen ihn, und wo die Not am höchsten war, da war seine Hilfe am nächsten. Diese Not war die Not des Mythos. Das Märchen gibt uns Kunde von den frühesten Veranstaltun- gen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alb, den der Mythos auf ihre Brust gelegt hat- te, abzuschütteln. Es zeigt uns in der Gestalt des Dummen, wie die Menschheit sich gegen den Mythos »dumm stellt«; es zeigt uns in der Gestalt des jüngsten Bruders, wie ihre Chan- cen mit der Entfernung von der mythischen Urzeit wachsen; es zeigt uns in der Gestalt dessen, der auszog das Fürchten zu lernen, daß die Dinge durchschaubar sind, vor denen wir Furcht haben; es zeigt uns in der Gestalt des Klugen, daß die Fragen, die der Mythos stellt, einfältig sind, wie die Frage der Sphinx es ist (...). Das Ratsamste, so hat das Märchen vor Zeiten die Menschheit gelehrt, und so lehrt es noch heut die Kinder, ist, den Gewalten der mythischen Welt mit List und mit Übermut zu begegnen. (So polarisiert das Märchen den Mut, nämlich dialektisch: in Untermut, d. t. List, und in Übermut.) Walter Benjamin (1936) Einleitung Im Athen des fünften Jahrhunderts v. Chr. wurden jedes Jahr im Frühjahr zu Ehren des Gottes Dionysos die Großen Dionysien, das neben den Panathenäen wohl bedeutendste Fest der Stadt, gefeiert, dessen Höhepunkt der Wettstreit dreier tragischer Dichter bildete. An drei aufeinanderfolgenden Tagen führten drei Dichter je drei Tragödien und zum Abschluß ein heiteres Spiel auf, das Satyrspiel genannt wurde, weil der Chor immer aus Satyrn, den übermütigen und frivolen Begleitern des Dionysos, bestand.1 Eng verknüpft mit der Genese der attischen Tragödie, be- dient sich das Satyrspiel weitgehend derselben Bauformen und Bühnenkonventionen, derselben sprachlichen und metrischen Besonderheiten und bezieht wie jene ihre Stoffe aus der grie- chischen Mythologie. Die Unterschiede zur Tragödie liegen im wesentlichen in seiner Qualität als heiteres Spiel und in der immer notwendigen Integration der Satyrn begründet.2 Leider ist die τραγωιδία παίζουαχ, die „scherzende Tragö- die",3 fast völlig verloren gegangen. Während von den weit mehr als 1.200 Tragödien,4 die nach Hochrechnungen aus den didaskalischen Nachrichten im fünften Jahrhundert geschrieben und aufgeführt wurden, immerhin 30 Stücke von Aischylos, Sophokles, Euripides und zwei (Prometheus, Rhesos) von zwei un- bekannten Dichtern vollständig erhalten sind und zusammen mit zahllosen Fragmenten weiterer Stücke" ein relativ deutliches Bild von der Gattung geben, besitzen wir nur ein einziges voll- ständig erhaltenes Satyrspiel, den Kyklops des Euripides. Dane- ben gibt es noch eine Reihe von Titeln und Fragmenten von weiteren Satyrdramen, nennenswerten Umfang haben aber nur sehr wenige von ihnen: die Isthmiastai und die Diktyulkoi des Aischylos und die Ichneutat des Sophokles. 1 Zur Festspielpraxis anläßlich der Großen Dionysien und den Auffüh- rungsbedingungen der Tragödien zuletzt Kannicht 1991 b. 2 Zur Genese des Satyrspiels, sowie zu seinen Charakteristika s. Sei- densticker 1979, 208-10. 231-47; Seaford ad E. Cyc. p. 10-44. 3 Demetrios De eloc. 169. 4 Kannicht 1991 b, 18 f.