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Esping-Andersen travels South PDF

26 Pages·2016·0.24 MB·German
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Ingrid Wehr Esping-Andersen travels South Einige kritische Anmerkungen zur vergleichenden Wohlfahrtsregimeforschung Zur Vernachlässigung der Länder des Südens in der vergleichenden Wohlfahrtsregimeforschung Wohlfahrtsstaaten nehmen eine zentrale Rolle im kapitalistischen Entwick- lungsprozess der Industriestaaten des Nordens ein. Einkommensniveau und -gleichheit, Armutsraten sowie die Charakteristika von Arbeitsmärkten wur- den in der OECD-Welt wesentlich von wohlfahrtsstaatlichen Interventionen und Institutionen geprägt. Zugespitzt ließe sich – im Anschluss an Thomas H. Marshalls Überlegungen – formulieren, dass der moderne Wohlfahrtsstaat der entscheidende „Stoßdämpfer“ war, der den Widerspruch zwischen den beiden grundlegenden, jedoch miteinander in Konfl ikt stehenden Logiken des Modernisierungsprozesses abfederte: Während Industriekapitalismus und marktwirtschaftlich organisierte Ökonomie zur Generierung sozialer und ökonomischer Ungleichheit beitrugen, erforderte die wachsende De- mokratisierung von Staat und Politik eine formale politische und rechtli- che Gleichheit bzw. Gleichstellung aller Herrschaftsunterworfenen. Die Verankerung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen zur Durchsetzung sozialer Rechte, so Marshall, löste den Konfl ikt zwischen den beiden gegensätzlichen Organisationsprinzipien moderner Gesellschaften zwar nicht vollständig, ermöglichte jedoch eine „Zivilisierung“ des Kapitalismus und eine Reduktion des sozialen Konfl iktpotentials. Trotz der wohlfahrtsstaatlichen Einhegung der kapitalistischen Entwicklung wird das Spannungsverhältnis nicht aufge- hoben. Der Konfl ikt zwischen der grundsätzlichen formalen Gleichheit (im rechtlichen Bereich) und der realen Ungleichheit (im sozialen und ökono- mischen Bereich) ist deshalb der Normalzustand moderner Gesellschaften, der – unter Zwischenschaltung staatlicher Institutionen – beständigen Neu- defi nitionen bzw. -verhandlungen unterworfen ist (Marshall 1977: 92-93). Niveaus von Ungleichheit und Armut in den Industriestaaten des Nordens werden somit maßgeblich durch den modernen wohlfahrtsstaatlichen PERIPHERIE Nr. 114/115, 29. Jg. 2009, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 168-193 Esping-Andersen travels South ... 169 Interventionsstaat bestimmt, auch wenn diese Interventionen im Einzelnen recht unterschiedliche Formen, Tiefe und Breite annehmen können, wie in Gøsta Esping-Andersens (1993) Klassiker „Die drei Welten des Wohl- standskapitalismus“ ausführlich dargelegt wurde. Nach Esping-Andersen unterscheiden sich Wohlfahrtsstaaten liberaler, sozialdemokratischer wie konservativ-korporatistischer Ausprägung ganz wesentlich hinsichtlich der Produzenten von Wohlfahrt (dem jeweils spezifi schen Mix zwischen Markt, Staat und Familie), bezüglich des Niveaus der De-Kommodifi zierung1, der Universalität hinsichtlich des Abdeckungsgrades sozialer Leistungen so- wie des Ausmaßes der Umverteilung von Einkommen und Lebenschancen (siehe Tabelle 1). Aufgrund der Kritik, die er durch die Vernachlässigung von Gender-Aspekten erfuhr, ergänzte er die vier Kriterien in nachfolgen- den Publikationen noch durch die Kategorie der De-Familiarisierung, d.h. den Grad der Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit sozialer Versorgung von unbezahlter weiblicher (Haus-)Arbeit. Tabelle 1: Esping-Andersens Typologie der drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus Die drei Welten des (OECD-)Wohlfahrtskapitalismus nach Esping-Andersen liberal sozialdemokratisch konservativ Rolle von: Familie marginal marginal zentral Markt zentral marginal marginal Staat marginal zentral subsidiär Wohlfahrtsstaat: Solidaritätsmodus individuell universal Verwandtschaft; Kor- poratismus Solidarität vermittelt über: Markt Staat Familie Grad der De- minimal maximal hoch (für männliche Kommodifizierung Lohnarbeiter) Grad der De-Familiarisierung mittel hoch niedrig Ausmaß der Einkommensni- niedrig hoch mittel vellierung Charakteristische Beispiele USA, Neusee- Schweden, Dänemark Deutschland, Italien land, Kanada Inzwischen hat sich auch gezeigt, dass die drei Wohlfahrtsregimetypen hin- sichtlich ihrer Anpassungsstrategien an die Herausforderungen zunehmend 170 Ingrid Wehr globalisierter Waren- wie Finanzmärkte erheblich variieren (Scharpf 2000; Schmidt 2001). Während die Untersuchung von Wohlfahrtsregimen2 in der OECD- Welt ein fest etabliertes Forschungsfeld ist, wird wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen in den Ländern bzw. Regionen des Südens bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet.3 Es gibt nur wenige systematisch und transre- gional vergleichende Studien zum Einfl uss ökonomischer und politischer Faktoren auf die unterschiedlichen Varianten von Wohlfahrtsstaaten bzw. Wohlfahrtsregimen in den Ländern des Südens.4 Dies ist nicht zuletzt der verengten Perspektive des Mainstream zuzuschreiben (eine Ausnahme bilden Betz & Hein 2004; Croissant u.a. 2004), der durch die exklusive Fokussierung auf die Entwicklungen innerhalb der OECD-Welt lange Zeit übersah, dass auch Staaten auf niedrigerem Entwicklungsstand durch sozi- alpolitische Maßnahmen zur Risikoabsicherung der Bevölkerung oder aber durch Investitionen in Gesundheit und Bildung zur Humankapitalbildung und zum Abbau von Einkommensunterschieden beizutragen suchen (kritisch hierzu Jäger u.a. 2000). Die Vernachlässigung von Ländern des Südens in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ist insbesondere unverständlich, da eine beträcht- liche Anzahl von middle income countries über Wohlfahrtssysteme verfügen, die zwischen den beiden Weltkriegen bzw. kurz nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, d.h. zeitgleich bzw. in einigen Fällen sogar vor den USA und den europäischen Staaten. Dies gilt insbesondere für einige lateinamerika- nische Staaten (Brasilien, Chile, Uruguay, Kuba und Argentinien), in denen einzelne sozialpolitische Leistungen wie etwa die Gesundheitsvorsorge, Mutterschutz, Familienbeihilfen sowie Arbeitslosenversicherungen bereits in den 1920er Jahren eingeführt wurden. Die Sozialausgaben Argentiniens, Brasiliens, Chiles, Uruguays und Costa Ricas machen heute etwa 13,5 % bis 17 % des BIP bzw. 42-63 % der gesamten öffentlichen Ausgaben aus. In Uruguay liegen sie damit ungefähr auf dem Niveau Norwegens, in Costa Rica auf dem der Schweiz (Segura-Ubiergo 2007: 15).5 Der eurozentristische Bias führte nicht nur zu Forschungslücken hin- sichtlich der Analyse der Auswirkungen der verstärkten Integration von Ländern des Südens in die internationalen Waren- und Kapitalmärkte im Kontext der heutigen Globalisierungswelle, sondern auch bezüglich der Faktoren, die die Genese und Fortentwicklung unterschiedlicher Typen von Wohlfahrtsregimen in diesen Staaten bedingen. Während spätestens seit Esping-Andersens bahnbrechendem Werk zu den drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus differenziert über unterschiedliche Typen von Wohlfahrtsregimen in Industrieländern diskutiert wurde, ging man in der Esping-Andersen travels South ... 171 vergleichenden internationalen Ökonomie und der internationalen politischen Ökonomie lange Zeit davon aus, dass weniger entwickelte Länder einander mehr oder minder ähnelten, oder aber davon, dass sie von derartig großen sozio-ökonomischen Unterschieden geprägt seien, dass Vergleiche grund- sätzlich unmöglich seien. Modernisierungstheoretische bzw. postmoderne Ansätze in den Sozialwissenschaften argumentierten ähnlich undifferenziert (kritisch hierzu Gough & Wood 2006: 1697; Rudra 2007). Erst in jüngster Zeit gab es einige Versuche, Esping-Andersens Typologie auch für die Analyse unterschiedlicher Wohlfahrtsregime in den Ländern des Südens fruchtbar zu machen. Der Beitrag arbeitet zunächst kritisch den Stand der Wohlfahrtsregimefor- schung zu Ländern des Südens auf und weist insbesondere auf die Grenzen der Übertragbarkeit europäischer Modelle hin. Trotz aller Bemühungen, die vergleichende Wohlfahrtsregimeforschung zu dezentrieren, erschöpfen sich die Analysen im Allgemeinen in dem Versuch, Variationen zu Esping- Andersens drei Welten des „Wohlfahrtskapitalismus“ zu entwickeln. Zentrale Aspekte der politischen Reproduktion sozialer Ungleichheit sowie zugrunde liegende Macht- und Herrschaftsaspekte in postkolonialen Staaten blieben in diesem Kontext bisher weitgehend ausgeblendet. Mit Blick auf die zentralen Charakteristika exklusiver wie fragmentierter Wohlfahrtsregime in Latein- amerika wird abschließend argumentiert, dass eine Neu-Fokussierung der Forschungsagenda auf die zentrale Umverteilungsfrage dringend notwendig ist, sowie eine Intensivierung des Dialogs zwischen Wohlfahrtsregime- und Demokratisierungsforschung angeregt. Esping-Andersen travels South: Die Proliferation der Typologien Obwohl (wohlfahrts-)staatliche Entwicklungsprozesse in Ländern des Südens unter ganz anderen Rahmenbedingungen als in der OECD-Welt stattfi nden, orientierten sich erste Versuche, Wohlfahrtsregime außerhalb Europas und Nordamerikas differenziert zu beschreiben, vorrangig an Esping-Andersens Typologie sowie Unterscheidungskriterien (vgl. Tabelle 1), die es nun an postkoloniale Kontexte anzupassen galt. Hierzu bedurfte es nach Meinung zahlreicher Autoren insbesondere eines kritischen Umgangs mit dem zentralen Begriff der De-Kommodifi zierung. Die Beschäftigung mit Ländern des Südens ist somit ein sehr junger Forschungszweig. Zentral waren insbesondere die von Ian Gough und Geof Wood (2006, 2004) entwickelten Überlegungen zu den Grenzen der Übertragbarkeit westlicher Wohlfahrtsstaatsmodelle auf die Länder des 172 Ingrid Wehr Südens sowie deren alternative Typologisierung von Wohlfahrtsregimen in welfare state regimes, informal security und insecurity regimes. Wo staatliche Steuerungsfähigkeit praktisch nicht gegeben ist und Arbeitsmärkte nicht in der Lage sind, große Teile der potenziellen Arbeitskraft zu absorbieren, so Gough & Wood (2006, 2004), ist die Risikoabsicherung durch öffentliche Politik oder Märkte prekär. Familienbeziehungen und informellen Netz- werken kommt daher eine wesentlich höhere Bedeutung bei der sozialen Absicherung zu, als dies in der OECD-Welt der Fall ist. In den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas herrschen nach Auffassung der Autoren weitgehend informelle Wohlfahrtsregime vor, in denen die öffentliche Sozi- alpolitik nur eine untergeordnete Rolle spielt, während Familie und soziale Gemeinschaft grundlegende Schutzfunktionen übernehmen, die Märkte und Staat nur unzureichend wahrnehmen. Angesichts der vorherrschenden Informalität der Arbeitsmärkte und der damit einhergehenden Informalität sozialer Absicherung dürfe sich die vergleichende Forschung nicht alleine auf den Aspekt der De-Kommodifi zierung konzentrieren, sondern müsse stärker auch das Niveau der De-Klientelisierung in ihre Analysen einbe- ziehen. Anders als in den OECD-Staaten spielten zudem internationale Faktoren (Migration, die Abhängigkeit von remittances oder aber auch von Entwicklungshilfegeldern) eine zentrale Rolle. Nita Rudra (2007) kritisiert ihrerseits, Esping-Andersens Fokus auf die De-Kommodifi zierung der Erwerbstätigen verkenne, dass in zahlreichen Ländern des Südens eine Kommodifi zierung noch ausstehe, da aufgrund der hohen Informalität ein Großteil der potenziellen Arbeitskraft aus den formalen Arbeitsmärkten ausgeschlossen bleibe. Im Gegensatz zu den OECD-Ländern, die sich darauf konzentrieren können, die Folgen der Pro- letarisierung durch dekommodifi zierende Maßnahmen abzufedern, stünden zahlreiche Entwicklungsländer in der derzeitigen Globalisierungswelle vor der doppelten Aufgabe, die bereits in den formalen Arbeitsmarkt integrierten Arbeiter vor den negativen Auswirkungen der wachsenden Weltmarktin- tegration zu schützen und gleichzeitig für eine wachsende Expansion der formalen Arbeitsmärkte zu sorgen. Obwohl die Regierungen in den Ländern des Südens starkem Druck ausgesetzt seien, die Arbeitsmärkte auszudehnen, entschieden sich einige Länder dafür, dekommodifi zierenden Aufgaben größere Priorität einzuräumen als kommodifi zierenden. Wohlfahrtsregime in Entwicklungsländern lassen sich Rudra zufolge in productivist bzw. pro- tectionist regimes typologisieren, je nachdem, ob sie eher den Zugang zum Markt garantieren oder aber Schutz vor dem Markt gewährleisten. Jeremy Seekings (2008) entwickelte, ebenfalls in Anlehnung an Esping- Andersen, drei alternative Welten von Wohlfahrtsregimen im Süden, die er Esping-Andersen travels South ... 173 workerist, pauperist und agrarian nennt. Ausgehend von der Art der Begrün- dung sozialpolitischer Ansprüche (soziale Rechte versus Beschäftigungsver- hältnis) unterscheidet Seekings zwischen den beiden ersten Kategorien, die er wiederum von einem dritten Weg abgrenzt, der insbesondere in Afrika und Asien weite Verbreitung fi nde. Agrarische Wohlfahrtsregime versuchen nicht über die klassischen wohlfahrtsstaatlichen Instrumente bzw. Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt in die Einkommensstrukturen einzugreifen, sondern über Landreformen, die breiten Bevölkerungsgruppen Zugang zu Land ga- rantieren, sowie über staatliche Unterstützungsmaßnahmen für Kleinbauern. Tabelle 2: Typologie von Wohlfahrtsregimen des Südens nach Jeremy Seekings Agrarian Workerist Pauperist Fokus Bauern Arbeiter Arme Anreiz soziale Stabili- konfliktarme Arbeitsbezie- soziale Stabilität, tät hungen Wahlerfolge Ziel Entwicklung Abbau von Einkommensun- Armutsreduzierung gleichheit Rolle Familie zentral marginal marginal Beschäftigung marginal zentral marginal Staat variiert variiert zentral Wohlfahrtsstaat dominanter Modus der Verwandtschaft individuell oder korporatis- universal Solidarität tisch (über Beschäftigung) dominanter Bereich der Familie Markt oder Staat Staat Solidarität Grad der De- variiert minimal maximal Kommodifzierung Grad der De- niedrig variiert mittel bis hoch Familiarisierung Ausmaß der Einkom- variiert niedrig mittel bis hoch mensnivellierung Quelle: Seekings 2008: 27. Kritisch anzumerken ist, dass die einzelnen Typen analytisch nicht immer klar voneinander abgegrenzt sind und dass wirtschaftliche Entwicklungs- modelle zwar als wesentliche Einfl ussfaktoren auf die Entwicklung unter- 174 Ingrid Wehr schiedlicher Typen von Wohlfahrtsregimen in Ländern des Südens benannt, jedoch nicht systematisch in die Überlegungen einbezogen werden. Einige jüngere Arbeiten der vergleichenden Wohlfahrtsregimeforschung haben jedoch ganz explizit auf die zentrale Bedeutung wirtschaftlicher Entwick- lungsmodelle (timing und sequencing der Weltmarkteinbindung sowie Grad der Öffnung gegenüber den Waren- und Finanzmärkten) für die Ausgestal- tung sozialer Sicherungssysteme hingewiesen. Anders als in Europa, wo die verstärkte Weltmarktintegration mit staatlichen Kompensationsleistungen in Form von Sozialversicherungen einherging, korreliert die Ausbreitung von Sozialversicherungsnetzen in Ländern des Südens eher mit Strategien der Weltmarktabschottung. Einführung und Ausbau von Sozialversicherungen fand außerhalb der OECD-Welt zumeist im Kontext der importsubstituie- renden Industrialisierung statt, während Länder, die auf Weltmarktöffnung setzten – so etwa die ostasiatischen Staaten – eher minimale Sicherungsnetze ausbildeten, bzw. selektiv in (Aus-)Bildung investierten.6 Stephen Haggard und Robert Kaufman (2008) kommt das Verdienst zu, anhand eines systematischen, historischen sowie interregionalen Vergleichs (Ostasien, Osteuropa und Lateinamerika) von 20 middle income countries für den Untersuchungszeitraum zwischen 1945-2005 regionale Besonder- heiten in der Herausbildung und Transformation von Wohlfahrtsregimen aufzuzeigen. Zur Erklärung der Genese sowie Weiterentwicklung der un- terschiedlichen Wohlfahrtsregime in den drei Regionen ziehen die beiden Autoren sowohl ökonomische (Art und Weise der Weltmarktintegration; vorherrschendes Entwicklungsparadigma) als auch politischen Faktoren heran (Stärke von linken Parteien und Gewerkschaften, Verbindungen zwischen dem urbanen und ländlichen Bereich). Gleichzeitig weisen sie jedoch auch auf die herausragende Bedeutung des unterschiedlichen so- zialpolitischen Erbes hin, das die Handlungsmöglichkeiten der relevanten Akteure wesentlich mitbestimmt (Haggard & Kaufman 2008: 346). Sie kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass ökonomische Öffnung und verstärkte Weltmarkteinbindung nicht unbedingt negative Auswirkungen auf die Sozialausgaben in Ländern der Peripherie zeitigen. Sowohl in La- teinamerika wie auch in Osteuropa scheiterte der massive Abbau von Sozi- alleistungen am entschiedenen Widerstand der stakeholders (ebd.: Kap. 7 u. 8). In den ostasiatischen Fallbeispielen, die sich bis zu den 1980er Jahren durch eher minimalistische Wohlfahrtsregime auszeichneten, kam es in den letzten Jahrzehnten trotz relativ offener Ökonomien und relativ schwacher Linksparteien sowie Gewerkschaften zu einer massiven Ausdehnung von sozialen Ansprüchen und nennenswerten Investitionen vor allem im Bil- dungs- und Gesundheitsbereich (ebd.: Kap. 6). Angesichts der weitgehenden Esping-Andersen travels South ... 175 Abwesenheit von privilegierten Leistungsempfängern setzten die politischen Machthaber auf eine allmähliche Ausweitung sozialpolitischer Maßnahmen auf die breite Masse der Bevölkerung, teilweise auch, um den Forderungen nach einer raschen Demokratisierung entgegenzusteuern. Defi zite und blinde Flecken der vergleichenden Forschung zu Wohlfahrtsregimen in Ländern des Südens Der gegenwärtigen Forschung zu Wohlfahrtsstaaten in Ländern des Südens kommt zweifellos das Verdienst zu, mit dem liberalen Modernisierungs- mantra gebrochen (zusammenfassend Rudra 2007: 378-380) und zu einer differenzierteren Sichtweise auf die unterschiedlichen Typen von Wohl- fahrtsregimen außerhalb der OECD-Welt beigetragen zu haben. Die starke Ausrichtung der Forschung auf die Generierung neuer Typologien sowie die Fokussierung auf das Konzept der De-Kommodifi zierung verstellten jedoch den Blick auf einige grundlegende Probleme der Beschäftigung mit (wohlfahrts-)staatlichen Entwicklungen in postkolonialen Kontexten: 1) die mangelnde De-Zentrierung sowie theoretische Refl ektion über den Begriff der peripheren bzw. postkolonialen Staatlichkeit, der angesichts der zunehmenden Konzentration auf Wohlfahrtsregime in den Hintergrund rückte, 2) die besonderen Probleme, die sich aus der Einbettung von Vertei- lungskonfl ikten in wenig gefestigte politische Institutionen ergeben sowie 3) die grundlegende Frage der Umverteilung, die im Kontext der neoliberalen Strukturreformen weitgehend an Bedeutung verlor, da sich das Forschungs- interesse stärker auf Fragen der Armutsbekämpfung konzentrierte. Zum Begriff peripherer bzw. postkolonialer Staatlichkeit Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Haggard & Kaufman 2008) krankt die vergleichende Wohlfahrtsregime-Forschung nach wie vor an der mangeln- den „De-Zentrierung“ der Forschungsagenda. So weisen Gough & Wood (2006) zwar darauf hin, dass die vergleichende Analyse von Wohlfahrtsre- gimen sensibel mit der unterschiedlichen Geschichte von Ländergruppen umgehen müsse: „Jegliche vergleichende Analyse muss sensibel mit den geschichtlichen Unter- schieden zwischen den verschiedenen Staatsgruppen, die von der Kolonialzeit geprägt wurden, sowie mit den hieraus resultierenden Differenzen bezüglich der Herausbildung und der Funktionen öffentlicher Institutionen umgehen“ (Gough & Wood 2006: 1697). 176 Ingrid Wehr Die selbst gesteckten Vorgaben können sie dann aber nicht wirklich um- setzen (kritisch hierzu Martínez 2008). Haggard & Kaufmann (2008) nehmen historische Erfahrungen ernst, konzentrieren sich aber weniger auf die langfristigen Legate7 denn auf mittelfristige Prozesse des institu- tion building im Kontext ökonomischer Umbruchsituationen. Die meisten Studien zu Wohlfahrtsregimen in der Peripherie betonen zwar regelmäßig historische Unterschiede, refl ektieren jedoch kaum systematisch darüber, welche Konsequenzen sich aus der kolonialen Erfahrung, der Art und dem timing der Weltmarktintegration eigentlich ergeben. Die Bedeutung von path dependency wird zwar regelmäßig herausgestellt, die Legate koloni- aler Herrschaft für die postkoloniale Staatsbildung, welche die Chancen und Hindernisse wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung wesentlich mitprägen, werden jedoch selten ernsthaft in die Überlegungen einbezogen. Lässt sich die Durchsetzung des europäischen demokratischen Wohlfahrtsstaates als ein ebenso gewalttätiger wie erfolgreicher Appropriations- und Expropri- ationsprozess mit anschließender Vergesellschaftung der so entstandenen Gewalt- und Extraktionsmonopole interpretieren, ging der Staatsbildungs- prozess in postkolonialen Kontexten ganz andere Wege.8 Das wechselseitige Hochschaukeln von Ressourcenextraktion und Erzwingungsapparat – von Samuel Finer (1997) als coercion-extraction-cycle auf den Punkt gebracht – fand in dieser Form in anderen Teilen der Welt nicht statt. Wie Polanyi (1944) und Rosanvallon (2004) herausarbeiteten, lässt sich der moderne europäische Wohlfahrtsstaat nicht ohne die Turbulenzen der Globalisie- rungswelle des 19. Jahrhunderts und die traumatischen Erfahrungen zweier Weltkriege erklären. In den Ländern des Südens wurde die Appropriation von Gewalt- und Steuermonopol zumeist ebenso wenig vollständig durchgeführt wie die anschließende „Expropriation des Expropiateurs der politischen Mittel“ (Weber [1919]/2005: 166). Dies sollte jedoch nicht zu der Annahme verleiten, Staatlichkeit in den Ländern des Südens pauschal als defi zitär zu bezeichnen, ohne genau zu spezifi zieren, ob sich diese angeblichen Defi zite nun auf die geringe Autonomie gegenüber einfl ussreichen Interessengrup- pen oder aber auf die mangelnde Zentralisierung, d.h. die unzulängliche Durchsetzung des Gewalt- und des Extraktionsmonopols bezieht. Wenig Beachtung fi ndet auch die Art der Einbettung (embeddedness) des Staates (Evans 1995) in ein konkretes Set von gesellschaftlichen Beziehungen bzw. die Frage, welche institutionalisierten Kanäle für kontinuierliche Verhand- lungen zwischen Staat und (Zivil-)Gesellschaft bestehen. Ein wesentliches Desiderat der vergleichenden Forschung zu Wohlfahrtsregimen besteht also in der eingehenderen und kritischen Auseinandersetzung mit Konzepten „peripherer“ oder „semi-peripherer“ Staatlichkeit (Wallerstein 1979), wobei Esping-Andersen travels South ... 177 insbesondere dem Steuerstaat sowie der historischen Entwicklung von fi scal contracts größere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte (Bräutigam u.a. 2008; Lieberman 2003). Verteilungskonfl ikte im Kontext nicht konsolidierter politischer Institutionen Auch wird die Tatsache übersehen, dass wohlfahrtsstaatliche Entwicklungs- und Reformprozesse nicht grundsätzlich im Rahmen etablierter politischer Institutionen mit relativ stabilen Spielregeln stattfi nden. In jungen, noch nicht konsolidierten Demokratien bzw. im Kontext von Demokratisierungs- prozessen gestalten sich Verteilungskonfl ikte wesentlich komplizierter als in etablierten Demokratien, da sie sich angesichts ungefestigter politischer Institutionen mit Koordinationsproblemen überlagern und wechselseitig verstärken können (Faust 2006; Muno 2005). Von wenigen Ausnahmen abgesehen9 wurden Verteilungskonfl ikte, die sich aus wohlfahrtsstaatlichen Reformen im Zuge von Demokratisierungsprozessen ergeben, bisher nicht umfassend erforscht. Zur Umverteilungsproblematik Ein weiterer blinder Fleck ergibt sich aus der Vernachlässigung der Um- verteilungsfunktion von Wohlfahrtsregimen. Angesichts der verheerenden Auswirkungen wachsender ökonomischer Volatilität auf einen Großteil der Bevölkerung in den Ländern des Südens konzentrierte sich die vergleichende Forschung zu Wohlfahrtsregimen in den letzten Jahren insbesondere auf den Versicherungsaspekt. Im Zentrum der Untersuchungen standen insbe- sondere Strategien der Absicherung gegen Armutsrisiken, in denen häufi g nicht-staatlichen Akteuren eine ebenso zentrale Rolle wie staatlichen In- stitutionen zukommt (Gough & Wood 2004, 2006; Marcel & Rivera 2008: 168). Zunächst als Abfederung gegen die „Kollateralschäden“ neoliberaler Reformpakete gedacht, haben sich zielgerichtete Programme der Armuts- bekämpfung (Conditional Cash Transfer Programs, CCTs) inzwischen zu einem wesentlichen Bestandteil der sozialpolitischen Agenda in Ländern des Südens entwickelt. Auch wenn CCTs sicherlich den Vorteil bieten, dass sie relativ kostengünstig und treffsicher zur Aufstockung des Einkommens der unteren Einkommensschichten beitragen10, so verstellt die einseitige Kon- zentration auf Strategien der Armutsbekämpfung in Politik wie Forschung den Blick auf die zentrale Bedeutung der Umverteilungsfrage.

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heiten in der Herausbildung und Transformation von Wohlfahrtsregimen aufzuzeigen. Wie Polanyi. (1944) und Washington D.C., S. 155-188. Huber, Evelyne . Polanyi, Karl (1944): The Great Transformation. New York u.a..
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