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Erwachende Wissenschaft. Ägyptische, babylonische und griechische Mathematik PDF

244 Pages·1956·13.523 MB·German
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B. L. VAN DER WAERDEN ERWACHENDE WISSENSCHAFT ÄGYPTISCHE, BABYLONISCHE UND GRIECHISCHE MATHEMATIK AUS DEM HOLLÄNDISCHEN ÜBERSETZT VON HELGA HABICHT MIT ZUSÄTZEN VOM VERFASSER BIRKHAUSER VERLAG BASEL UND STUTTGART 1956 V VORWORT Nachdruck verboten. Alle Rechte Vorbehalten, Mehrere wohlwollende Rczcnsoren meines 1950 zuerst holländisch er­ insbesondere das der Übersetzung in irenide Sprachen und schienenen Buches «Ontwakende Wetenschap» haben den Wunsch der Reproduktion auf photostatischein Wege oder durch Mikrofilm geäussert, das Buch sollte auch ins Deutsche übersetzt werden. Helga Copyright Püjb by Birkhäuser Verlag, Hasel © Habicht-van der W aerdex hat eine getreue und angenehm lesbare Übersetzung hergestellt. Der wohlwollenden Kritik von O. B ecker, 0. Neugebauer und anderer aufmerksamer Leser verdanke ich eine Reihe von Verbesse­ rungen des Textes. Abschnitte über die Archimedische Konstruktion des regulären Siebenecks, über das Astrolab und die stereographische Projektion wurden hinzugefügt. Die Abschnitte über Perspektive und über die Anaphorai des Hypsikles wurden erweitert, die Literatur­ hinweise vervollständigt. Der Verlag P. Noordhoff in Groningen hat in dankenswert gross­ zügiger Weise das stark erweiterte Bildermaterial der englischen Aus­ gabe mit den sehr instruktiven Unterschriften des Groninger Archäo­ logen H. G. B eyen auch für die deutsche Ausgabe zur Verfügung gestellt. Der Birkhäuser \ erlag in Basel ist meinen Wünschen bezüg­ lich Druck und Ausstattung bereitwilligst entgegengekommen. Den beiden Verlegern, die durch ihre Zusammenarbeit das Zustandekom­ men dieser Ausgabe ermöglicht haben, gilt mein wohlgemeinter Dank. B. L. vax der W aekden Druck von Dirkhäuser AG., Basel Printed in Switzerland INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Zur Einführung...................................................................................................... 13 Wozu Geschichte der Mathematik?............................................................ 13 Die Geschichte der griechischen Mathematik....................................... 15 Der Plan dieses Buches................................................................................... 17 Was ist neu in diesem Buch ? .................................................................... 19 ÄGYPTISCHE UND BABYLONISCHE MATHEMATIK I. Die Ägypter................................................................................................................ 23 Zeittafel.......................................................................................................................... 23 Die Ägypter als «Erfinder der Geometrie)»................................................. 23 Der Papyrus Rhind................................................................................................. 25 Für wen war der Papyrus Rhind geschrieben ? .................................. 26 Der Stand der königlichen Schreiber...................................................... 26 Die Rechentechnik.................................................................................................. 29 Die Multiplikation............................................................................................. 29 Die Division........................................................................................................... 31 Natürliche Brüche und Stammbrüche..................................................... 32 Das Rechnen mit natürlichen Brüchen................................................. 33 Weitere Bruchrelationen.............................................................................. 36 Verdoppelung von Stammbrüchen........................................................... 37 Noch einmal die Division.............................................................................. 38 Die (2 : w)-Tabelle...................................................................................................... 39 Die roten Hilfszahlen............................................................................................. 42 Die Ergänzung einer Bruchsumme auf 1................................................. 43 Hau-Rechnungen...................................................................................................... 45 Angewandte Rechnungen................................................................................... 47 Die Entwicklung der Rechentechnik........................................................... 47 Hypothese einer höheren Wissenschaft...................................................... 49 Die Geometrie der Ägypter.............................................................................. 50 Neigung schiefer Ebenen.............................................................................. 50 Flächeninhalte....................................................................................................... 51 Oberfläche einer Halbkugel......................................................................... 52 Rauminhalte........................................................................................................... 54 Was konnten die Griechen von den Ägyptern lernen ? ........................ 57 INHALTSVERZEICHNIS INHALTS V E R ZKICHNIS 9 II. Zahlensysteme, Ziffern und Rechenkunst....................................................... 59 DIE .MATHEMATIK DER GRIECHEN Das Sexagcsimalsystem............................................................................................ 59 Wie ist das Sexagesimalsystem entstanden ? ................................................ 53 IV. Das Jahrhundert von Thaies und Pythagoras................................................132 Sumerische Rechentechnik.................................................................................. 57 Chronologische Übersicht.........................................................................................133 Normale Rcziprokcntafel.................................................................................. 6g Hellas und der Osten...................................................................................................133 Quadrate, Quadratwurzeln und Kubikwurzeln...................................... 70 4'halcs von Milet............................................................................................................140 Die griechische Zahlenschrift.................................................................................. 75 Voraussage einer Sonnenfinsternis.................................................................142 Rechenbrett und Rechenstoinchen........................................................... 77 Thaies als Geometer........................................................................................ 143 Das Rechnen mit Brüchen.............................................................................. gg Von Thaies zu Eukleides.........................................................................................148 Scxagesimalbrüche................................................................................................. g2 Pythagoras von Sam os..............................................................................................151 Die indischen Ziffern................................................................................................. g4 Die Reisen des Pvthagoras...............................................................................155 Zahlzeichen: Kharosti und Brahmi............................................................... g6 Pythagoras und die Harmonielehre.................................................................156 Die Erfindung des Positionssystemes.......................................................... g7 Pythagoras und die Lehre von den Zahlen..................................................158 Die Zeit der Erfindung................................................................................... gg Vollkommene Zahlen...................................................................................! 160 Dichterische Zahlen............................................................................................. gg Befreundete Zahlen...................................................................................................161 Aryabhata und seine Silbenzahlen............................................................... 90 Pythagoras und die Geometrie...........................................................................164 Wo stammt die Null her ? .................................................................................. 91 Astronomie des Pythagoi'as...............................................................................167 Der Siegeszug der indischen Ziffern................................................................... 93 Zusammenfassung...................................................................................................168 Das Rechenbrett von Gerbert............................................................................. 95 Tunnel auf Sam os........................................................................................................168 Antike Messinstrumente..............................................................................................172 III.' Babylonische Mathematik...................................................................................100 Chronologische Übersicht...................................................................................100 V. Pas goldene Zeitalter................................................................................................176 Babylonische Algebra..................................................................................................101 Hippasos...........................................................................................................................177 Erstes Beispiel (AO 8862).............................................................................. 102 Die Mathernata der Pythagoreer...........................................................................180 Erläuterung.................................................................................................................102 Zahlentheorie.............................................................................................................180 Zweites Beispiel (VAT 6598) 105 Die Lehre von Gerade und Ungerade............................................................180 Drittes Beispiel (MKT I, S. 238)......................................................................106 Zahlenverhältnisse und Teilbarkeit von ganzen Zahlen . . . . 182 Viertes Beispiel (MKT I, S. 154).....................................................................108 Die Auflösung von Gleichungssystemcn ersten Grades.........................190 Fünftes Beispiel (MKT ITT, S. 8, Nr. 14).......................................................110 Geometrie......................................................................................................................190 Quadratische Gleichungen (MKT III, S. 6) .............................................m Die geometrische Algebra....................................................................................193 Sechstes Beispiel (MKT III, S. 9, Nr. 1 8 )..................................................\\2 Wozu die geometrische Einkleidung ? ............................................................204 Siebentes Beispiel (MKT I, S. 485).............................................................. 114 Seiten- und Diagonalzahlen...............................................................................206 Achtes Beispiel (MKT I, S. 204).................................................................. 114 Anaxagoras von Klazomenai....................................................................................209 Geometrische Beweise algebraischer Formeln?........................................115 Oinopides von Chios...................................................................................................213 Neuntes Beispiel (MKT I, S. 342).................................................................. 116 Die Quadratur des K reises...............................................................................214 Ein Echrtext (MKT II, S. 3 9 )..........................................................................118 Antiphon...........................................................................................................................215 Babylonische Geometrie.............................................................................................120 Hippokrates von Chios..............................................................................................216 Flächeninhalte und Rauminhalte......................................................................120 Die Stereometrie des 5. jahrhunderts und die Perspektive . . . . 224 Kegel-und Pyramidenstumpfe (MK4' I, S. 1 76 und 187). . . . 120 Demokritos von Abdera..............................................................................................226 Der pythagoreische Eehrsatz (MKT 1I, S. 5 3 )........................................122 Kegel und Pyramide..............................................................................................227 Babylonische Arithmetik.........................................................................................124 Platon über die Stereometrie....................................................................................228 Reihen (MKT I, S. 9 9 ).........................................................................................124 Die Verdoppelung des Würfels...............................................................................230 «Plimpton 322»: Rechtwinklige Dreiecke mit rationalen Seiten . 125 Thcodoros von Kyrene..............................................................................................233 Angewandte Mathematik.........................................................................................128 Theodoros und Theaitetos....................................................................................233 Zusammenfassung.......................................................................................................12g Theodoros über höhere Kurven und Mischung........................................240 I.Algebra und Arithmetik...............................................................................128 Hippias und seine Quadratrix...............................................................................240 II. Geometrie.............................................................................................................130 Die grossen Linien der Entwicklung................................................................241 10 INHALTSVERZEICHNIS INHALTSVERZEICHNIS 11 VI. Die Zeit Platons.............................................................................................................243 Die übrigen Werke von Archimedes................................................................377 Archytas von Taras.......................................................................................................247 Die Konstruktion des regulären Siebenecks.............................................378 Die Verdoppelung des Würfels..........................................................................249 Kratosthencs von Kyrene.........................................................................................381 Der Stil des Archvtas..............................................................................................252 Lebenslauf.................................................................................................................381 Das achte Buch der Elemente..........................................................................253 Chronographie und Gradmessung......................................................................383 Die Mathemata in der Epinomis.....................................................................256 Die Verdoppelung des Würfels..........................................................................384 Die Verdoppelung des Würfels...............................................................................262 Zahlentheorie............................................................................................................385 Nach Menaichmos...................................................................................................266 Medietäten.................................................................................................................385 Andere Lösung.............................................................................................................267 Nikomedes......................................................................................................................390 Theaitetos...........................................................................................................................271 Die Dreiteilung des Winkels...............................................................................392 Analyse des Buches X der Elemente............................................................275 Die Verdoppelung des Würfels nach Nikomedes...................................393 Die Theorie der regulären Polyeder.................................................................282 Apollonios von Perga...................................................................................................395 Die Proportioncnlehre bei Theaitetos............................................................286 Die Theorie der Epizvkel und Exzenter............................................(• 395 Eudoxos von Knidos...................................................................................................292 Konika...........................................................................................................................401 Eudoxos als Astronom.........................................................................................293 Die Kegelschnitte vor Apollonios.....................................................................401 Die mathematischen Leistungen des Eudoxos........................................302 Die Ellipse als Schnitt eines Kegels nach Archimedes.........................404 'Die Exhaustionsmethode....................................................................................304 Wie wurden die Symptome ursprünglich hergeleitet ? .........................406 Die Proportionenlehre..............................................................................................309 Eine Frage und eine Antwort..........................................................................407 Theaitetos und Eudoxos.........................................................................................312 Die Ableitung der Symptome nach Apollonios........................................408 . Menaichmos......................................................................................................................313 Konjugierte Durchmesser und konjugierte Hyperbeln.........................412 Deinostratos......................................................................................................................314 Tangenten......................................................................................................................414 Autolykos von Pitane...................................................................................................317 Die Mittelpunktsgleichung....................................................................................416 (Iber die sich drehende Sphäre...........................................................................320 Der Zweitangentensatz und die Transformation auf neue Achsen 418 Eber den Aufgang und Untergang der Sterne........................................321 Rotationskegel durch einen gegebenen Kegelschnitt..............................426 Eukleides...........................................................................................................................321 Das zweite Buch.......................................................................................................428 Die Elemente.............................................................................................................323 Das dritte Buch.......................................................................................................428 Die D ata......................................................................................................................325 Geometrische Örter zu drei oder vier Geraden........................................430 Über Zerlegung von Figuren...............................................................................327 Das fünfte Buch.......................................................................................................432 Verlorene geometrische Schriften......................................................................328 Das sechste, siebente und achte Buch...........................................................433 Angewandte Mathematik....................................................................................330 Weitere Werke von Apollonios..........................................................................434 VII. Die Alexandvinischc Zeit (330-200 v.Chv.).......................................................331 VIII. Niedergang dev griechischen Mathematik............................................................437 Aristarchos von Sam os..............................................................................................336 Die äusseren Ursachen des Niederganges.......................................................437 Kreismessung des Archimedes...............................................................................340 Die inneren Ursachen des Niederganges............................................................439 Sehnentafeln......................................................................................................................342 1. Die Schwierigkeit der geometrischen Algebra...................................439 Archimedes......................................................................................................................344 2. Die Schwierigkeit der schriftlichen Überlieferung..............................440 Geschichten über Archimedes...........................................................................345 Kommentare des Pappos von Alexandrien..................................................441 Archimedes als Astronom....................................................................................352 Die Epigonen der grossen Mathemau ''er...........................................................442 Die Werke des Archimedes...............................................................................353 1. Diokles......................................................................................................................442 Die «Methode».............................................................................................................354 2. Zenodoros............................................................................................................444 Die Quadratur der Parabel...............................................................................361 3. Hypsikles.................................................................................................................445 Über Kugel und Zylinder, I ...............................................................................367 Geschichte der Trigonometrie...............................................................................448 Über Kugel und Zylinder, H................................................................................370 Ebene Trigonometrie..............................................................................................449 Über Spiralen.............................................................................................................371 Sphärische Trigonometrie....................................................................................452 Über Konoide und Sphäroide...........................................................................372 Menelaos...........................................................................................................................452 Der Integralbegriff bei Archimedes.................................................................374 Transversalcnsatz...................................................................................................452 Das Buch der Lemmata (Liber Assumptorum)........................................375 Heron von Alexandrien.............................................................................................455 12 INHALTSVERZEICHNIS Geometrika.................................................................................................................456 ZUR EINFÜHRUNG Diophantos von Alexandrien....................................................................................457 Arithmetik».................................................................................................................458 Diophantischc Gleichungen...............................................................................459 Die Vorgänger des Diophantos..........................................................................460 Zusammenhang mit der babylonischen und arabischen Algebra . 461 Die algebraische Zeichenschrift..........................................................................462 Pappos von Alexandrien.........................................................................................470 Ein Porisma des Euklcides...............................................................................472 Satz von Desargues..................................................................................................473 WOZU GESCHICHTE DER MATHEMATIK? Der Satz vom vollständigen Viereck.............................................................474 Thcorcma von Pappos.........................................................................................477 Theon von Alexandrien (380 n.Clu\)...................................... 477 Jeder weiss, dass wir im Zeitalter der Technik leben. Aber man ver­ Hypatia................................................................................................................................478 gegenwärtigt sich nur selten, dass die moderne Technik nur auf der Die Schule von Athen. Proklos Diadochos.......................................................479 Grundlage der Mathematik und Physik existieren kann. Wenn wir Isidoros von Milet und Anthemios von Pralles.............................................479 abends mit der Elektrischen nach Hause fahren, das Licht anknipsen und das Radio einschalten, so verdanken wir alle diese Möglichkeiten der Physik, deren Basis wiederum die Mathematik ist. Noch mehr: sogar unser tägliches Brot haben wir zu einem guten Teil der Physik zu verdanken. Denn ohne Kunstdünger würde der Ertrag der Land­ wirtschaft nur einen Bruchteil des heutigen Ertrages ausmachen; den Kunstdünger aber hat die Chemie erfunden, und sie fusst wiederum, historisch und sachlich, auf der Physik. Auch Furchtbares hat die Technik, dieser Zauberlehrling der Wis­ senschaft, hervorgebracht. Die vernichtenden Waffen, mit denen die heutige Menschheit ihre eigenen Kulturwerte zertrümmert, wären ohne Mathematik und Physik niemals erfunden worden. Aber auch im rein geistigen Gebiet übt die exakte Wissenschaft eine gewaltige Wirkung aus. Um nur eines herauszugreifen: Der Zerfall des religiösen Lebens, den wir allenthalben beobachten können, hängt höchstwahrscheinlich mit dem Triumph der Technik und mit der heute notwendigen exakt-wissenschaftlichen Bildung der Jugend zusammen. Wissenschaftliche Denkweise und Autoritätsglaube sind nun einmal Gegensätze, die sich nicht immer zu einer harmonischen Synthese bringen lassen. Einzelnen tief religiösen Naturforschern freilich, wie Kepler, mag eine solche Synthese gelingen. Wenn demnach unsere abendländische Kultur, im Guten wie im Bösen, von den exakten Wissenschaften her ihr eigenes Gepräge er- 14 ZUR EINFÜHRUNG ZUR EINFÜHRUNG 15 halten hat, so ist die Frage: Wie sind diese Wissenschaften entstan­ mit den Schwerpunktsbestimmungen des Archimedes und mit seiner den ? eine der aktuellsten und wichtigstenFragen der Kulturgeschichte. Herleitung des Hebelgesetzes und des Auftriebgesetzes für schwim­ Man wird zugeben, dass die meisten Geschichtswerke diese Frage mende Körper an. Kurz, alle Entwicklungslinien, die sich hei Newton entweder gar nicht oder höchst unbefriedigend beantworten. In wel­ vereinigen — die der Mathematik, der Mechanik und der Astronomie -, chem Handbuch der griechischen Kulturgeschichte findet man etwa fangen in Griechenland an. über Thf.aitetos und Eudoxos mehr als höchstens eine ganz kurze Notiz ? Und doch gehören diese zwei Freunde Platons zu den grössten Mathematikern aller Zeiten. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, wer ist sich bewusst, dass Newton, historisch gesehen, der wichtigste DIE: GESCHICHTE Mann des 17. Jahrhunderts ist ? DER GRIECHISCHE X MATHEMATIK Jeder Physiker wird anerkennen, dass die Mechanik Newtons die Basis der heutigen Physik ist. Jeder Astronom weiss, dass die moderne vonTHALES bis Apollonius umfasst vier Jahrhunderte, von 600 bis Astronomie mit Kepler und Newton anfängt. Und jeder Mathemati­ 200 v. Chr. Die ersten drei davon lagen bis vor kurzem noch im Halb­ ker weiss, dass die Analysis, der grösste und für die Physik wichtigste Teil dunkel, weil wir nur zwei Originaltexte aus dieser Zeit besitzen: ein der modernen Mathematik, auf der Differential- und Integralrechnung Hippokrates-Fragment über die Quadratur gewisser Möndchen und von Newton beruht. Newtons Lebenswerk ist also die Grundlage des ein Archytas-Fragment über die Würfelverdoppelung. Dazu kommen weitaus grössten Teiles der modernen Naturwissenschaften. noch einige kürzere Fragmente und verstreute Notizen bei Platon, Es war Newton, der die fundamentalen Bewegungsgesetze entdeckte, Aristoteles, Pappos, Proklos und Eutokios sowie eine Reihe ein­ welchen sowohl die irdischen als auch die Himmelskörper unter­ ander widersprechender Pythagoras-Legenden. In älteren Werken, wie worfen sind. Er brachte das Werk der Erneuerung der antiken Astro­ Cantors Geschichte der Mathematik, findet man daher über diese Zeit nomie, das Kopernikus und Kepler angefangen hatten, zu einem fast nur Vermutungen über Sachen, von denen wir im Grunde nichts heute noch gültigen Abschluss. Er fand eine allgemeine Methode zur wissen, wie zum Beispiel die Herkunft des «Satzes von Pythagoras». Lösung sämtlicher Differentiations- und Integrationsaufgaben, wäh­ In der letzten Zeit hingegen ist mehr Licht in das Dunkel gedrun­ rend Archimedes, das grösste Genie der Antike, es nur zu speziellen gen. Erstens kennen wir durch die unermüdliche Arbeit Otto Neu­ Methoden für einzelne Fälle gebracht hatte. gebauers und seiner Mitarbeiter jetzt die mathematischen Keilschrift­ Man kann die Leistung Newtons nicht richtig einschätzen und ver­ texte, die auf den pythagoreischen Lehrsatz und vor allem auf die stehen, ohne die antike Wissenschaft heranzuziehen. Newton schuf älteste Geschichte der Rechenkunst und Algebra ein ganz neues Licht nicht aus dem Nichts. Ohne das umfassende Werk des Ptolemaios, geworfen haben. Auf den Spuren Zeuthens gelang es Neugebauer, das die antike Astronomie vollendete, wäre Keplers Astronomia Nova die verborgene algebraische Komponente der griechischen Mathematik und damit auch Newtons Mechanik undenkbar. Ohne die «Kegel­ aufzudecken und den Zusammenhang mit der babylonischen Algebra schnitte» des Apollonius, die Newton durch und durch kannte, wäre nachzuweisen. Die Geschichte der Algebra fängt jetzt nicht mehr mit seine Herleitung des Gravitationsgesetzes unmöglich gewesen. Auch Diophantos an, sondern zwei Jahrtausende früher, in Mesopotamien. seine Integralrechnung ist nur zu verstehen, wenn man sie als Fort­ Dasselbe gilt für die Arithmetik. Neugebauer ahnte es schon 1937: führung der Flächen- und Rauminhaltsbestimmungen desARCHiMEDES «Was in der griechischen Überlieferung pythagoreisch genannt wird, betrachtet. Die Geschichte der Mechanik als exakte Wissenschaft hebt könnte man wahrscheinlich besser babylonisch nennen.» Ein 1943 16 ZUR EIN F Ü H R U N G ZUR EINFÜHRUNG 17 gefundener Kcilschrifttext über «pythagoreische Dreiecke» hat seine wie Theaitetos und Eudoxos sie auf jene Stufe von Vollkommenheit, Vermutung glänzend bestätigt. Schönheit uni Exaktheit hoben, die wir in den Elementen des Eukleides Ein anderer neuer Impuls ging von der philosophisch orientierten bewundern. Philologie aus. Stenzel und Toeplitz gründeten mit Neugebauer Wir werden weiterhin sehen, wie die mathematische Beweisführung 1927 die Zeitschrift « Quellen und Studien zur Geschichte der Mathe­ der Dialektik Platons und der aristotelischen Logik zum Vorbild matik, Astronomie und Physik». IhrZieJ war, durch Analyse der Grund­ wurde. begriffe der griechischen Mathematik die Philosophie Platons besser zu verstehen und umgekehrt durch gründlicheres Studium der Werke Man darf die Geschichte der Mathematik nicht von der allgemeinen Platons mehr über die griechische Mathematik zu erfahren. Mit die­ Kulturgeschichte trennen. Die Mathematik ist ein Bestandteil des gei­ ser Methode haben Becker, Reidemeister und andere höchst wich­ stigen Lebens, der auf das engste verknüpft ist, nicht nur mit Astro­ tige Ergebnisse erzielt. Schon vorher hatte Eva Sachs den ausgezeich­ nomie und Mechanik, sondern auch mit Architektur und Technik, mit neten Mathematiker Theaitetos der Vergessenheit entrissen. Philosophie und sogar mit Religion (Pythagoras!). Eine sehr fruchtbare Methode war auch die Zergliederung der Ele­ Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind für die Ent­ mente des Eukleides. Es stellt sich heraus, dass dieses Werk, das wicklung und den Charakter der Wissenschaft von hervorragender Be­ ungefähr 300 v.Chr. verfasst wurde, grösstenteils aus einzelnen mathe­ deutung. Das wird in Kapitel VII beim Vergleich der alexandrinischen matischen Fragmenten von sehr verschiedenem Wert und Alter zu­ Mathematik mit der der klassischen Zeit klar hervortreten und noch sammengetragen ist. Durch Lostrennen dieser Bestandteile und Ein­ deutlicher in Kapitel VIII bei der Auseinandersetzung der Gründe des setzen in die für sie historisch-mathematisch richtige Umgebung ist es Niederganges der griechischen Mathematik. gelungen, ein um vieles deutlicheres Bild der griechischen Mathematik von 500 bis 300 zu erhalten. All das wurde noch nie in Buchform zusammengefasst. Es gibt wohl DER PLAN DIESES BUCHES ein ausgezeichnetes Buch über Vor griechische Mathematik von O. Neu­ gebauer, und cs gibt auch vortreffliche Werke über Eukleides, Arist- Dieses Buch soll einerseits wissenschaftlich exakt, andererseits aber archos, Archimedes und Apollonius. Bei diesen Autoren können auch leicht fasslich sein. Leicht fasslich soll heissen, dass jeder, der an wir uns also auf das Interessanteste und Wichtigste beschränken: Wir einer Mittelschule Mathematik gelernt hat und sich für Geschichte der werden versuchen, aus ihren Werken hie und da einige Rosinen auszu­ Mathematik interessiert, es verstehen kann. Wissenschaftlich exakt in lesen und sic den Lesern so schmackhaft wie möglich vorzusetzen. dem Sinne, dass es auf eigenen Quellenstudien beruht und dass für Aber der Hauptzweck dieses Buches ist, möglichst klar auseinander­ jede Behauptung Argumente angeführt werden, so dass der Leser dann zusetzen : den Wert dieser Argumente selbst beurteilen kann. Der arglose Leser meint vielleicht, das sei selbstverständlich. Aber wie Thaies und, Pythagoras zwar von der babylonischen Mathematik wie oft wurde gegen diese Regel verstossen! Wie viele Behauptungen ausgingen, aber ihr ein ganz neues, echt griechisches Gepräge gaben, in Büchern über Geschichte der Mathematik wurden kritiklos und ohne wie die Mathematik, sowohl in der Schule der Pylhagoreer als auch Quellenstudium aus anderen Büchern abgeschrieben! Wie viele Mär­ anderweitig, immer mehr entwickelt 'wurde und immer höheren Forde­ chen sind doch im Umlauf, die als «allgemein bekannte Wahrheiten» rungen der Logik gerecht -wurde, gelten! Um ein Beispiel anzuführen: In fast allen diesen Büchern fin- van der Waerden 18 ZUR EINFÜHRUNG ZUR EINFÜHRUNG 19 det man die Mitteilung, dass die Ägypter das rechtwinklige Dreieck Ich habe versucht, die grossen Mathematiker als lebende Menschen mit den Seiten 3, 4 und 5 kannten und zur Konstruktion eines rechten in ihre Umgebung hineinzustellen und auch den Eindruck, den sie bei Winkels benutzten. Was ist diese Mitteilung wert? Nichts! Auf was ihren Zeitgenossen hervorriefen, zu schildern. Mangels Quellen gelang beruht sie ? Auf zwei Tatsachen und einer Schlussfolgerung Cantors. das nicht immer, aber markante Persönlichkeiten, wie Pythagoras, Die Tatsachen sind: Bei der Grundsteinlegung ägyptischer Tempel Archytas, Theaitetos und Archimedes, treten sehr deutlich ans brauchte man «Seilspanner», und die Basiswinkel von Tempeln und Licht. Auch von dem Charakter eines Thales, Eunoxos oder Era- Pyramiden sind meistens sehr genau rechtwinklig. Cantor schloss nun tosthenes können wir uns eine recht gute Vorstellung machen. Von daraus: die Seilspanner müssen die rechten Winkel konstruiert haben, den ägyptischen und babylonischen Mathematikern hingegen kennen und ich (Cantor) kann mir keine andere Art vorstcllen, durch das wir nicht einmal die Namen. Spannen von Seilen einen rechten Winkel zu konstruieren als so, dass man aus drei Seilen mit den Längen 3, 4 und 5 ein Dreieck bildet1. Also müssen die Ägypter dieses Dreieck gekannt haben. Ist das nicht unglaublich ? Nicht dass Cantor diese Vermutung ein­ mal aufgestellt hat, sondern dass sie durch fortgesetztes Abschreiben WAS IST NEU IN DIESEM BUCH? zu einer allgemein anerkannten «Tatsache» werden konnte! Aber es hat sich wirklich so zugetragen. In Kapitel II: Um solche Fehler zu vermeiden, habe ich alle Ansichten, die ich bei modernen Autoren fand, immer nachgeprüft. Das ist nicht so schwer, Eine Hypothese von Ereudexthal über die indischen Zahlen. wie es scheint, auch wenn man (wie ich) keine ägyptische Schrift und keine Keilschrift lesen kann und kein klassischer Philologe ist. Tis In Kapitel III: gibt nämlich von fast allen Texten zuverlässige Übersetzungen. Alle mathematischen Keilschrifttexte zum Beispiel hat Neugebauer Interpretation eines babylonischen Lehrtextes nach Ereudi-nthal. übersetzt und publiziert. Die ägyptischen mathematischen Texte sind alle ins Englische oder Deutsche übersetzt. Platon, Euklfudhs, Archimedes und alle die anderen Klassiker der Mathematik sind gut In Kapitel IV: ins Englische, Deutsche oder Französische übersetzt. Nur in einigen Eine neue Auffassung der Mathematik des Thalf.s. wenigen Zweifelsfällen war es nötig, den griechischen Text zu Rate zu ziehen. Es ist nicht nur lehrreicher, sondern es macht auch viel mehr Freude, In Kapitel TV die klassischen Autoren selbst zu lesen (wenn auch nur in Übersetzung) als moderne Auszüge. Wenn mein Buch seine Leser dazu bringen kann, Rekonstruktion der Zahlentheorie der Pythagoreer aus den arithmeti­ dann hat cs erreicht, was es erreichen wollte. Deshalb beschwöre ich schen Büchern der Elemente des Euklkides. meine Leser: Glaubt mir nichts, prüft alles nach! Beziehungen zwischen der babylonischen und der griechischen, vor allem der pythagoreischen Mathematik. 1 Dabei lässt sich die bekannte Euklidische Konstruktion {Elemente 1, 12), die wir alle in der Schule gelernt haben, sehr gut mit gespannten Seilen ausführen! Die Trrationalitätsbeweise des Theödoros von Kyrene. 20 Z UH EI NF ÜHRUKG In Kapitel VI: Die schwache Logik des Archytas von Taras. Mathematik und Harmonielehre in der Epinomis. Analyse des Buches X der Elemente; Theaitetos als Mathematiker. In Kapitel VII: ÄGYPTISCHE UND BABYLONISCHE Die Geschichte des Delischen Problems, in Wirklichkeit und nach dem MATH EM ATI K Dialog Platonikos des Eratosthenes. In Kapitel VIII: Die Lusachen des Unterganges der griechischen Mathematik.

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