Bildung für nachhaltige Entwicklung im Naturpark Erlebnisstationen-Konzept „Leben und Arbeiten auf dem Land“ Erlebnisstationen-Konzept „Leben und Arbeiten auf dem Land“ Ein Bildungskonzept und praktischer Leitfaden zu außerschulischen Lernorten im Naturpark Nuthe-Nieplitz auf der Basis einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung insbesondere für Lehrer/innen, Gruppenleiter/innen und Eltern Fachbeiträge des Landesumweltamtes, Titelreihe, Heft-Nr. 108 Erlebnisstationen-Konzept „Leben und Arbeiten auf dem Land“ – Ein Bildungskonzept und prak- tischer Leitfaden zu außerschulischen Lernorten im Naturpark Nuthe-Nieplitz auf der Basis einer Bil- dung für Nachhaltige Entwicklung, insbesondere für Lehrer/innen, Gruppenleiter/innen und Eltern Herausgeber: Landesumweltamt Brandenburg (LUA) Seeburger Chaussee 2 OT Groß Glienicke 14476 Potsdam Tel.: 033201 - 442 0 Fax: 033201 - 43678 E-Mail: [email protected] www.mluv.brandenburg.de/info/lua-publikationen Bearbeitung: LUA, Abteilung Großschutzgebiete, Regionalentwicklung; Ref. Biosphärenreservatsverwaltung Fluss- landschaft Elbe GR5 Christamaria Kugge (Tel.: 038791-980-17), [email protected] auf der Basis der Masterarbeit „Erlebnisstationen-Konzept ‚Land aktiv’ für den Naturpark Nuthe-Nieplitz“ an der Uni- versität Rostock unter fachlicher Begleitung der Naturparkverwaltung Nuthe-Nieplitz Redaktionelle, technische Umsetzung: LUA, Ref. Umweltinformation/Öffentlichkeitsarbeit S5 Potsdam, im Mai 2008 Druck: Landesamt für Verbraucherschutz, Landwirtschaft und Flurneuordnung, Am Halbleiterwerk 1, 15236 Frankfurt (Oder), TZ .../08 Die Veröffentlichung als Print und Internetpräsentation erfolgt im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Dritten zum Zwecke der Wahlwerbung verwen- det werden. 2 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 4 1.1 Zielgruppe des Bildungskonzeptes 4 1.2 Entstehungshintergrund und Ziel des Bildungskonzeptes 4 1.3 Der Naturpark Nuthe-Nieplitz 5 2 Die theoretischen Grundlagen: Didaktik der Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung 6 2.1 Didaktik der Umweltbildung 6 2.1.1 Die Auswahl der Inhalte und die Prinzipien der Interdisziplinarität und Situations- orientierung 6 2.1.2 Bedingungen des Lernens 7 2.1.3 Methodenwahl und das Prinzip der Handlungsorientierung 8 2.2 Bildung für nachhaltige Entwicklung 9 2.3 Der Bildungsgang der Grundschule in Brandenburg im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung 12 3 Die Bestandsaufnahme: potenzielle Nutzer und potenzielle Anbieter von außerschulischen Lernorten im Naturpark 14 3.1 Potenzielle Nutzer: Befragung von Schulen in der Region 14 3.2 Potenzielle Anbieter: Auswahl und Befragung von Akteuren im Naturpark 16 4 Die Umsetzung: Bildungskonzept „Leben und Arbeiten auf dem Land“ 18 4.1 Lehr-Lern-Ziele 18 4.2 Unterrichtsplanung 19 4.3 Themenauswahl und Auswahl des außerschulischen Lernortes 21 4.4 Außerschulische Lernorte: 32 Erlebnisstationen 25 4.4.1 Stationen-Steckbriefe 25 4.4.2 Organisatorisches 59 4.5 Lehr-Lern-Methoden 60 4.6 Evaluation 63 Anhang Anhang 1 Eignung der Stationen für klassische Fachthemen, Themen zur Berufs- orientierung und zur längerfristigen Weiterarbeit 65 Anhang 2 Inhaltliche Bezüge in den Rahmenlehrplänen 67 Anhang 3 Bezüge in den Rahmenlehrplänen zu den Themenmodulen in Kapitel 4.3 69 Anhang 4 Organisatorische Informationen zu den Stationen 71 Anhang 5 Quellen 74 3 1 Einleitung 1.1 Zielgruppe des Bildungskonzeptes Mit diesem Bildungskonzept sollen alle angesprochen werden, die Kinder- und Jugendgruppen einen Einblick in verschiedene Bereiche des Lebens und Arbeitens auf dem Land mit Blick auf das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung geben möchten und dies am liebsten am praktischen Beispiel tun würden. Das Konzept ist auf Schulklassen der Jahrgangstufe 3 bis 6 ausgerichtet, doch die hier zusammenge- stellten Erlebnisstationen sind nicht auf diese Altersgruppe beschränkt. Die vorliegende Veröffentli- chung wendet sich also vor allem an Lehrerinnen und Lehrer, Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter in außerschulischen Einrichtungen sowie interessierte Eltern. Darüber hinaus vermittelt sie Besuchern des Naturparks einen Einblick in die Vielfalt der Tätigkeiten der hier wirkenden Akteure. 1.2 Entstehungshintergrund und Ziel des Bildungskonzeptes Die Projektidee zum Erlebnisstationen-Konzept „Leben und Arbeiten auf dem Land“ im Naturpark Nuthe-Nieplitz geht im Wesentlichen auf zwei Anlässe zurück: • Zum einen besteht seitens der Naturparkverwaltung seit längerem der Wunsch, ein touristisches Angebot für Gruppen unterschiedlichen Alters zu entwickeln, bei dem Besucher an verschiedenen „Erlebnisstationen“ (z.B. landwirtschaftliche Betriebe, Tourismusanbieter, Künstlerateliers) Einbli- cke in die breite Angebotspalette und Vielfältigkeit des Naturparks erhalten. • Zum anderen rücken unter dem Stichwort „demografischer Wandel“ derzeit vermehrt Überlegun- gen dazu in den Blickpunkt, wie die Stärken ländlicher Räume in Zukunft erhalten und entwickelt werden können. Denn aktuell ist der ländliche Raum in Brandenburg durch die rückläufige Bevöl- kerungsentwicklung in seiner Funktion als Lebens- und Arbeitsraum gefährdet (vgl. LR BBG. 2005: 36). Es ist also wichtig, dass junge Leute nicht mit großer Selbstverständlichkeit in Ballungszent- ren abwandern, sondern möglichst viele von ihnen auf dem Dorf wohnen bleiben bzw. dort hinzie- hen. Die Chancen für einen „Einstieg“ auf dem Land stehen nicht schlecht: der Bedarf an landwirt- schaftlichen Fachkräften wird in Brandenburg künftig steigen (vgl. LVL 2002: 55) und der derzeiti- ge Boom der Bio-Lebensmittel eröffnet neue Möglichkeiten. Naturparke, Regionalparke und Bio- sphärenreservate werden im Zusammenhang mit demografischem Wandel als Modellregionen be- trachtet, deren Selbstentwicklungskräfte entfaltet und deren Attraktivität als Wirtschafts- und Le- bensraum erhöht werden soll (vgl. LR BBG. 2005: 36). Doch die Attraktivität des ländlichen Raums muss nicht nur in einigen Regionen erhöht werden, sie muss vor allem auch vermittelt werden. Hier will das Bildungskonzept ansetzen. Das Konzept wurde im Rahmen einer Masterarbeit im Fernstudiengang „Umwelt und Bildung“ an der Universität Rostock entwickelt (KUGGE 2006). Diese Arbeit bildet die Grundlage der vorliegenden Ver- öffentlichung. Entsprechend dem geschilderten Bezug zur zukünftigen Entwicklung des ländlichen Raums bezieht sich die Themenstellung „Leben und Arbeiten auf dem Land“ in diesem Konzept ausdrücklich nicht nur auf das Kennenlernen ländlicher Arbeitsweisen als Teil der Allgemeinbildung oder gar Wissen über historische Arbeitsgeräte. Vielmehr soll hier der Schwerpunkt auf ganz aktuellen gesellschaftlichen Fragen liegen, z.B. Fragen der gesunden Ernährung, des Umgangs mit Natur und Landschaft, der Bevölkerungsentwicklung und der persönlichen Zukunftsmöglichkeiten und -visionen der kommenden Generationen. Das Bildungskonzept basiert auf drei wesentlichen Eckpunkten: • dem pädagogischen Konzept einer „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“, • der Erforschung der Erwartungen potenzieller Nutzer im Umfeld des Naturparks und ihres bisheri- gen Umgangs mit der Thematik und • den Ergebnissen der Bestandsaufnahme an potenziell geeigneten Lernorten im Naturpark. Wesentlicher Bestandteil des Konzeptes sind die aus dem letztgenannten Punkt hervorgegangenen Erlebnisstationen. Dabei handelt es sich um 32 außerschulische Lernorte im Naturpark, die nicht nur 4 zusammengestellt sondern für dieses Konzept neu erschlossen wurden. Jede Station wird in einem Stationen-Steckbrief vorgestellt. Beim größten Teil der Akteure an den Stationen handelt es sich um didaktische Laien, die bisher nicht oder nur sporadisch mit Schülergruppen zu tun hatten und nun ihre Bereitschaft bekundet haben, ihre Höfe bzw. Arbeitsstätten für Kindergruppen zu öffnen. Der große Vorteil dieses Ansatzes liegt darin, dass die Schüler/innen hier Wissen und Können aus erster Hand präsentiert und vermittelt bekommen. Ziel des Bildungskonzeptes ist es, Schüler/innen zu ermöglichen, sich mit den verschiedenen Aspek- ten des Lebens und Arbeitens auf dem Land sowie ihren gegenseitigen Vernetzungen und den Ver- netzungen mit der eigenen Lebenswelt auseinanderzusetzen. Es soll ihnen helfen, neue Zugänge zu der Thematik zu finden und ein realistisches und vielseitiges Bild des Lebens und Arbeitens auf dem Land zu entwickeln. Durch Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten und Vorstellen von positiven Bei- spielen soll es dazu beitragen, dass die Lernenden die Chancen ländlicher Räume wahrnehmen und Lösungsansätze für die sich im Zusammenhang mit dem Leben und Arbeiten auf dem Land stellenden Probleme erkennen. 1.3 Der Naturpark Nuthe-Nieplitz Der Naturpark Nuthe-Nieplitz ist eine 623 km2 große Natur- und Kulturlandschaft, deren Zentrum ca. 20 km südlich von Potsdam gelegen ist. Er umfasst auch zwei in die Landschaft eingebettete Städte mit historischem Stadtkern und zahlreiche Dörfer. Eine Übersichtskarte des Naturparks findet sich im Zusammenhang mit der Darstellung der Lage der Stationen Kapitel 4 (Abb. 3 bzw. S. 26). Mehr als drei Viertel der Naturparkfläche besitzt einen Status als Natur- oder Landschaftsschutzgebiet. Abb. 1: Seen und weite Blicke in die Landschaft sind typisch für den Naturpark Nuthe-Nieplitz Herzstück des Naturparks ist das Naturschutzgebiet „Nuthe-Nieplitz-Niederung“. Auf den Weg ge- bracht vom Landschafts-Förderverein Nuthe-Nieplitz-Niederung e.V. startete hier 1992 Brandenburgs erstes Naturschutzgroßprojekt von gesamtstaatlicher Bedeutung. Ziel war es, die durch intensives Wirtschaften, insbesondere die systematische Entwässerung, zerstörten oder gefährdeten Moore und Wiesen, Seen und Wälder gesunden zu lassen und langfristig eine naturschonende nachhaltige Ent- wicklung der Region zusammen mit allen (Land-)Nutzern einzuleiten. Das Projekt ebnete den Weg für den 1999 eröffneten Naturpark Nuthe-Nieplitz. Viele seltene und gefährdete Tier- und Pflanzenarten leben im Gebiet. Aufgrund des Wasserreichtums ist der Naturpark im Herbst ein wichtiges Rastgebiet für Vögel der Feuchtgebiete wie Gänse und den Kranich, das „Wappentier“ des Naturparks. Im Naturpark wirtschaften viele kleine und mittlere Unternehmen in ländlichen und naturbezogenen Arbeitsbereichen. Es wird ein umweltverträglicher Tourismus, eine umweltgerechte Landbewirtschaf- tung und die Vermarktung regionaler Produkte angestrebt. Aufgrund des vergleichsweise großen An- teils an Schutzgebieten und der damit verbundenen Bewirtschaftungsauflagen nutzten viele Landwirt- schaftsbetriebe ihre Flächen extensiv. Es gibt jedoch auch konventionelle Landwirtschaft im Natur- park. Auffallend ist die große Dichte der Pferdehöfe. Daneben gibt es verschiedene Handwerksbetrie- be und eine Reihe von Akteuren, die im künstlerischen Bereich tätig sind. 5 2 Die Theoretischen Grundlagen: Didaktik der Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung Zunächst sollen einige für das Bildungskonzept wichtige Aspekte der in den letzten Jahrzehnten aus- geformten Grundfragen und Prinzipien der Didaktik der Umweltbildung, die bereits vor der Entwicklung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung formuliert und angewandt wurden, vorgestellt werden (Kap. 2.1). Anschließend wird das Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung in Grundzügen umris- sen (2.2). Mit Bezug auf wichtige in Kapitel 2.1 und Kapitel 2.2 dargestellte Sachverhalte wird schließ- lich in Kapitel 2.3 ein kurzer Einblick in den Bildungsgang der Grundschule in Brandenburg gegeben. 2.1 Didaktik der Umweltbildung Didaktik (grch.: didáskein – lehren; intransitiv: lernen) ist nach Comenius „die Kunst, alle Menschen alles zu lehren“ (JANK/MEYER 2002: 11). Werner JANK und Hilbert MEYER (ebd.: 14) definieren sie als „die Theorie und Praxis des Lernens und Lehrens“ und bestimmen den Gegenstand der Didaktik durch die „neun W-Fragen“: wer – was – von wem – wann – mit wem – wo – wie – womit und wozu lernen soll. Verdichtet werden diese Fragen in dem didaktischen Kausalzusammenhang Ziel – Inhalt – Methode. Die folgenden Ausführungen zu Grundfragen der Didaktik der Umweltbildung sind in die Bereiche „Auswahl der Inhalte“, „Bedingungen des Lernens“ und „Methoden“ gegliedert und mit ausgewählten didaktischen Prinzipien verknüpft, die für den jeweiligen Bereich eine besondere Bedeutung haben. Durch die Orientierung an den dargestellten Prinzipien wird der Zusammenhang zu den Zielen des Unterrichts hergestellt. 2.1.1 Die Auswahl der Inhalte und die Prinzipien der Interdisziplinarität und der Situations- orientierung „Wissen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung dafür, dass wir der gefährlichen und gefährdeten Zukunft gewachsen sind“ (von HENTIG, zitiert in BOLSCHO/SEYBOLD 1996: 133). Die meisten Probleme, mit denen wir uns heute und in Zukunft konfrontiert sehen, insbesondere Umwelt- probleme, können nicht durch isoliertes Fachwissen gelöst werden. Es geht daher in der Umweltbil- dung schon seit langem darum, die Fachwissenschaften zu vernetzen und Probleme interdisziplinär zu bearbeiten. Für die Schule bedeutet das, es nicht den Schüler/innen zu überlassen, die Erkennt- nisse aus den einzelnen Fächern zu integrieren, sondern fachwissenschaftliche Vernetzungen an im Unterricht behandelten interdisziplinären Problemen aufzuzeigen. Bezüglich der Inhalte besteht hier ein fließender Übergang zur in Kapitel 2.2 skizzierten Nachhaltig- keitsdiskussion. In Bezug auf schulische Unterrichtsplanung und Methodik bedeutet die Forderung nach Interdiszipli- narität, dass im Unterricht die Inhalte, Denkweisen und Methoden einzelner Fächer miteinander ver- bunden werden müssen. Es gibt in der Literatur eine Fülle von Begriffen, die einen Unterricht bezeichnen, der sich nicht auf fachspezifisches Lehren beschränkt. Hier sollen die im Brandenburger Schulsystem gebräuchlichen Definitionen verwendet werden: • Danach erweitert der fachübergreifende Unterricht das eigene Fach, indem er es mit den le- bensweltlichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler sowie mit Inhalten anderer Fächer ver- knüpft. Ausgangspunkt und Endpunkt des fachübergreifenden Arbeitens ist dabei das jeweilige Fach. Fachübergreifender Unterricht ist in der Regel Unterricht „aus einer Hand“, d.h. er wird von einer Fachlehrkraft umgesetzt (LISUM 2003: 14f.). • Im Unterschied zum fachübergreifenden Unterricht, in dem das Thema gewissermaßen fachwis- senschaftlich vorstrukturiert in den Blick der Lernenden gerät, arbeiten im fächerverbindenden Unterricht verschiedene Fächer an einem gemeinsamen Gegenstand. Richtung und Umfang der Bearbeitung werden dabei vom übergreifenden Thema bestimmt. Für fächerverbindendes Arbei- ten ist die geplante und inhaltlich aufeinander bezogene Kooperation von Lehrkräften der beteilig- ten Fächer unerlässlich (LISUM 2003: 15). 6 Ist das zu vermittelnde interdisziplinäre Problem definiert, stellt sich Frage, an welchen konkreten In- halten es veranschaulicht werden soll. Hier geht es darum, die komplexen Themen auf die Lebenswelt der Lernenden zu beziehen, d.h. die für die Lernenden geeigneten Exempla zu finden. Dabei sollte das didaktische Prinzip der Situationsorientierung Anwendung finden. Situationsorientierung zielt darauf ab, Situationen, die für die Lebenswelt von Lernenden von Be- deutung sind, zum Ausgangspunkt pädagogischer Vorhaben zu machen und in den Mittelpunkt von Bildungsprozessen zu stellen. Die folgenden Kriterien helfen, aus der Fülle der Möglichkeiten geeigne- te Situationen auszuwählen (vgl. BOLSCHO 1998: 65f; BOLSCHO/SEYBOLD 1996: 139): • …Es sollen Situationen ausgewählt werden, in denen die Lernenden in der Gegenwart oder nähe- ren Zukunft zu handeln haben. • …Es sollen keine idealtypischen Situationen konstruiert werden, die für alle Lernenden als gleich- artig angesehen werden, sondern es sollen reale Situationen aus den jeweiligen subkulturellen Mi- lieus sein. • …Es sollen solche Situationen ausgewählt werden, die im Rahmen pädagogischer Vorhaben durch die Lernenden beeinflussbar sind; Situationen, in denen beispielhaft gezeigt werden kann, dass Kinder und Erwachsene – auch in der Form solidarischen Handelns – Einfluss zu nehmen in der Lage sind. Hintergrund für die Orientierung an für die Lernenden bedeutsamen Situationen ist zum einen, das Interesse und die Aufmerksamkeit der Lernenden zu erlangen. Themen aus der Lebenswelt der Ler- nenden bieten „Ankerplätze“ für übergeordnete Zusammenhänge. Man spricht in diesem Zusammen- hang auch vom „Anschlusslernen“. Weiterhin geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, wo die Lernenden in ihrer unmittelbaren Umgebung mit komplexen, möglicherweise auch globalen, Zusammenhängen in Berührung kommen. Es gilt, hierfür lokale Anlässe zu finden, die für die Lernenden von Bedeutung sind. Beim Suchen nach solchen Anlässen, nach realen Situationen, spielen außerschulische Lernorte eine wichtige Rol- le. Auf die Frage, welche Situationen für Grundschulkinder bedeutsam sein können, kommen neben all- täglichen Situationen auch entwicklungstypische Schlüsselfragen dieser Kinder, wie z.B. „Wer bin ich?“, „Wie bin ich?“ (Fragen nach Gleichsein und Anderssein), in den Blick (vgl. dazu FAUST-SIEHL ET AL. 1996: 73). In diesem Zusammenhang eröffnet sich beispielsweise die Chance, Kinder für die Le- benssituationen von Kindern in anderen Ländern zu sensibilisieren, was wiederum ein geeigneter Ansatzpunkt für Probleme mit globalem Bezug ist. Bei dem Verweis auf Zusammenhänge zwischen der Lebenswelt der Lernenden und komplexen Um- weltproblemen soll es nicht um Dramatisierung oder „Betroffenheitspädagogik“ gehen. Vielmehr sollen – darauf verweist das dritte Kriterium – den Lernenden in exemplarischen Situationen Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Problemsituationen aufgezeigt werden. Damit ist ein Bezug zu Handlungsorien- tierung und Partizipationskompetenz, auf die in diesem Kapitel noch näher eingegangen wird, gege- ben. 2.1.2 Bedingungen des Lernens Im Bereich der Umweltbildung ist eine wichtige Frage, ob und unter welchen individuellen Bedin- gungen sie Lernende zu „umweltfreundlichem“ Verhalten bewegen kann. Diese Fragen werden ins- besondere in der Umweltbewusstseinsforschung thematisiert. Als Dimensionen des Umweltbewusst- seins unterscheidet man Wissen, Wahrnehmungen, Werte und Verhalten. Dabei gibt es kaum Zweifel, dass Wissen eine Voraussetzung für Umweltbewusstsein darstellt. Andererseits sind auch die erheb- lichen Diskrepanzen zwischen Wissen und Handeln in diesem Bereich bekannt, so dass sich die oben zitierte Äußerung von Hentigs bestätigt, wonach Wissen keine hinreichende Bedingung ist. Die Wahrnehmung von Umweltbelastungen wird häufig in dem Begriff „Betroffenheit“ zum Ausdruck gebracht. Betroffenheit als generalisiertes Wahrnehmungsmuster ist in pädagogischen Zusammen- hängen jedoch wenig geeignet (BOLSCHO 1998: 40). Interessant sind in diesem Zusammenhang For- schungsergebnisse, wonach die affektive Bedeutung von Naturerfahrungen für die Motivierung von Umwelthandeln doppelt so hoch ist wie die Wirkung der wahrgenommenen Bedrohung durch Umwelt- probleme (BÖGEHOLZ, zitiert in HAUENSCHILD/BOLSCHO 2005: 99). Wertorientierungen haben als ü- bergeordnetes System einen wesentlichen Anteil an der Entscheidungsfindung, obwohl auch sie nicht unmittelbar zum Handeln führen müssen. Dabei können sowohl anthropozentrische Werthaltungen als 7 auch physiozentrische Perspektiven zu Motiven für Umwelt- und Naturschutz werden (ebd. 99f.). Der Ausbildung von Werthaltungen kommt daher auch in der Grundschule eine große Bedeutung zu. Umweltbildung wird in unterschiedlichen Institutionen praktiziert, die jeweils ein entsprechend differen- ziertes didaktisches Handeln erfordern. Dabei muss sich die Umweltbildung auf die unterschiedlichen institutionellen Bedingungen einlassen. Für die Institution Schule bedeutet dies u.a., dass eine ge- wisse Orientierung an den Rahmenlehrplänen – sie stellen die Grundlage des Unterrichts für das je- weilige Fach im jeweiligen Bundesland dar – unerlässlich ist. Weiterhin müssen zeitliche und räumli- che Einschränkungen berücksichtigt werden. Gleichzeitig gilt es aber auch, institutionelle Barrieren abzubauen. So kann der klassische 45-Minuten- Rhytmus mit Projektunterricht und fächerverbindendem Unterricht durchbrochen werden. Mit Blick auf Räume und Akteure ist die schulische Umweltbildung gefordert, „über ihren Tellerrand“ zu schauen und verstärkt außerschulische Lernorte zu nutzen. BURK/CLAUSSEN (1981: 18f.) führen folgende Thesen für die Notwendigkeit der Nutzung von außerschulischen Lernorten an: • Für Kinder sollte in der Schule deutlich werden können und erkennbar bleiben, dass das, was sie lernen und erleben für ihre aktuellen und zukünftigen Lebenssituationen bedeutsam und wichtig ist. • Kinder auf ihr künftiges Leben vorbereiten heißt, die Kluft zwischen (sozialer, natürlicher, techni- scher) Umwelt und organisierten Lernen zu überbrücken. • Durch die Mitwirkung von „Laienpädagogen“ in Lernsituationen außerhalb der Schule wird Komple- xität und Offenheit als doppelte Herausforderung für Schüler und Lehrer erreicht. • Die Absicht, Kinder mit der gegenwärtigen Wirklichkeit durch eigenen „Zugriff“ vertraut zu machen, zielt auf fächerübergreifenden Unterricht an komplexen Wirklichkeitsausschnitten, die weder fach- lich-segmentierten Teilwirklichkeiten noch gesamtunterrichtlichen „Stoffkonstrukten“ entsprechen. • Das Vorhaben, Erfahrungsräume zurückzugewinnen und Kindern wieder eigene sinnliche Erfah- rungen zu vermitteln, richtet sich auch gegen die Allgegenwart der Medien und der industriellen Kindermassenkultur. 2.1.3 Methodenwahl und das Prinzip der Handlungsorientierung „Es ist nicht einzusehen, warum Schüler plötzlich nach Verlassen der Schule selbständig sein sollen, wenn sie die ganze Schulzeit lang daran gehindert worden sind.“ – Dieser Satz von Hilbert MEYER (zitiert in BOLSCHO/SEYBOLD 1996: 147) verdeutlicht sehr anschaulich die Motivation für handlungsori- entierten Unterricht. Nach Jean Piaget ist das Handeln das zentrale Bindeglied zwischen dem Denken und den Dingen. Da es im Bereich der Umweltbildung im Wesentlichen immer um die Herausbildung von umweltbewuss- tem Verhalten geht, ist es wichtig, von Anfang an Möglichkeiten für umweltbewusstes Handeln aufzu- zeigen und dieses auch am praktischen Beispiel einzuüben. Eng damit verbunden ist die Bereitschaft zur Mitbestimmung und Mitgestaltung zukünftiger Entwicklungen, also die Partizipationsfähigkeit. Da Partizipation bedeutet, sich in gemeinschaftliche Abstimmungs- und Planungsprozesse einzubringen, ist hier auch die soziale Kompetenz der Teamfähigkeit angesprochen. Die Bedeutung eines handlungsorientierten Unterrichts wird durch Ergebnisse der Kontrollforschung unterstrichen. Sie beschäftigt sich mit der individuellen Wahrnehmung und Bedeutung der Einfluss- möglichkeiten von Menschen in verschiedenen Lebenssituationen. Bei Untersuchungen mit Kindern hat sich in diesem Zusammenhang bestätigt, dass die Kontrollwahrnehmung in Bezug auf Umwelt- probleme abhängig ist von den Handlungserfahrungen der Kinder (HAUENSCHILD 2002: 106). Als Merkmale handlungsorientierter Pädagogik werden insbesondere die folgenden angeführt (BOLSCHO 1998: 75f.): Handlungsorientierung… • …ist ganzheitlich (inhaltlicher, methodischer, personaler Aspekt); • …ist schüleraktiv; • …zielt auf Handlungsprodukte; • …macht die subjektiven Interessen der Lernenden zum Ausgangspunkt des Lernens; • …bezieht die Lernenden in Planung, Durchführung und Auswertung ein; • …führt zur Öffnung von Bildungseinrichtungen; • …gründet auf einem ausgewogenen Verhältnis von Kopf- und Handarbeit. An den Kriterien wird deutlich, dass Situationsorientierung und Handlungsorientierung eng verknüpft sind und sich gegenseitig ergänzen. 8 Es muss betont werden, dass es sich bei handlungsorientiertem Lernen nicht nur um Lernen handelt, bei dem bloße materielle Handlungsvollzüge notwendig sind, sondern um bewusste auf Ziele und Zwecke orientierte planvolle Lernaktivitäten (WÖLL zitiert in KAISER 2004: 1) Aufgabe der Lehrenden ist es unter dem Aspekt der Handlungsorientierung, Lernprozesse zu ermögli- chen, die die genannten Merkmale berücksichtigen und auf die Ausbildung von Handlungs- und Parti- zipationskompetenzen sowie von Teamfähigkeit zielen. Im Hinblick auf die Planung des Unterrichts bietet sich dabei die Projektmethode an. Im Rahmen der Projektinitiative können die Lernenden subjektive Interessen einbringen, womit auch die Vorausset- zungen für Situationsorientierung gegeben sind. Auch die anschließenden Phasen des Projektes (Planung, Durchführung, Abschluss) können genutzt werden, um die Lernenden aktiv einzubeziehen. Den Abschluss des Projektes bildet oft die Fertigstellung eines konkreten Handlungsproduktes. Auf der Ebene der Unterrichtsorganisation ist es dabei meist sinnvoll, die Schüler einzelne Aufgaben in Kleingruppen bearbeiten zu lassen. Zur Lösung der einzelnen Teilaufgaben sind naturwissenschaftlich-experimentelle Verfahren, sozi- alwissenschaftliche Erhebungen sowie Fallanalysen und Zukunftsprojektionen geeignet (BOLSCHO 1998: 76). 2.2 Bildung für nachhaltige Entwicklung Bezugspunkt des pädagogischen Konzepts einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung (im Folgenden als BNE bezeichnet) ist der Begriff Nachhaltige Entwicklung (sustainable development), verkürzt auch als Nachhaltigkeit (sustainability) bezeichnet. Dieser Begriff wurde ursprünglich in der Forstwirtschaft verwendet und bezeichnet eine Wirtschafts- weise, bei der immer nur so viel Holz entnommen wird, dass langfristig ein dauerhafter Holzertrag gesichert ist. Im Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung von 1987 („Brundtland-Bericht“) wurde der Begriff erstmals der Öffentlichkeit als Leitlinie für die zukünftige internationale Umweltpolitik näher gebracht. Im Kontext der 1992 in Rio de Janeiro abgehaltenen „UN-Konferenz für Umwelt und Ent- wicklung“ („Rio-Gipfel“, „Erdgipfel“) und der sie begleitenden Veranstaltungen sowie des daraus her- vorgegangenen Aktionsprogramms „Agenda 21“ entwickelte sich der Begriff zum zentralen Leitbild der globalen Umweltdiskussion. Mittlerweile wurden über 70 verschiedene Definitionen von Nachhalti- ger Entwicklung ausgemacht (FISCHER 1997: 18). Zu den immer wieder zitierten Kerngedanken gehö- ren die folgenden: Nachhaltige Entwicklungen bezeichnet eine Entwicklung, in der die heutige Generation ihren Bedarf befriedigen soll, ohne künftige Generationen in ihrer Bedürfnisbefriedigung zu beeinträchtigen (inter- generationelle Gerechtigkeit). Gleichzeitig soll auch innerhalb einer Generation Verteilungsgerechtig- keit angestrebt werden (intragenerationelle Gerechtigkeit). Hier wird die globale Perspektive der Nachhaltigkeit deutlich: das Gerechtigkeitspostulat beinhaltet die Gerechtigkeit zwischen den Ländern des Südens und des Nordens, wobei nicht nur die gerechte Ressourcennutzung gemeint ist. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass ökonomische, ökologische und soziale Entwicklungen ver- netzt betrachtet werden. Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, in der diese Dimensionen nicht voneinander abgespalten oder gegeneinander aufgewogen werden. Diese Gesamtvernetzung wird auch als Retinität bezeichnet. Nachhaltige Entwicklung stellt ein Leitbild für eine zukünftige gesellschaftliche Entwicklung dar. Ähn- lich wie andere Leitvorstellungen, beispielsweise „Freiheit“ oder „Demokratie“, hat sie den Charakter einer regulativen Idee. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit Nachhaltiger Entwicklung stellt somit immer auch einen Suchprozess dar. In Kapitel 36 der Agenda 21 wird zum Ausdruck gebracht, dass Bildung die Umsetzung der anderen Kapitel maßgeblich beeinflussen kann und muss. Die 1992 von den Vereinten Nationen eingesetzte Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD) hat 1996 beschlossen, ein Aktionsprogramm in die Wege zu leiten, mit dem die Umsetzung der Agenda 21 koordiniert vorangebracht werden soll. We- sentlicher Inhalt des Beschlusses ist u.a. die Weiterentwicklung des Begriffs der Umweltbildung hin zu einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BLK 1998: 8). Die Bund-Länderkommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK 1998) hat mit ihrem Orientierungsrahmen den Begriff „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ genauer ausgeformt und 9
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