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Eine ganz andere Geschichte PDF

546 Pages·2008·3.01 MB·German
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Håkan Nesser Eine ganz andere Geschichte Inhaltsangabe Die Bretagne im Sommer: Sechs schwedische Touristen verbringen im Finistère ein paar vergnüg­ te Urlaubswochen. Es ist eine bunte Gesellschaft: zwei Paare und zwei Singles, die sich zufällig über den Weg laufen und kurzfristig miteinander Freundschaft schließen. Sie baden, sie essen, sie machen Ausflüge und flirten ein wenig über die Ehegrenzen hinweg. Und als die Ferien vorbei sind, trennen sich ihre Wege, wie das so oft der Fall ist. Übrig bleiben ein paar vereinzelte Fotos, das ein oder andere Aquarell – und ein anonymes Tagebuch, das ihre Eskapaden schildert, wie sich später herausstellen wird, als die Tragödie ihren Lauf genommen hat … Denn fünf Jahre spä­ ter beginnt jemand, sie zu töten, einen nach dem anderen, wobei die Morde Gunnar Barbarotti, Inspektor in Kymlinge, jeweils brieflich angekündigt werden. Der Fall erregt große Aufmerksam­ keit in den Medien, die Polizei steht naturgemäß unter Druck. Der Mörder indes spielt Katz und Maus mit den Ermittlern – und scheint immer unfassbarer. Was ist damals in der Bretagne wirk­ lich passiert? Und warum bekommt ausgerechnet Inspektor Barbarotti die Briefe? Die schwedische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel ›En helt annan historia‹ bei Albert Bonniers, Stockholm 1. Auflage Copyright © 2007 by Håkan Nesser Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-442-75174-7 www.btb-verlag.de Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺ Einleitende Bemerkung Die Stadt Kymlinge existiert nicht auf der Landkarte, und Bahcos Schraubenschlüssel mit der Typennummer 08072 ist niemals in Frank­ reich verkauft worden. Ansonsten stimmen große Teile dieses Buches mit bekannten Verhältnissen überein. I Aufzeichnungen aus Mousterlin 29. Juni 2002 Ich bin nicht wie andere Menschen. Und ich will es auch gar nicht sein. Sollte ich jemals eine Gruppe fin­ den, in der ich mich heimisch fühle, dann bedeutet das nur, dass ich abgestumpft bin. Dass auch ich zum Urgebirge der Gewohnheiten und Dummheiten abgeschliffen wurde. Es ist, wie es ist, nichts vermag die­ se grundlegenden Voraussetzungen zu ändern. Ich weiß, dass ich aus­ erwählt bin. Vielleicht war es ein Fehler, hierzubleiben. Vielleicht hätte ich mei­ nem ersten Impuls folgen und nein sagen sollen. Aber das Gesetz des geringsten Widerstands ist stark, und Erik hat mich in den ersten Ta­ gen interessiert, er ist zumindest kein Durchschnittsmensch. Außer­ dem hatte ich keine festen Pläne, keine Strategie für mein Reisen. In den Süden, das einzig Wichtige war, in den Süden zu kommen. Aber heute Abend bin ich unsicherer. Es gibt nichts, was mich hier hält, ich kann jeden Moment meinen Rucksack packen und weiter­ ziehen, und wenn sonst nichts, so empfinde ich zumindest diese Tat­ sache als eine gute Versicherung für die Zukunft. Mir kommt in den Sinn, dass ich sogar jetzt gehen könnte, in diesem Moment, es ist zwei Uhr, die monotone Stimme des Meeres ist nur ein paar hundert Meter entfernt in der Dunkelheit auf der Terrasse zu hören, auf der ich sitze und schreibe. Ich weiß, dass die Flut kommt, ich könnte hinunter zum Strand gehen und ostwärts wandern, nichts wäre leichter als das. Eine gewisse Trägheit, zusammen mit Müdigkeit und Alkohol im Blut, hält mich jedoch zurück. Zumindest bis morgen. Vermutlich 2 noch einige Tage mehr. Ich habe überhaupt keine Eile, und vielleicht lasse ich mich ja von der Rolle des Beobachters verlocken. Vielleicht gibt es Dinge, über die ich schreiben kann. Als ich Doktor L von mei­ nen Plänen erzählt habe, eine längere Reise zu unternehmen, sah er zunächst nicht besonders begeistert aus, aber als ich ihm erklärt habe, dass ich Zeit in einer fremden Umgebung brauchte, um nachzuden­ ken und um das schriftlich festzuhalten, was passiert ist – und dass das der eigentliche Zweck der Reise war –, da nickte er zustimmend; und schließlich wünschte er mir sogar Glück, und ich hatte das Ge­ fühl, dass diese Wünsche wirklich von Herzen kamen. Ich war ja mehr als ein Jahr in seiner Obhut gewesen, dann muss es wohl wie ein Tri­ umph sein, wenn man tatsächlich einmal einen Klienten in die Frei­ heit entlassen kann. Was Erik betrifft, so ist es natürlich sehr großzügig von ihm, mich hier kostenlos wohnen zu lassen. Er hat behauptet, dass er das Haus zusammen mit einer Freundin gemietet hat, die Beziehung aber be­ endet wurde, als es schon zu spät war, um zu stornieren. Ich habe zu­ nächst geglaubt, dass er lügt, nahm an, er wäre schwul und wollte mich als sein Spielzeug haben, aber so ist es offensichtlich nicht. Ich glaube nicht, dass er homosexuell ist, bin mir aber keineswegs sicher. Mögli­ cherweise ist er ja bi, er ist nicht gerade unkompliziert, der Erik. Und wahrscheinlich halte ich es deshalb mit ihm aus, es gibt da dunkle Ek­ ken, die mir zusagen, jedenfalls solange sie noch unerforscht sind. Und er hat reichlich Geld, das Haus ist groß genug, dass wir nicht aufeinanderhocken müssen. Wir sind übereingekommen, dass wir das Haushaltsgeld teilen, aber wir teilen noch etwas anderes. Eine Art Re­ spekt vielleicht. Es sind jetzt vier Tage vergangen, seit er mich vor Lil­ le aufgesammelt hat, drei, seit wir hier sind. Normalerweise werde ich Menschen bereits nach einem Bruchteil dieser Zeit überdrüssig. Aber heute Nacht – während ich schreibe – werde ich wie gesagt zum ersten Mal von ernsthaften Zweifeln befallen. Es begann mit einem 3 sich lang dahinziehenden Lunch im Hafen von Bénodet heute Nach­ mittag, mir war schnell klar, dass es sich um den Eröffnungszug für ei­ nen anstrengenden Abend handelte. So etwas merkt man. Ein Gedan­ ke schwebte mir im Kopf herum – nachdem wir endlich Platz in dem chaotischen Restaurant gefunden hatten und es uns schließlich gelun­ gen war, dem Kellner unsere Bestellung klarzumachen: Bring die ganze Bagage um und hau ab. Das wäre das Einfachste für alle Beteiligten gewesen, und es hätte mich nicht die Bohne berührt. Wenn ich nur eine Methode gehabt hätte. Oder zumindest eine Waf­ fe und einen Fluchtweg. Vielleicht war es auch nur eine Idee, die aus der Tatsache geboren wurde, dass es so heiß war. Der Weg zwischen starker Hitze und Wahn­ sinn ist kurz. Wir hatten den Tisch zur Seite geschoben, den Sonnen­ schirm hin und her gezogen, um Schatten zu bekommen, aber ich lan­ dete immer wieder in der Sonne – besonders, wenn ich mich auf mei­ nem Stuhl zurücklehnte –, und das war alles andere als bequem. Das ganze Dasein fühlte sich wie ein einziger Juckreiz an. Eine vibrierende Irritation, die auf eine Art unerbittlichen Punkt zutickte. Überhaupt war die ganze Aktion eine infame Dummheit. Vielleicht geschah sie gar nicht auf direkte Initiative eines Einzelnen hin, viel­ leicht war es nur eine Frage von allgemeiner, falsch geleiteter Rücksicht. Eine Gruppe von Landsleuten, die auf einem samstäglichen Markt in einem kleinen bretonischen Ort aufeinanderstoßen. Gut möglich, dass die guten Sitten in so einer Lage ein bestimmtes Verhalten erfordern. Gewisse Riten. Ich verabscheue die guten Sitten genauso sehr, wie ich Leute verabscheue, die nach ihnen leben. Es ist auch möglich, dass ich eine Gruppe von Ungarn an einem Re­ stauranttisch in Stockholm oder Malmö auf andere Weise betrachtet hätte, es ist das Innenleben der Gruppe, das ich nur schwer ertrage, das äußere Bild interessiert mich nicht. Etwas zu wissen und zu durch­ schauen, ist oft schlimmer, als ignorant zu sein. Oder so zu tun, als wäre man ignorant. Es ist einfacher, in einem Land zu leben, in dem man die Sprache nicht voll und ganz versteht. 4 Von Französisch, der Sprache, die uns momentan umgibt, wird bei­ spielsweise behauptet, dass sie am ausdrucksvollsten ist, wenn man nicht ganz begreift, was eigentlich gesagt wird. Aber man sieht mir nie an, was ich denke, ich bin da auf der Hut. Ich fluche innerlich, während ich lache und schmunzle, lache und schmunzle. Ich habe gelernt, mein Leben so zu meistern. Navigare ne­ cesse est. Es kann sogar sein, dass die anderen mich sympathisch fin­ den. Die Gedanken sind nicht gefährlich, solange sie nur Gedanken bleiben, das ist natürlich eine Weisheit, die stimmt – wie viele ande­ re auch. Es handelte sich also um zwei Paare. Anfangs war ich davon ausgegan­ gen, dass sie sich kannten, vielleicht zusammen Urlaub machten – aber dem war nicht so. Wir stießen ganz einfach alle sechs zufällig zwi­ schen den Ständen auf dem Wochenmarkt zusammen, selbst gemach­ ter Käse, selbst gemachte Marmeladen, selbst gemachter Muscadet, Ci­ dre und gestrickte Tücher; vielleicht war es ja eine der beiden Frauen, auf die Erik scharf war. Sie sind beide jung und verhältnismäßig schön, vielleicht war er sogar auf beide scharf, er entwickelte tatsächlich so ei­ nigen Charme, während wir dasaßen, in unseren Schalentieren sto­ cherten und eine Weinflasche nach der anderen leerten. Ich ja vielleicht auch. Und dann diese sonderbare Verbindung zu Kymlinge. Erik hat of­ fensichtlich sein ganzes Leben lang in dieser Stadt gelebt, die Frau des einen Paares ist dort aufgewachsen, aber nach Göteborg gezogen, die andere Frau lebt seit ihrem zehnten Lebensjahr in Kymlinge. Keiner der drei kannte einen der anderen in irgendeiner Art und Weise, aber diese geografische Merkwürdigkeit fanden alle interessant. Unwider­ stehlich. Sogar Erik. Was mich selbst betraf, fand ich sie äußerst ekelhaft. Als hätten sie einen Charterbus hierher genommen und könnten jetzt in der kleinen französischen Stadt sitzen und sich an den Sitten und Besonderheiten 5 der Eingeborenen weiden und sie mit denen der Leute daheim verglei­ chen. In Kymlinge und anderswo. Ich trank drei Glas kalten Weißwein vor dem Hauptgericht, während eine Art äußerst vertrauter Verzweif­ lung von mir Besitz nahm, wie ich so dasaß und in der Sonne schwitz­ te. Ein Juckreiz, wie gesagt. Was meine eigene Beziehung zu Kymlinge betraf, zog ich es vor zu schweigen. Ich bin mir sicher, dass niemand der anderen weiß, wer ich bin, sonst könnte ich hier unmöglich weiter dabeisitzen. Henrik und Katarina Malmgren hieß das eine Paar. Sie ist diejenige, die in Kymlinge aufgewachsen ist, aber inzwischen wohnen sie in Möln­ dal. Sie sind beide in den Dreißigern, sie arbeitet im Sahlgrenschen Krankenhaus, er ist irgendeine Art von Akademiker. Sie sind offenbar verheiratet, haben aber keine Kinder. Sie sieht ansonsten aus wie eine Frau, die schwanger werden kann und will, wenn es also irgendwelche medizinischen Probleme gibt, sind sie sicher bei ihm zu suchen. Trok­ ken und angespannt, rötliche Haut, vermutlich bekommt er schnell Sonnenbrand, vielleicht fühlte er sich beim Mittagessen genauso un­ wohl wie ich, zumindest hatte ich fast den Eindruck. Wahrscheinlich sitzt er lieber vor einem Computerbildschirm oder zwischen verstaub­ ten Büchern als unter Menschen, man kann sich fragen, wie die beiden überhaupt zusammengekommen sind. Das andere Paar heißt Gunnar und Anna. Sie sind nicht verheiratet, wohnen offenbar nicht einmal zusammen. Eine Weile haderten sie wohl mit ihrer natürlichen Ober­ flächlichkeit, versuchten sich den Anschein zu geben, sie hätten Din­ ge durchdacht und wären zu einer Art Lebenseinstellung gekommen. Was natürlich ziemlich schnell in sich zusammenfiel, beiden wäre am besten damit gedient, wenn sie eine konsequent schweigende Haltung annähmen, ganz besonders ihr. Er ist irgendsoein Lehrer, die Details sind mir nicht ganz klar geworden, sie arbeitet in einem Werbebüro. Wahrscheinlich in irgendeiner Art kundennaher Funktion, ihr Ge­ sicht und ihre obere Körperhälfte sind zweifellos ihr größtes Kapital. 6

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