UNIVERSITÄT SZEGED PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT INSTITUT FÜR GERMANISTIK Hajnalka Nagy Ein anderes Wort und ein anderes Land. Zum Verhältnis von Wort, Welt und Ich in Ingeborg Bachmanns Werk Dissertationsarbeit Wissenschaftlicher Betreuer: Dr. Attila Bombitz Leiter der Doktorandenschule: Prof. Dr. Árpád Bernáth SZEGED 2009 Inhaltsverzeichnis Vorwort oder der Fall der „nackten“ Namen______________________________ 2 I. Einführung________________________________________________________ 4 I.1. Jenseits der Zeichendichotomie __________________________________________ 4 1.2. Variationen auf eine „Falle“____________________________________________ 17 II. Theoretische Fragestellungen _______________________________________ 28 II.1. Wer hat mit meiner Zunge gesprochen? Das schreibende Ich _______________ 28 II.1.1. Das „Ich ohne Gewähr"____________________________________________ 30 II.1.2. Die Genese des Subjektes in der Schmerzerfahrung ______________________ 38 II.1.3. Eine mehrstimmige Erzählinstanz ____________________________________ 44 II.1.4. „Weil ich zu einer Karikatur geworden bin“____________________________ 50 II.2. „Die Sprache ist die Strafe.“ Sprachtheoretische Überlegungen______________ 58 II.2.1. Das Nicht-Sprechen-Können der Jahrhundertwende______________________ 59 II.2.2. Sagbares und Unsagbares __________________________________________ 67 II.2.3. Schwarze Buchstaben und bunte Kommas______________________________ 73 II.3. Die Tatsachen und das „Nichttatsächliche“. Literatur als Utopie_____________ 91 III. Systematische Motivanalyse_______________________________________ 105 III.1. Körper, Spiegel, Identität____________________________________________ 105 III.1.1. Austreten aus dem Geschlecht _____________________________________ 109 III.1.2. Auratische Momente_____________________________________________ 120 III.2. Namensverlust und Namenzerstörung_________________________________ 138 III.2.1. Im Namen des Sohnes____________________________________________ 139 III.2.2. Im Namen des Todes_____________________________________________ 146 III.3. Raumkonstellationen _______________________________________________ 155 III.3.1. Der Friedhof und das (Toten)Haus Österreich_________________________ 159 III.3.2. Ein Böhme, ein Vagant ___________________________________________ 177 IV. Neue Poetik(en) des Schreibens____________________________________ 192 IV.1. Die Geburt einer festen Erzählinstanz _________________________________ 192 IV.1.1.. „... die nasse Grenze zwischen mir und mir“__________________________ 194 IV.1.2. Die „trockene, harte Stimme von Malina“____________________________ 199 IV.2. Namenszauber und Gebärdensprache _________________________________ 206 IV.2.1. Die Sprachschöpfung der Exterritorialen_____________________________ 212 IV.2.2. Sehend werden__________________________________________________ 220 IV.3. Der Baum, die Schlange und das Meer_________________________________ 228 V. Bibliographie____________________________________________________ 237 1 Vorwort oder der Fall der „nackten“ Namen Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus. (Bernhard von Morlay) Wie ist es mit uns „bestellt” in dieser Welt? Wie kann die Beziehung des modernen Menschen zur veränderten Wirklichkeit der Nachkriegszeit sprachlich artikuliert werden? Eines der Hauptprobleme der Literatur des 20. Jahrhunderts liegt vielleicht darin, dass ein authentisches Sprechen dem Schriftsteller gänzlich untersagt ist, weil sein Mittel, die Sprache, unbrauchbar geworden ist, „höhere Wahrheiten” und die Welt darzustellen. Auch Ingeborg Bachmann betrachtet in ihrer ersten Frankfurter Poetikvorlesung als die „erste und schlimmste“ Frage der zeitgenössischen Dichtung diejenige nach der „Rechtfertigung“ der schriftstellerischen Existenz, welcher nun „zum ersten Mal eine Unsicherheit der gesamten Verhältnisse gegenüber[steht]“ 1: Die Realitäten von Raum und Zeit sind aufgelöst, die Wirklichkeit harrt ständig einer neuen Definition, weil die Wissenschaft sie gänzlich verformelt hat. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding ist schwer erschüttert. (W4, S.188.) Weil der Selbstverzweiflung des Schreibenden auch das Unbehagen gegenüber der Sprache und „die Verzweiflung über die fremde Übermacht der Dinge“ (W4, S.188.) innewohnen, fängt die Arbeit des Dichters mit dem „Konflikt mit der Sprache“ an. Wie lässt sich „eine zweite, größere, ‚wahre’ Wirklichkeit, in der auch das Nichts beheimatet sein soll“ (W4, S.19.) aussprechen, wie lassen sich „wahre Sätze finden“2, wenn die Worte die Dinge nicht mehr fassen und lediglich ins Leere kommen? Ausgehend von der Sprachkrise eines Hofmannsthals und eines Wittgensteins hinterfragt auch Bachmann die sprachlichen Darstellungsmöglichkeiten der Welt und erkundet die (Grenz-)Bereiche des poetisch Sagbaren und Unsagbaren. An die Stelle des „wohlerzogenen“, „behäbig[en], stumpf[en] Wort[es]“, das nur noch ein „billiges Übereinanderstimmen von Gegenstand und Wort, Gefühl und Wort, Tat und Wort“ (W2, S.251.) herstellen kann, beabsichtigt sie das rettende, klare, wahre Wort zu setzen, das ein 1 Bachmann, Ingeborg: Fragen und Scheinfragen. In: Werke. Bd. 4. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München / Zürich: Piper 1978, S.188. Seitenangaben der zitierten Werke von Bachmann (Gedichte, Erzählungen, Essays, Hörspiele und der Roman Malina) werden im Folgenden aufgrund dieser Werkausgabe in Klammern mit der jeweiligen Bandnummer und Seitenzahl nach dem Zitat im Haupttext angegeben, hier z.B. W4, S.188. 2 Der Teilsatz „wir müssen wahre Sätze finden“ ist aus einem Interview mit J.v. Bernstoff entnommen. In: Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Chrisitne Koschel und Inge von Weidenbaum. München / Zürich: Piper 1991, S.19. (Im Folgenden wird dieses Interviewband mit der Abkürzung „GuI“ angegeben.) 2 „neues Rechtverhältnis“ zwischen der Sprache und den Menschen stiften kann. Bachmann ist sich dessen bewusst, dass „die Rose von einst nur noch als Name [steht]“3, dass unsere Hände nur noch die „nackten Namen“ greifen: „Das Wort / wird doch nur / andere Worte nach sich ziehen, / Satz den Satz“ (W1, S.162.). Nichtsdestoweniger wendet sie sich jenem alten (Sprach-)Glauben zu, der von der schöpferischen Allmacht des Wortes durchdrungen ist: „Am Anfang war das Wort“. Und wie das Wort Gottes ist auch das dichterische Wort imstande, durch An- und Aufruf eines „Utopia der Sprache“ die untergegangene Welt auferstehen zu lassen. […] er [Dichter] muß im Rahmen der ihm gezogenen Grenzen ihre Zeichen fixieren und sie unter einem Ritual wieder lebendig machen, ihr eine Gangart geben, die sie nirgendwo sonst erhält außer im sprachlichen Kunstwerk. (W4, S.192.) Das lyrische Ich von Bachmann beharrt immer noch auf dieser magischen Kraft des Wortes, das auf dem Scherbenhügel der Welt eine neue Wirklichkeit poetisch zu konstruieren weiß. Die vorliegende Dissertationsarbeit versucht demgemäß den Problemhorizont des Bachmannschen Œuvres aufgrund der verlorenen Einheit zwischen Ich, Sprache und Welt abzustecken und jenem „Ritualen“, jener „neuen Gangart“ der Sprache auf die Spur zu kommen, die das Schreiben und die dichterische Existenz in diese neue Poetik des Magischen retten kann. Mein Hauptanliegen ist zweierlei: Zum einen versuche ich anhand einiger Motivkonstante zu präsentieren, welche Befreiungsmöglichkeiten sich den Protagonisten Bachmanns anbieten, die erstarrte Ordnung der Gesellschaft zu verlassen. Zum anderen möchte ich zeigen, wie Bachmann eine neuartige Schöpfung der Sprache jenseits der symbolischen Bedeutungskonstitution verwirklicht, wobei gerade die „nackten“ Namen neuerlich mit Bedeutung aufgeladen werden. Dabei wird jedoch immer im Auge behalten, dass dem Schriftsteller die Wahrmachung des Schmerzes als Aufgabe zukommt und dass das Wechselspiel der „schönen“ Sprache und der „Gaunersprache“ nicht nur die Möglichkeit eines Utopischen durchscheinen lässt, sondern auch die Wirklichkeit einer „mörderischen“ Gesellschaft eben als eine Todesart zum Vorschein bringt. 3 Dies ist der letzte Satz des Romans Der Name der Rose von Umberto Eco, der im Sinne der nominalistischen Ansicht von Bernhard von Morlay (vgl. das lateinische Motto des Kapitels) an die Erkennbarkeit der Wirklichkeit durch Sprache nicht glaubt und die Dinge nur noch als „nackte“ Namen begreift, welche sich eben nur auf andere Namen verweisen, aber das Ding selbst nicht mehr fassen. Eco, Umberto: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007, S.655. 3 I. Einführung bezeichnend nicht, so auch nicht zeichenlos - (Ingeborg Bachmann) I.1. Jenseits der Zeichendichotomie. Zur Grundfragestellung des Bachmannschen Werks Im Buch Franza spricht die weibliche Hauptfigur Franza Ranner über den „Bedeutungswahn“ der „Weißen“, d.h. westlicher, zivilisierter Kulturen, die alles durch Namensgebung, Etikettierung und Katalogisierung in Besitz zu nehmen, zu „kolonisieren“ versuchen. Eine mörderische Praxis, wie sich im Laufe der Geschichte zeigt, die den beobachteten, benannten Anderen zum Objekt einer Fallstudie reduziert. Man hat mich benutzt, ich bin in einen Versuch gegangen, ein Objekt für den privaten Wissensdurst eines Wissenschaftlers. Körperbau wurde mir festgestellt, Typenlehre, Körperbau und Charakter… (TP2, S.216) 4 Auch die Ich-Erzählerin des Romans Malina verurteilt die Schrift, die Buchstaben und Silben, dieses „Schwarz auf Weiß“ als „unmenschliche Fixierungen“ und „Festlegungen“, als „zum Ausdruck erstarrten Wahn, der aus den Menschen kommt“ (W3, S.93.). Der Bedeutungswahn bedeutet den Primat des Signifikats, des immer Einen der abendländischen Metaphysik, den Bachmann nicht nur aus der Sicht einer zerstörten, ausgegrenzten Frau (z.B. Franza) zu zeigen versucht5, sondern auch aus der Sicht einer Dichterin. Die Frage nach der Bedeutungskonstitution wird ein Grundelement ihres poetologischen Programms, das sich auf die Suche nach einer „neuen“ Sprache begibt, die jenseits der Binarität der symbolischen Ordnung die Welt darzustellen vermag. „Schlagt alle Bücher zu, das Abrakadabra der Philosophen, dieser Angstsatyrn, die die Metaphysik bemühen und nichts wissen, was die Angst ist.“ (TP2, S.58.) Das um die 60er Jahre entstandene Fragment Das Buch Franza wiederholt hier eine Idee der Doktorandin Bachmann, die ihre Kritische Aufnahme der Existenzialphilosophie Martin Heideggers (1949) mit den folgenden Überlegungen abschließt: 4 Bachmann, Ingeborg: »Todesarten«-Projekt. Kritische Ausgabe. Bd 2. Unter Leitung von Robert Pichl herausgegeben von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München / Zürich: Piper 1995. Im Folgenden werden die Seitenzahlen der Fragmente des Todesarten-Projektes (Das Buch Franza, Requiem für Fanny Goldmann, Goldmann/Rottwitz-Roman) nach der Kritischen Ausgabe im Haupttext mit der jeweiligen Bandnummer und Seitenzahl angegeben. (z.B. TP2, S.215.) 5 Vgl. die Studie von Schuller, die den „Prozeß der Entsymbolisierung“ anhand von Franzas Wüstenerlebnis zeigt. Schuller, Marianne: „Wider den Bedeutungswahn. Zum Verfahren der Dekomposition in »Der Fall Franza«“. In: Text + Kritik: Ingeborg Bachmann. München: 1984, S.150-155., hier S.152-153. 4 Dem Bedürfnis nach Ausdruck dieses anderen Wirklichkeitsbereiches, der sich der Fixierung durch eine systematisierende Existentialphilosophie entzieht, kommt jedoch die Kunst mit ihren vielfältigen Möglichkeiten in zugleich höherem Maß entgegen.6 (KA, S.116.) Dass sich Bachmann mit dieser Feststellung im Sinne Wittgensteins und des Wiener Kreises von einer traditionellen, von Heidegger praktizierten Metaphysik abwendet und einzig in der Kunst eine Möglichkeit der Artikulierung des „anderen Wirklichkeitsbereiches“ (Ethik, Moral, Sinn der Welt) sieht, ist in den 1959/60 aus Anlass der Begründung der Poetikdozentur an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität gehaltenen Frankfurter Vorlesungen ebenfalls ablesbar. Fragen und Scheinfragen – so lautet der provokative, Wittgenstein zitierende7 Titel der ersten Vorlesung, die zum einen die Säulen der klassischen Literaturgeschichtsschreibung von Grund auf ins Schwanken bringt und zum anderen die gängigen Diskurse über die neuen Möglichkeiten dichterischen Schreibens sowie deren Bemühung mit „Anti-Begriffen“ das „neue“ Gedicht, das „neue“ Denken zu rechtfertigen, auf eine sehr kühne Weise konterkariert. „[I]hre ersten Sätze sind Zerstörung all der Erwartungen, die man mit der Einrichtung der Professur verbunden hatte“ – erkennt Irmela von der Lühe sowohl Ingeborg Bachmanns Stellung als Außenseiterin in Frankfurt als auch die Diskrepanz zwischen dem, was von der Seite der Studenten und Professoren erwartet wurde und dem, was sie tatsächlich zu hören bekamen.8 Auch der Bericht einer Journalistin der Deutschen Zeitung zeigt diese Diskrepanz auf, unmittelbar nach der letzten Vorlesung (Literatur als Utopie), welche von den eifrigen Germanisten der Universität als realer Angriff gegen jedwede Literaturwissenschaft betrachtet wurde. [die Studenten] wollen Handfestes wissen, sie wollen Rhetorik, sie wollen – Seminarscheine. Sie werden es ihr nie verzeihen, dass sie es gewagt hat, Zweifel an der Literaturwissenschaft anzumelden. Ihre Fragen an den Seminarsitzungen bewiesen außerdem, wie wenig sie die eigenwilligen Vorlesungen von Ingeborg Bachmann verstanden hatten. […] Am Pult stand keine Germanistin, da stand eine Dichterin. Sie war für akademische Begriffe total unkonventionell. Sie behandelte in zwangsloser Folge Fragen der Literatur, die vielleicht auch sie bewegten.9 6 Bachmann, Ingeborg: Die kritische Aufnahme der Existenzialphilosophie Martin Heideggers. (Dissertation, Wien). Hg. von Robert Pichl. München: Piper 1985. Im Folgenden als KA verkürzt. 7 Wittgenstein unterscheidet zwischen „Sätzen“ und „Scheinsätzen“. Laut seiner These sind die Sätze der traditionellen Metaphysik nur Scheinsätze, die über das Wesen der Welt nichts aussagen können. 8 von der Lühe, Irmela: „Ich ohne Gewähr. Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen zur Poetik.“ In: Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Irmela von der Lühe und Inge Stephan. Hamburg / Berlin: Argument 1982, S.106-131., hier S.109. 9 Tilliger, Ruth: „Alles blieb ungesagt.“ In: Über Ingeborg Bachmann. Rezensionen-Porträts-Würdigungen (1952-1992). Rezeptionsdokumente aus vier Jahrzehnten. Hg. von Schardt Michael. Paderborn: Igel Verlag 1994, S.454-458., hier S.456. 5 Dass die Frankfurter Poetikdozentur Bachmanns beinahe in einen Skandal gemündet hat, mag dahingestellt sein. Relevanter scheint, dass heute ihre Essays über die Literatur sehr oft bei der Auslegung ihrer Werke als Stützpunkte oder Kommentare herangezogen werden, ohne Bachmanns Haltung während der Vorlesungen und Seminare mit einzubeziehen (und hier ist nicht ihr Äußeres gemeint, wie z.B. das Herumhantieren mit Taschentüchern, Brillen, Zigaretten und Manuskript): Eine Haltung, die auf die Verweigerung jeglicher Werkanalysen und jeglichen „Etikettierens“ beharrt. Nein, sie wolle nicht interpretieren10, weil wenn sie es tun würde, würde sie genau das unterminieren, worauf sie in den Vorlesungen hinaus wollte: Dem wissenschaftlichen Bild der Literatur als „offizielle Denkmalpflege“ und als „inoffizieller Terror“ (W4, S.258.), oder sogar als etwas Vergangenes und Abgetanes entgegenzuwirken und einen neuen Literaturbegriff zu stiften, der die Literatur als „ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen“ (W4, S.258.) begreift, das „keine Zielbänder“ kennt. Bachmann beabsichtigt weder sich in den offiziellen Rahmen der von Germanisten praktizierten Literaturwissenschaft zu begeben, noch ein Werk auf eine Bedeutung hin festzulegen, die während einer Prüfung als Offenbarung aus einem vorgefertigten Materialvorrat wiedergegeben werden könnte. Es gibt doch „kein objektives Urteil über Literatur, nur ein lebendiges“ (W4, S.259.). Bachmanns neuartige Annäherung befreit die Literatur von den klassischen Strukturierungen der Literaturgeschichte, von deren institutionalisierter „Klassifikationswut“11 und geschlossenem „Einteilungswahn“ und setzt sie als Utopie frei, der nicht nur das „Vergangene und das Vorgefundene“, sondern auch „das Erhoffte, das Erwünschte“ und „das noch Hinzugewinnende“ bereits innewohnen, weil „ihre ganze Vergangenheit sich in die Gegenwart drängt“(W4, S.259.). Mit dem neuen Literaturbegriff verknüpft sie die Konzeption einer „neuen Sprache“ und eines „neuen Gedichtes“, die nun in ihren Grundzügen zu charakterisieren wären, ohne in die Falle des Adjektivs „neu“ zu gehen und sich von der Gegenbewegung der verschiedenen Richtungen des „Alogischen, Absurden, Grotesken, anti, dis- und de-“ verführen zu lassen. Weil „[d]as Wunschbild der Aliteratur gehört eben auch in die Literatur […] eine Aliteratur findet innerhalb der Literatur statt.“ (W4, 260.) Mit dem in der ersten Vorlesung zitierten „Brief“ des Lord Chandos von Hofmannsthal beginnt für 10 „Nein, ich möchte nicht interpretieren“ – erwidert Bachmann auf die Forderung der Studenten, traditionelle „Werkanalyse“ zu treiben. Ebd., S.457. 11 So Bachmann über Literaturkritiker in dem Interview mit Kuno Raeber, Januar, 1963. In: GuI 1991, S.41. 6 Bachmann eine „Abwendung vom Ästhetizismus“ (W4, 188.) und eine radikale Zuwendung an etwas, was sie als neues Denken beschreibt: Denn die wirklich großen Leistungen dieser letzten fünfzig Jahre, die eine neue Literatur sichtbar gemacht haben, sind nicht entstanden, weil Stile durchexperimentiert werden wollten, weil man sich bald so, bald so auszudrücken versuchte, weil man modern sein wollte, sondern immer dort, wo vor jeder Erkenntnis ein neues Denken wie ein Sprengstoff den Anstoß gab – wo, vor jeder formulierbaren Moral, ein moralischer Trieb groß genug war, eine neue sittliche Möglichkeit zu begreifen und zu entwerfen. (W4, S.191.) Die Literatur und die Sprache kann daher nicht „formal“ an sich neu gestaltet werden, wie das die Vertreter des l’art pour l’art wünschten, sondern sie können lediglich von innen, d.h. durch einen moralischen Antrieb verändert werden. Nicht nur die Gedanken von Karl Kraus – „Alle Vorzüge einer Sprache wurzeln in der Moral.“ –, die Bachmann in der zweiten Vorlesung zitiert, sondern auch die von Robert Musil hallen in der oben zitierten Textstelle wider. Bachmann hebt in ihrem Essay Ins tausendjährige Reich (1954) von Musils Opus Der Mann ohne Eigenschaften das „theoretisch anmutende Unternehmen“ hervor, das Denken und Handeln mittels „einer neuen Moral“ und „eines neuen Glaubens“ zu reaktivieren. (W4, S.25.) Musil „macht sich nicht auf schmerzliche Suche nach dem verlorenen Glauben und der verlorenen Moral, sondern experimentiert mutig […] an der Entfesselung geistiger Atomenergie und macht Kräfte frei“. (W4, S.25.) An diesen neuen Geist, an diese neue Moral denkt Bachmann, wenn sie die neue Sprache in Fragen und Scheinfragen als „ein[en] moralische[n], erkenntnishafte[n] Ruck“(W4, S.192.) definiert und einem rein formalen Ästhetizismus gegenüberstellt. Dieser „moralische“ Antrieb „vor aller Moral“ besitzt eine Stoßkraft, die das dichterische Denken in die einzig gute Richtung schleudert, die von Wortwahl über Stil bis hin zu den Problemkonstanten alles bestimmen wird. Die neue Sprache muss „eine neue Gangart haben, und diese Gangart hat sie nur, wenn ein neuer Geist sie bewohnt.“ (W4, S.192.) Das Wort „Gangart“, das sich als ständiges Fortbewegen und Suchen versteht, verbindet in einem Begriff das Denken, das Sprechen und das Gehen und lässt als ein im Moralischen fundiertes Richtungsnehmen sowohl die Schriftsteller als auch die Literatur in ein neues, d.h. utopisches Rechtsverhältnis mit der Sprache treten: Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert und die wir nachahmen. (W4, S.270.) 7 In diesem Sinne wird selbst die Literatur in ein ständiges Unterwegssein gezwungen, unterwegs zu der „neuen Sprache“, die sich „an einem Ziel [orientiert], das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt.“ (W4, S.276.) Was aber impliziert eine Literatur als Utopie, was eine neue Sprache, die das Denken und Handeln reaktiviert? In den Frankfurter Vorlesungen gibt Bachmann nur die Stichworte an, die in dem Schriftsteller als „utopische Existenz“ die „utopische“ Voraussetzung der Werke sehen (W4, S.271.), oder die die Poesie als Brot definieren, die „scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein [muss], um an den Schlaf der Menschen rühren zu können“. (W4, S.197.) Was Bachmann darunter versteht, wie sie die Menschen aus ihrem Schlaf herauszuführen vermag, ist sowohl im radikalen Ton ihrer Werke, in deren ununterbrochenen An- und Aufrufungen eingeschrieben als auch in ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (1959) detailliert dargelegt, wo sie für den Schriftsteller die Aufgabe des Sichtbarmachens stellt, damit den Menschen „die Augen aufgehen“. (W4, S.275.) Bachmanns Poetik ist folglich eine, die die Wahrheit den Menschen zumuten will, und dafür bis zum Äußersten zu gehen, die Grenzen zu überschreiten, immer bereit ist. Grenzüberschreitung ist in diesem Sinne eine poetische Notwendigkeit, die Voraussetzung dessen, was sie utopisches Schreiben nennt. Nicht zufällig findet sie für dieses literarische Unternehmen ein Vorbild in dem österreichischen Autor Robert Musil und dessen Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der in der inzestuösen Beziehung von Ulrich und Agathe an einem „anderen Zustand“ als Grenzübertritt experimentiert, in dem die konventionellen Gesellschaftsstrukturen ihre Gültigkeit verlieren und sich „alle Formen“ auflösen. „Musils Richtbilder“ – so Bachmann – „zwingen uns, nachzudenken, genau zu denken und mutig zu denken“ und führen uns „aus einem schablonenhaften und konventionellen Denken“ (W4, S.28) hinaus. Musils Held Ulrich, der mit dem „Möglichkeitssinn“ ausgestattet, die alten moralischen Werte der Gesellschaft als „Funktionsbegriffe“ entlarvt und dadurch auf die Gefährdung eines Denkens „in geschlossenen Ideologien“, das „direkt zum Krieg führt“ (W4, S.27.) aufmerksam macht, kann gerade jene „Zumutung“ realisieren, die Bachmann von den neuen literarischen Werken erwartet. Bachmanns Texte zeichnen sich ebenso durch den Zerstörungswillen der erstarrten Gesellschaftsstrukturen aus, der sich mit einer bisher unbekannten Kühnheit und Rückhaltlosigkeit zu Wort meldet. Demgemäß gilt als Hauptfragestellung von Bachmanns Hörspiele und ersten Erzählungen, wie sich das Individuum dem gesellschaftlichen Zwang 8 gegenüber behaupten kann, wie die alte, auf das Gesetz des Nom du Père12, d.h. des Logos und der symbolischen Bedeutungen zentrierte Ordnung überwunden und zerstört werden kann, ohne unwiderruflich außerhalb der Welt zu geraten. Die Hörspiele Der gute Gott von Manhattan (1957) oder Die Zikaden (1954) zeigen die Gefahren des vollkommenen Austrittes aus dem Kreislauf der Welt. Hier muss Robinson die Absurdität seines Rückzugs aus der Welt neu bedenken, dort muss eine aus der „neuen Welt” stammende junge Dame, Jennifer geopfert werden, damit ihr ekstatisches Liebesgefühl die Welt nicht aus ihrer gewohnten Bahn wirft. Das Hörspiel Die Zikaden variiert mit ironischem Unterton den Topos der Inselutopien: Schauplatz und Zeitangabe des Hörspiels sind modellhaft, indem sie zwar einen „Ausnahmezustand“ bezeichnen, aber diesen mit einem negativen Zeichen besetzen. Im Mittelpunkt steht eine von Wasser umgebene Insel, deren Bewohner von absurden Wunschbildern geplagt sind. Auf der Insel ist die Zeit in Bewegungslosigkeit eingefroren: es ist Mittag, außer Robinson, Benedikt und dem Gefangenen ist jeder im tiefen Schlaf. Nur der Gesang der Zikaden ist als Warnzeichen zu hören. Die Dialektik von Robinson und dem Gefangenen zeichnet den Gegensatz zwischen den Ideen der Freiheit contra Gefangenschaft, Austritt aus der Welt contra Rückkehr in die Welt antagonistisch nach. Das Ende des Hörspiels stellt anhand des von Platon geprägten Mythos der Zikaden die bitteren Konsequenzen des Austrittes aus der Ordnung dar: Denn die Zikaden waren einmal Menschen. Sie hörten auf zu essen, zu trinken und zu lieben, um immerfort singen zu können. Auf der Flucht in dem Gesang wurden sie dürrer und kleiner und nun singen sie, an ihre Sehnsucht verloren-verzaubert, aber auch verdammt, weil ihre Stimmen unmenschlich geworden sind. (W1, S.268.) Diesem „Zikaden-Schicksal“ wird eine sinnvolle Tätigkeit innerhalb der Gesellschaft gegenübergestellt: „Willst du nicht aufstehen und sehen, ob diese Hände zu gebrauchen sind? […] Such nicht zu vergessen! Erinnere dich und der dürre Gesang deiner Sehnsucht wird Fleisch!“13 (W1, S.267.) Das mit den Inselbewohnern geteilte Los des Erzählers beleuchtet nicht nur die Sinnlosigkeit des Austrittes, sondern macht auf die Gefahren einer „Kunst für sich”, ohne moralischen Hintergrund aufmerksam.14 Diese Erkenntnisse nehmen Bachmanns später entstandene Essays vorweg (die genannten Frankfurter Vorlesungen, Kriegsblinden-Preisrede), die zwischen littérature 12 Ein Begriff von Jacques Lacan. Laut seiner Theorie basiert die symbolische Ordnung der patriarchalen Gesellschaft auf dem „Namen des Vaters“, also auf dem Gesetz des „symbolischen Vaters“. 13 Vgl. die Überlegungen der namenlosen Hauptfigur der Erzählung Das dreißigste Jahr: „Er suchte nach einer Pflicht, er wollte dienen. Einen Baum pflanzen. Ein Kind zeugen.“ In: W2, S.106. 14 Vgl. auch Sigrid Weigel: „’Ein Ende mit der Schrift, ein anderer Anfang.’ Zur Entwicklung von Ingeborg Bachmanns Schreibweise.“ In: Text + Kritik: Ingeborg Bachmann. München: 1984, S.58-92., hier S.63. 9
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