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Draußen: Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart PDF

304 Pages·2016·4.458 MB·German
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Johannes Springer, Thomas Dören (Hg.) Draußen Johannes Springer, Thomas Dören (Hg.) Draußen Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart DerDankderHerausgebergiltderProfessurfürMediensoziologiean derJustus-Liebig-UniversitätGießenfürdiefinanzielleUnterstützung der Publikation. FürLayoutundgeduldigeUnterstützungdesProjektesgiltunserDank Judith Gärtner. BBiibblliiooggrraaffiisscchhee IInnffoorrmmaattiioonn ddeerr DDeeuuttsscchheenn NNaattiioonnaallbbiibblliiootthheekk DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ©© 22001166 ttrraannssccrriipptt VVeerrllaagg,, BBiieelleeffeelldd DieVerwertungderTexteundBilderistohneZustimmungdesVer- lagesurheberrechtswidrigundstrafbar.DasgiltauchfürVervielfälti- gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbei- tung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Jennifer Thiel, New York, 2010 Gestaltung & Satz: Judith Gärtner Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-1639-2 PDF-ISBN 978-3-8394-1639-6 GedrucktaufalterungsbeständigemPapiermitchlorfreigebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhaltsverzeichnis 7 E inleitung Johannes Springer und Thomas Dören 25 V on einem Berglöwen gefressen werden. Die Natur als Widerständigkeit in der utopischen Literatur Millay Hyatt 35 V erloren in einem diamantenen Tag? Die onto logische Unbestimmtheit der Hippie-Kultur und ihre Remediatisierung im New Weird America. ­Eine­­kultur-­und­medientheoretische­Reflexion­­ auf Vashti Bunyans Stimme Jochen Bonz 65 » The newness, the newness of all«. Intensitäten und Kartierungen von Naturerfahrung im US-amerikanischen Indie Folk Thomas Ebke 97 Den Kopf auf dem Land freibekommen? Eine Relektüre künstlerischer »Zurück zur Natur«- Experimente­der­70er­Jahre Keith Halfacree 119 Musikfestivals als »zyklische Orte«: Fairport’s­Cropredy­Convention Chris Anderton 139 » Du solltest jetzt eigentlich groß genug sein«: Homosoziale Bindungen und die Männlichkeit der Wildnis in Ken Keseys Manchmal ein großes Verlangen Jill E. Anderson 163 Z wischen Bären und Hipstern: Vollbärte­im­Kontext­geschlechtlicher­und­­sexueller­ Identitäten­in­den­westlichen­2000ern Thomas Dören 183 D as ist nicht unser Land: Das Kino von Ben Rivers Michael Sicinski 199 E ine natürliche Welt in der künstlichen. Die mythisierte Wildnis in Sean Penns Into the Wild Benjamin Moldenhauer 215 N aturpornografie­in­Avatar Dan Podjed 235 D ual Nature – Pop Art und der Ursprung eines kritischen Naturbegriffs Tobias Lander 259 A ufbruch in die Höhe. Ein naturnaher Erfahrungsbericht Elke Krasny 275 » Im Pop kann es ›Natur‹ nur ›Over the rainbow‹ geben« Ein Interview mit Didi Neidhart. Von Johannes Springer 301 Autor_innen Einleitung JOHANNES SPRINGER UND THOMAS DÖREN Im Rückblick auf das erste Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zeigen sich Charakteristika dieser Zeit, die im alltäglichen Erleben als Selbstver- ständlichkeiten erscheinen. Einen solchen Topos unserer Zeit bildet zweifellos das Thema »Natur«.1 In enormer Massierung fanden in den vergangenen Jahren symbolische Einschreibungen in Natur von thema- tisch andockender Literatur, Musik, Bild-Medien, Mode und anderen sozialen und kulturellen Aktivitäten und Bewegungen statt.2 Nicht nur auf der Ebene der kulturellen Produktion hat also ein »greening« statt- gefunden, auch in der akademischen Diskussion dieser Felder haben sich insbesondere Ideen und Konzepte der Ecomusicology, des Ecocriticism und Green Cultural Studies Geltung verschaffen können.3 Vorliegendem 1 Von Natur als erster oder ursprünglicher Natur ist dabei erwartbar selten die Rede. Siehe hierzu u. a. Clark Ausführungen zu »Post-Nature« (2014) oder Mortons Idee von »Ecology without Nature« (2009), die Ideen wie Authentizi- tät, Reinheit, Ganzheit stark in Frage stellen. 2 Wir folgen hier Kleiners Skizzierung von Pop als Feld bzw. kultureller For- mation, die u. a. »Musik, Mode, Sexualität, Jugend, Filme, alltägliche Macht- kämpfe oder Szenebildung angeht.« (Kleiner 2011 46f). 3 Gerade für den Bereich der Ecomusicology trifft dies zu, wo es nun ein Ausgreifen des Ansatzes von Klassikeranalysen zu z. B. Grateful Dead (vgl. Kopp 2009) auf Avant-Pop wie James Ferraros Hypnagogic-Kompositionen (Ottum 2014) oder Joanna Newsoms Folk-Interpretation (Coleman 2014) gibt, wo vorher Pedelty (2012) oder Ingram (2010) Grundlagenarbeit betrieben. Ge- rade im Bereich von Popmusik als (Performance-)Industrie gibt es eine Legion an aktuellem Schrifttum. Zuletzt: Zifkos (2015) und Green et al (2015). Für andere Felder siehe z. B. Hochman (1998). 7 Draußen — Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart Buch geht es darum, zu eruieren, welche popkulturellen Schneisen in den letzten Jahren hin zur »Natur« beziehungsweise durch das Dickicht der Naturalisierung geschlagen wurden. Pop scheint uns dabei als Parameter zur Auseinandersetzung mit dem Dispositiv »Natur« in besonderem Maße geeignet zu sein. Zeich- nete sich Pop in den vergangenen 60 Jahren doch beständig durch eine interessante Doppelfunktion aus. Zum einen wirkte Pop als besonders feiner Seismograph, der gesellschaftliche Entwicklungen dadurch an- zeigte, dass er sie in die Zuspitzung führte und überdeutlich ausstellte. Zum anderen entwickelte die Popkultur Alternativen; man denke hier etwa an die großen Popsubkulturen wie die Mods, die Hippies und Punk und ihre gegenkulturellen Weltartikulationen und Werte. Ermutigt durch irritierende Umgangsweisen mit »Natur«, etwa in den musikalisch-sozi- alen Experimenten im Dunstkreis des »New Weird America« (vgl. Keen- an 2003) oder Jewelled Antlers (vgl. Stoppelkamp; Werthschulte 2007), in der Mode Cosmic Wonders (vgl. Momus 2007), in den Fotografien Mark Borthwicks (vgl. Springer 2010), in Peter Coffins Installationen, in Hipster- und queeren Vollbärten (vgl. Dören 2008), in der Renaissance von Denkern wie William Morris durch zeitgenössische Pop-Figuren wie Jeremy Deller oder Darren Hayman, in publizistischen Reihen wie Judith Schalanskys »Naturkunden«, in Filmen Ben Rivers’, Kelly Reichardts, Matthew Lessners (vgl. Springer 2011) oder im Multimedia-Phänomen Will Oldham fanden wir auch bezüglich des generellen Umgangs des Pop mit »Natur« eine entsprechende Doppelfunktion. Und entsprechend: einen besonders vielschichtigen, eigenwilligen und komplexen Umgang mit dem Phänomen. Das Thema gewinnt insbesondere dadurch an Kom- plexität, dass in dieser Naturthematisierung Pop-Prämissen, wie sie etwa Hecken 2012 (S. 96ff) in Abgrenzung zur Populärkultur unter dem Stich- wort Künstlichkeit als zwingende Voraussetzung von Pop formulierte, interessante Varianten erfahren (vgl. z. B. Dören und Neidhart in diesem Band dazu). Zwei wesentliche Beiträge, die zum Ende der Nullerjahre erschie- nen und den Versuch machten, diese popgeschichtlich und theoretisch zu sortieren, waren die weithin diskutierten Bücher zu »Retromania« von Reynolds (2012) auf der einen Seite, Greif (2010, 2011) zum Hipster auf der anderen. Beide thematisieren die popkulturelle Naturbegeisterung dieses Jahrzehnts an zentralen Stellen. Der ansonsten seine recht kultur- pessimistische These von Stagnation und der erstickenden Übermächtig- keit des Vergangenen ausbreitende Reynolds liest den amerikanischen Free-Folk mit seinen Bärten, das »Hinterwäldlerische und Gegenkultu- 8 JOHANNES SPRINGER UND THOMAS DÖREN — Einleitung relle vereinigenden« Orten und mit freien Folk-, Drone-, Free-Jazz-Jams aufwartenden Acts als zumindest ansatzweise das Pendant zum briti- schen Hauntology-Genre (vgl. Reynolds 2012: 311) Ruft man sich in Erinnerung, welche Vergangenheit die britischen Hauntologen in einem Akt von »radical nostalgia« (Bonnett) evozieren, nämlich den technokra- tischen Fortschrittsoptimismus der Nachkriegsjahrzehnte, den »popular modernism« (Fisher), Wohlfahrtsstaat und seine kulturellen Regulations- weisen, dann wird deutlich, wie man diese tentative Analogisierung auch deuten könnte: Free Folk und sein in verschiedenen Formen mit Natur spielendes Zeichenrepertoire als eine Kritik neoliberaler Gegenwart ins- besondere gentrifizierter amerikanischer Großstädte, in denen kollekti- ves Handeln und Leben, wie es diese »Horden« (vgl. Diederichsen 2005) nun performen, immer schwerer geworden ist, über den Umweg radi- kaler Nostalgie.4 Spiegel kommt in seinen umfangreichen, auf Keenans Pionierarbeit aufbauenden, empirischen Arbeiten zu dieser Szene (2012, 2013) zu ähnlichen Folgerungen: »How can ›free folk‹ be described in, or linked to, explicitly political terms? I presented ideas from a variety of texts that see these scenes especially as they manifested and accumu- lated in the mid-2000s) as a »spiritual community of values« fostering a collectivity and creativity that’s opposed to ›Corporate America‹ and a (neo-)conservative articulation of politics and society. Artistic collabo- ration, mutual care, a DIY ethos and a great musical or sonic openness opposing repressive or at least hegemonic form are combined into an al- ternative model of musical-social practice. But the actual chances of such an assemblage’s ›success‹ are hard to delineate.« (Spiegel 2013: 178) 4 Neidhart spricht in diesem Band zu diesem Zusammenhang eher kritisch von »Resignationsorten«. Der Zusammenhang zwischen Gentrifizierung von Innenstädten und kreativen Migrationsbewegungen jedenfalls ist ein vieldis- kutiertes Thema, im Speziellen für den Fall NYC/Upstate NY bzw. das Hudson Valley (vgl. Nevarez 2015). Ein Gegenbegriff zum »Resignationsort« könnten die »Aufstandsdörfer« sein, von denen Maak in seiner Beschreibung der Plä- ne der »ruralen Futuristen« um die französischen Polit-Aktivisten und Theore- tiker von Tarnac zu erzählen weiß (Maak 2016: 21). Über diese schreibt Maak, sie glaubten, »dass das Land ihnen mehr Freiheit gibt, dass dort andere, we- niger dicht an den globalen Kapital- und Informationsströmen entlanggehäkel- te Lebensentwürfe besser erprobt werden können als in der Großstadt, in der das Leben immer teurer, langweiliger und kontrollierter wird. Das Dorf nicht als Rückzugsort, sondern als utopische Keimzelle einer neuen Gesellschaft, die in den musealisierten Städten nicht mehr entstehen kann« (ebd.). 9 Draußen — Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart Deutlich problematischer bewertet Greif mit seiner Idee des grünen bzw. primitiven Hipsters als »rebellischem Konsumenten« das Auftauchen von Naturreferenzen in adoleszenten und post-adoleszenten Popmilieus ab der Mitte der Nullerjahre (vgl. Greif 2011: 12 und ausführlicher Greif 2010). Für ihn ist der Hipster Gentrifizierer, Konsument und Komplize des neoliberalen Projekts, nicht zuletzt indem er sich als distinktiver Ein- käufer auf dem Markt gegenkultureller Motive bedient, ohne diese durch entsprechende Werte untermauern zu können. In seiner Periodisierung des zeitgenössischen Hipsters sieht er den grünen Hipster mitsamt seiner kulturellen Welt an Bands mit Tiernamen, Videoarbeiten mit pastoralem Setting, demonstrativer Fahrradnutzung und ruralen Modestücken zwar als Verbesserung zum »weißen«, auf white trash-Kultur des Mittleren Westens rekurrierenden Hipster der frühen Nullerjahre, für eine pro- gressive Kraft hält er ihn als Sozialfigur jedoch nicht. Greif steht hier stellvertretend für eine Position, wie man sie in vielen Beiträgen zum Thema vertreten sieht. Nicht immer so überzeugend vorgetragen wie bei Modrak (2015), die das Auftauchen von Designer-Äxten in NYC zum Anlass nimmt, Fragen von Männlichkeit, Authentizität und Arbeit im Zusammenhang mit zeitgenössischem Naturkonsum zu hinterfragen. In ihrem interventionistischen Culture Jamming kreiert sie eine Kampagne für einen »artisanal plunger« und macht so kontrastierend auf die spe- zifischen Konnotationen von mit Wildnis und Natur verbundenen Ob- jekten aufmerksam.5 Etwas vage bleibt bei ihm in der Folge jedoch die motivische Erklärung des Auftretens dieser Naturbilder, wenn er erklärt: »In den Texten und Videos ging es um ländliche Rückzugsorte, wilde Strände und tiefe Wälder. Das Leben schien dieser Kunst plötzlich lie- benswert und überschaubar, die Zukunft glänzend und kontrollierbar. Es war nicht unüblich, dass Musiker plötzlich Tiermasken und die dazu passenden Plüsch-Kostüme trugen« (Greif 2011: 12). Die Natur also als reine und kindliche Idylle? Vielleicht verhindert an dieser Stelle Greifs a priori Ablehnung eine Anerkennung der Komplexität des grünen Hips- ters. Schaut man sich dagegen einen der für unser Thema interessantes- ten Filme der Nullerjahre, Matthew Lessners The Woods, an, in dem der 5 Insbesondere Modraks Überlegungen zum Status von Arbeit, Handwerk und Natur in der Gegenwart sind bedenkenswert: »This project considers the slipperiness of brand identity that suggests consumers can move comfort- ably between contradictory selves: between the urban and rural, worker and manager, farmer and craftsman, maker and consumer, luxury object and func- tional tool, and between a work of art and a commodity.« (Modrak 2015: 556) 10

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