1 Kurzbiografien1 ABAEV, Vaso Ivanovič (15.12.1900–18.03.2001) – in Kobi (Georgien) geborener ossetisch-sowjetischer Linguist. Spezialist für ossetische und iranische Sprachen. ABBOT, Francis Ellingwood (06.11.1836–23.10.1903) – US-amerikanischer Philosoph und Theologe. 1859 Philosophiestudiums an der Harvard University und 1860–1863 Studium der Theologie an der Meadville Theological School als Bester seiner Klasse. 1864 Ordination für die Unitarian Church of Dover/New Hampshire, später für die Unitarian Society of Toledo/Ohio. Seine philosophischen Aufsätze The Philosophy of Space and Time (1864) bzw. Theism and Christianity (1865) und seine Aktivität als Begründer der „Free Religions Association“ (1867) machten ihn zum ersten amerikanischen Philosophen, der Darwins Evolutionstheorie akzeptierte. Naturgesetze und evolutionäre Anpassung war für ihn die Grundlage der Einheit des Universums und der wechselseitigen Harmonie aller Tatsachen und Wahrheiten. Die Gemeinschaft der Natur, die Gott und Mensch umfasst, könne seiner Meinung nach mithilfe der wissenschaftlichen Methode höchst fruchtbar erforscht werden. Eine erweiterte Definition von Wissenschaft, die Religion und Theologie integriert, könne den Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion überwinden. 1868 wurde er vom Obersten Gerichtshof New Hampshire wegen seiner Auffassung von „Free Religion“ bzw. „Scientific Theism“ der Blasphemie bezichtigt und mit Kirchenverbot belegt. In der darauf folgenden heftigen öffentlichen Kontroverse nahmen Charles Sanders Peirce (10.09.1839–19.04.1914) und William James (11.01.1842–26.08.1910) Partei für Abbot. 1870 Gründung des The Index, einer Zeitschrift mit einer radikalen religiösen und sozialen Philosophie, in der er zur Vereinigung aller Liberals Leagues aufrief. 1876 erfolgte dieses Treffen in Philadelphia, und Abbot wurde zum Ständigen Präsidenten der National Liberal League gewählt. 1880 trat er als Herausgeber des Index zurück, um an der Harvard University Philosophie zu studieren. 1881 Promotion zum Dr. phil. in Harvard. 1881–1892 lehrte er an einem Knabengymnasium in Cambridge/Mass. Er starb durch Selbstmord auf dem Grab seiner Frau. Wichtigste Publikationen: Abbot, F. E. (1885) Scientific Theism, University Press, John Wilson and Son, Cambridge (MA). Abbot, F. E. (1890), The Way Out of Agnosticism, or the Philosophy of Free Religion, London: MacMillan and Co, and Cambridge, USA: University Press: John Wilson and Son ABDERHALDEN, Emil (09.03.1877–05.08.1950) – Schweizer Physiologe. Mitbegründer der Proteinbiochemie. 20. Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle von 1932–1950. 1895 Beginn des Medizinstudiums in Basel, Promotion 1902 bei Gustav von Bunge, 1902 Assistent bei dem späteren Nobelpreisträger Emil Fischer an der Universität Berlin. 1904 Habilitation bei Wilhelm Engelmann. 1908 Professur für Physiologie an der Tierärztlichen Hochschule Berlin und Übernahme der Leitung des Physiologischen Instituts. 1911 Wechsel nach Halle. Weitere Berufungen nach Wien, Zürich und Bern schlug er aus. 1912 Mitglied der Leopoldina. Im Ersten Weltkrieg Koordinator der Verwundetentransporte. 1915 Gründer des Bundes zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft, der vor allem der Sicherung der Ernährung im Ersten Weltkrieg diente. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten trat Abderhalden 1934 dem NS-Lehrerbund bei und setzte sich auch öffentlich für die „neue Gesundheitspolitik“ der Nationalsozialisten ein. Nachdem er zur Zeit der Weimarer Republik bereits die Sterilisation von Erbkranken gefordert hatte, begrüßte er das nationalsozialistische Gesetz zur Zwangssterilisation. Er kehrte nach 1945 in die Schweiz zurück, lehnte eine Rückkehr nach Halle wie auch einen Ruf nach Leipzig ab und lehrte bis 1947 Physiologische Chemie an der Universität Zürich, wo er 1950 starb. ACH, Narziß Kaspar (29.10.1871–25.07.1946) – deutscher Psychologe, Vertreter der Würzburger Schule. Studium der Medizin und Philosophie, 1895 Promotion zum Dr. med. in Würzburg. Tätigkeit zunächst als Schiffsarzt, später an der Psychiatrischen Klinik und am Psychologischen Labor bei Emil Kraepelin (1856–1926) in Heidelberg. 1899 Promotion zum Dr. phil. bei →Oswald Külpe in Würzburg. 1 Die Liste der in den Kurzbiografien verwendeten Abkürzungen befindet sich am Ende der Datei. 2 Danach arbeitete er am Psychologischen Institut in Würzburg und am Philosophischen Seminar in Göttingen bei Georg Elias Müller (1850–1934). Nach Habilitation 1902 und zwischenzeitlicher Tätigkeit in Marburg und Berlin 1907 Professor für Philosophie und Direktor des Philosophischen Seminars in Königsberg, 1922 Professor für Philosophie und Psychologie in Göttingen. 1910–1939 Herausgeber der Untersuchungen zur Psychologie und Philosophie. 1929–1936 Mitglied des Vorstands der DGfPs. Hauptgegenstand seiner Forschung war der Wille. Ach prägte die Begriffe „determinierende Tendenz“ und „Bewusstheit“. Er war ein hervorragender Erfinder und Konstrukteur von Forschungsgeräten und besaß mehr als 50 Patente. Publikationen: Über die Willenstätigkeit und das Denken, 1905 Über den Willensakt und das Temperament, 1910 Über die Begriffsbildung, 1921 Analyse des Willens, 1935 ADLER, Alfred (07.02.1870–28.05.1937) – österreichischer Arzt und Psychotherapeut; Begründer der Individualpsychologie. Nach dem Abitur 1888 Medizinstudium in Wien, Promotion 1895. 1897 Heirat mit Raissa Timofeevna Epstein. Kurze Tätigkeit als Augenarzt, dann Praxis für Allgemeinmedizin. Besuchte seit 1902 →Sigmund Freuds Psychologische Mittwoch-Gesellschaft, entwickelte aber bald seine eigene, von Freuds Psychoanalyse abweichende Lehre, die 1911 zum Bruch mit Freud führte. Deren Grundlagen hatte er bereits 1907 veröffentlicht und in seinem theoretischen Hauptwerk 1912 ausgebaut. Der Mensch ist nicht, wie bei Freud, von Trieben bestimmt, sondern ein freies Wesen; er muss die kulturellen Aufgaben lösen, die ihm das Leben stellt. Gründete 1912 den Österreichischen Verein für Individualpsychologie; 1914 die Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie. Während des Ersten Weltkriegs 1914–1916 Arbeit als Militärarzt in Krakau, Brünn und Wien. Im Rahmen der Wiener Schulreform eröffneten Adler und seine Mitarbeiter ca. 30 Erziehungsberatungsstellen. 1920 Direktor der ersten Klinik für Kinderpsychologie in Wien; Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer am Pädagogium der Stadt und Vorlesungen an der Volkshochschule. 1922 fand in München der Erste Internationale Kongreß für Individualpsychologie statt. 1926 Gastprofessur an der Columbia University, 1932 Professor für medizinische Psychologie am Long Island Medical College in New York. In seinem 1933 erschienen Alterswerk Der Sinn des Lebens fasste Adler die philosophischen Grundlagen seiner Individualpsychologie zusammen: „Nach einem Sinn des Lebens zu fragen hat nur Wert und Bedeutung, wenn man das Bezugssystem Mensch – Kosmos im Auge hat.“ 1934 Emigration in die USA. Er starb auf einer Vortragsreise in Schottland. Publikationen: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin/ Wien: Urban & Schwarzenberg 1907 Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. Wiesbaden: J. F. Bergmann 1912 Der Sinn des Lebens, 1933 ADLER (geb. Epstein), Raissa Timofeevna (09.11.1872–21.04.1962) – österreichische Frauenrechtlerin russischer Herkunft. Seit 1895 Biologiestudium in Zürich; 1896 Übersiedlung nach Wien, wo sie Alfred Adler kennenlernte, den sie 1897 heiratete. Hatte Kontakt zu russischen Emigranten; Freundschaft mit Leo Trotzki (1879–1940), 1929 Zusammenarbeit mit ihm. Mitbegründerin der Internationalen Arbeiterhilfe in Österreich, im Ausschuss der Roten Hilfe, trat der KP Österreichs bei. Anfang der 1930er Jahre im Vorstand des Vereins für Individualpsychologie. Nach den Februarkämpfen 1934 für zwei Tage verhaftet; Alfred Adler holte sie deshalb persönlich von Wien in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweilig Vorsitzende des Exekutivkomitees der Individual Psychology Association in New York; 1954 zur Vorsitzenden des Verwaltungsrates gewählt. Alekseev, Valerij Pavlovič (1929-1991) – russischer Ethnologe und Anthropologe. Er absolvierte 1952 die Fakultät des Moskauer Instituts für Orientalistik und war danach als Doktorand, später als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnographie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR tätig. Von 1988 bis 1991 war er Direktor des Instituts für Archäologie. 1981 wurde er zum 3 korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ernannt und 1987 zum Vollmitglied der Akademie gewählt. Besondere Bedeutung in seiner Forschung widmete Alekseev den Problemen der ethnischer Anthropologie und Rassenforschung (Erforschung der Menschenrassen). Er veröffentlichte eine Reihe von Arbeiten zur Kraniologie und Osteometrie und konzentrierte seine Forschungen auf die Herkunft des Menschen und der menschlichen Gesellschaft. Er entwickelte das Konzept der historischen Anthropologie, die Kombination aus ethnischer und evolutionärer Anthropologie. ANOCHIN, Pëtr Kuz’mi (26.01.1898–05.03.1974) – sowjetischer Neurophysiologe und Arzt.Seit 1915 Ausbildung an der agrar-geodätischen Lehranstalt Novočerkassk. Nach Teilnahme am Bürgerkrieg Pressekommissar und Chefredakteur der Zeitung Roter Don in Novočerkassk. Die zufällige Begegnung mit →Lunačarskij, der mit einem Agitationszug die Truppen der Südfront bereiste, und dem er seinen Wunsch mitteilen konnte, sich mit dem Studium des Gehirns zu beschäftigen, um die „materiellen Mechanismen der menschlichen Seele“ zu verstehen, wurde entscheidend für Anochins weiteren Lebensweg. Im Herbst 1921 nach Petrograd zum Studium an das von →Bechterev geleitete Leningrader Staatliche Institut für Medizinisches Wissen (bis 2011 die 1907 gegründete Staatliche Medizinische Akademie für postgraduales Studium St. Petersburg „I. I. Mečnikov“) delegiert. Schon im 1. Studienjahr unter Bechterevs Leitung verfasste er seine erste wissenschaftliche Arbeit: Vlijanie mažornych i minornych kolebanij zvukov na vozbuždenie i tormoženie v kore golovnogo mozga [Der Einfluss von Dur- und Moll-Tonschwankungen auf Erregung und Hemmung in der Großhirnrinde]. Nach dem Besuch von Vorlesungen →Pavlovs in der MMA seit 1922 Arbeit in Pavlovs Labor. 1926 Abschluss des Studiums, danach Oberassistent am Lehrstuhl für Physiologie des Leningrader Zootechnischen Instituts, ab 1928 Dozent. Formulierte 1935 erstmals die Theorie des Funktionalen Systems. „In dieser Periode meines Lebens … entstand die Konzeption, die meine wissenschaftlichen Forschungsinteressen für das ganze Leben bestimmte … es ist mir gelungen, die Theorie des funktionalen Systems zu formulieren, indem ich gezeigt habe, dass der System-Ansatz für die Lösung physiologischer Probleme der progressivste ist“. Einführung der Begriffe „sankcionirujuščaja afferentacija [sanktionierende Afferenz]“ (1935), „obratnaja afferentacija [umgekehrte Afferenz (bzw. Reafferenz)]“ (1952) sowie „obratnaja svjazʼ [Rückkopplung]“ in der Kybernetik. 1950 fand die berüchtigte „Pavlov-Sitzung“ statt, auf der die neuen wissenschaftlichen Richtungen seiner Schüler →L. A. Orbeli, Ivan Solomonovič Beritašvili (1885–1974) und Aleksej Dmitrievič Speranskij (1888–1961) kritisiert wurden. Anochins Theorie der funktionalen Systeme erfuhr scharfe Ablehnung. Er selbst wurde vom Institut ausgeschlossen und nach Rjazanʼ geschickt; dort bis 1952 Professor am Lehrstuhl für Physiologie des Medizinischen Instituts. Ende der 1960er Jahre gründete er das internationale Seminar zur Theorie der funktionalen Systeme. 1970–1974 Vorsitzender der Moskauer Physiologischen Gesellschaft. 1970 Gründer und erster Chefredakteur der Zeitschrift Uspechi fiziologičeskich nauk [Erfolge der physiologischen Wissenschaften]. In seiner letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeit 1974 Sistemnyj analiz integrativnoj dejatel’nosti nejrona [Systemanalyse der integrativen Tätigkeit des Neurons] formulierte er seine grundlegende Ideen der innerneuronalen Informationsverarbeitung. Mitglied der AMN (1945) und der AdW der UdSSR (1966). Leninpreis 1972. Publikationen: Problemy centra i periferii v fiziologii nervnoj dejatel’nosti [Probleme von Zentrum und Peripherie in der Physiologie der Nerventätigkeit]. Gor’kij 1935 Ot Dekarta do Pavlova. Trista let teorii refleksa [Von Descartes bis Pavlov. Dreihundert Jahre Reflextheorie]. Moskva 1945 Problemy vysšej nervnoj dejatel’nosti [Probleme der höheren Nerventätigkeit]. Moskva 1945 Obšcie principy kompensacii narušennych funkcij i ich fiziologičeskoe obosnovanie [Allgemeine Prinzipien der Kompensation gestörter Funktionen und ihre physiologische Begründung]. Moskva 1955 Biologija i nejrofiziologija uslovnogo refleksa [Biologie und Neurophysiologie des bedingten Reflexes]. Moskva 1968 4 Principial’nye voprosy obščej teorii funkcional’nych sistem [Prinzipielle Fragen der allgemeinen Theorie funktionaler Systeme]. Moskva 1971 Sistemnyj analiz integrativnoj dejatel’nosti nejrona [Systemanalyse der integrativen Tätigkeit des Neurons]. In: Uspechi fiziologičeskich nauk 5 (1974) 5, 5–92 ANZIEU, Didier (1923–1999) – französischer Psychologe und Psychoanalytiker. ASMOLOV, Aleksandr Grigor’evič (geb. 22.02.1949) – russischer Psychologe. Schüler und Mitarbeiter Leont’evs. Bis 1972 Psychologiestudium an der MGU. 1972–1981 Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie der Psychologischen Fakultät der MGU. 1976 Promotion, 1996 Habilitation, seit 1996 Professor. Leiter des Lehrstuhls für Psychologie der Persönlichkeit. 1988–1992 Haupt- Psychologe der Staatlichen Bildungsverwaltung der UdSSR. 1992–1998 Erster stellv. Bildungsminister der Russischen Föderation. Seit 1989 Vizepräsident der Gesellschaft der Psychologen der UdSSR an der AdW der UdSSR. Seit 1995 korr. Mitglied der Russischen Akademie für Bildung; seit 2008 Mitglied. 1999–2004 Chefredakteur der Zeitschrift Pedologija [Pädologie]. Mitglied des gesellschaftlichen Rates des Russischen Jüdischen Kongresses. Publikationen: Dejatel’nost’ i ustanovka [Tätigkeit und Einstellung]. 1979 (deutsch: 2014) Licnost’ kak predmet psichologičeskogo issledovanija [Die Persönlichkeit als Gegenstand der psychologischen Forschung]. 1984 Principy organizacii pamjati čeloveka: sistemno-dejatel’nostnyj podchod k izučeniju poznavatel’nych processov [Organisationsprinzipien des menschlichen Gedächtnisses: System- und Tätigkeitsansatz zum Studium der Erkenntnisprozesse]. 1985 Psichologija individual’nosti. Metodologičeskie osnovy razvitija ličnosti v istoriko-ėvoljucionnom processe [Psychologie der Individualität. Methodologische Grundlagen der Entwicklung der Persönlichkeit im historischen Evolutionsprozess]. 1984 (deutsch: 2014) Kul’turno-istoričeskaja psichologija i konstruirovanie mirov [Die kulturhistorische Psychologie und das Konstruieren von Welten]. 1996 Psichologija ličnosti: principy obščepsichologičeskogo analiza [Persönlichkeitspsychologie: Prinzipien der allgemeinpsychologischen Analyse]. Moskva: Smysl 2002 Po tu storonu soznanija. Metodologičeskie problemy neklassičeskoj psichologii [Jenseits des Bewusstseins. Methodologische Probleme der nichtklassischen Psychologie]. Moskva: Smysl 2002 Psichologija ličnosti: kul’turno-istoričeskoe ponimanie razvitija čeloveka [Persönlichkeitspsychologie: die kulturhistorische Auffassung der Entwicklung des Menschen]. Moskva: Smysl 2007 Vygotsky today: on the verge of non-classical psychology. New York 1998 ASNIN, Vladimir Il’ič (1904–20.11.1956) – sowjetischer Psychologe. Nachfolger Vygotskijs, Mitglied der „Char’kover Schule der Psychologen“. Studium an der AKV in Moskau, Aspirantur in Char’kov bei A. N. Leont’ev; Promotion 1936. Seit 1933 Dozent, 1944–1950 Leiter des Lehrstuhls für Psychologie am Pädagogischen Institut in Char’kov. Erarbeitete in den 1930er Jahren zusammen mit Leont’ev, →A. V. Zaporožec, →P. I. Zin enko, →P. Ja. Gal’perin und anderen die Grundlagen der psychologischen Tätigkeitstheorie. Er befasste sich insbesondere mit Problemen der praktischen Intelligenz und der Herausbildung von Fertigkeiten sowie mit der Entwicklung des Willens und der Disziplin bei Schülern. AVENARIUS [Habermann], Richard Ludwig Heinrich (19.11.1843–18.08.1896) – deutscher Philosoph. Nach dem Studium der Philosophie, Philologie und Psychologie in Zürich, Berlin und Leipzig 1868 Promotion in Leipzig mit einer Dissertation über Baruch Spinozas Pantheismus; 1876 Habilitation in Leipzig. Bereits ein Jahr später als Nachfolger Wilhelm Windelbands (1848–1915) auf den Lehrstuhl für Philosophie der Universität Zürich berufen, wo er bis zu seinem Tod lehrte. Von hier aus gab er seit 1877 zusammen mit Göring, Heinze und →Wilhelm Wundt die Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie heraus. Seine Auffassung von Philosophie, die derjenigen von Mach nahestand, bezeichnete er als Empiriokritizismus (siehe: Kritik der reinen Erfahrung. 2 Bde. Leipzig: 5 Reisland 1888–1890). Avenarius hatte großen Einfluss auf russische Intellektuelle, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Leipzig studierten, wie z.B. →A. V.Luna arskij, →A. A. Bogdanov und →V. A. Bazarov. →Lenin setzte sich in seinem Buch Materialismus und Empiriokritizismus auch mit Avenarius auseinander. BACHTIN, Michail Michajlovič (17.11.1895–08.03.1975) – russischer Literaturwissenschaftler, Kunsttheoretiker, Semiotiker und Philosoph. Entstammte einer alten Adelsfamilie. Sein Vater war Bankmanager, arbeitete in verschiedenen Städten. Daher verbrachte Bachtin seine Kindheit in Orël, Vilnius und Odessa; wichtige Erfahrungen für den späteren Sprachphilosophen. Nach dem Studium in Odessa und Petersburg (bis 1918) zwei Jahre Arbeit als Lehrer in Westrussland. Seit 1924 in Leningrad. Ende 1929 Verbannung nach Kasachstan, bis Mitte der 1930er Jahre Arbeit als Buchhalter in Kustanaj; ab 1936 in Saransk, dort bis zur Pensionierung 1961 Arbeit als Lehrer am Pädagogischen Institut. Trotz widriger Umstände produktive Phase; Arbeiten zur Romantheorie. Verfasste 1936– 1938 ein Buch über die Geschichte des Bildungsromans; das vom Verlag bereits angenommene Manuskript verbrannte während der deutschen Invasion. 1940 reichte er beim Moskauer Gorkij- Literaturinstitut seinen berühmten Rabelais-Text als Dissertation ein. Das Werk war Mittelpunkt einer wiss. Kontroverse in den 1940er Jahren; erst 1951 erhielt Bachtin den Doktor-Grad zuerkannt. Er entwickelte darin das kulturhistorische „Konzept der Karnevalisierung“: Karnevalszeit als Ventil, geduldeter Tabubruch und wichtiger Bestandteil der mitttelalterlichen Kultur; Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur wrd zeitweise aufgehoben. Die Publikation 1965 führte zur verstärkten Rezeotion seiner Werke, auch in Frankreich und den USA. Publikationen: Problemy tvor estva Dostoevskogo [Probleme von Schaffen]. Leningrad 1929 Problemy poėtiki Dostoevskogo [Probleme der Poetik Dostoevskijs]. 2., erw. Aufl. von 1929 (deutsch München: Hanser 1971) Tvor estvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura srednevekov’ja i Renessansa [Das Schaffen von François Rabelais und die Volkskultur in Mittalalter und Renaissance]. Moskva 1965 Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hrsg. u. Vorwort von Renate Lachman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987 (deutsche Ausg. von Bachtin 1965) Voprosy literatury i ėstetiki [Fragen von Literatur und Ästhetik]. Moskva 1975 Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Berlin u. Weimar: Aufbau-Verlag 1986 (deutsche, veränd. Ausg. von Bachtin 1975) Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt a. M: Fischer 1989 (spätere dt. Ausg.) BACON, Francis (22.01.1561–09.04.1626) – englischer Politiker, Jurist und Philosoph, wiss. Wegbereiter des Empirismus. Mit 13 Jahren auf das Trinity College in Cambridge, wurde zwei Jahre später zusammen mit seinem älteren Bruder Anthony in eine der vier Londoner Juristenschulen aufgenommen, ging aber nach wenigen Monaten nach Paris. 1579 Tod seines Vaters; musste zurückkehren und einen Beruf ergreifen. Deshalb Studium der Rechtswissenschaft wieder aufgenommen, 1582 abgeschlossen; Niederlassung als Rechtsanwalt. 1584 Mitglied des House of Commons (bis 1614); ab 1588 an seiner früheren Juristenschule als Lehrer tätig. Erst unter James I. gelang ihm der politische Aufstieg: 1603 zum Ritter geschlagen, 1607 Generalstaatsanwalt, 1613 Oberster Richter, 1617 Großsiegelbewahrer, 1618 Lordkanzler, erhielt den erblichen Adelstitel Baron von Verulam und wurde 1621 zum Viscount St. Alban erhoben. Wenig später unterlag er in einem Verfahren wegen Bestechlichkeit, wurde zu einer Geld- und Haftstrafe verurteilt und vom Hof verbannt – die Strafe wurde jedoch nach vier Tagen nicht mehr vollstreckt. Auf seinem Familienbesitz wieder als philosophischer und experimenteller Autor tätig; starb 1626 an den Folgen eines Experiments. Bacons Grundsatz im ersten Aphorismus des Novum Organum – das Ziel der Wissenschaft sei die Naturbeherrschung im Interesse des Fortschritts, könne aber nur mit Hilfe der Natur erreicht werden, d. h. nur, wenn man sie kenne [„Denn der Natur bemächtigt man sich nur, 6 indem man ihr nachgibt“] – bestimmte später vor allem die Aufklärung; er wird aber auch von L. S. Vygotskij und A. N. Leont’ev zustimmend zitiert. BACON, Roger (1214–1292/94) – englischer Franziskaner und Philosoph; gilt als einer der ersten Verfechter empirischer Methoden. Studium an der Universität Oxford, erwarb 1233 das Baccalaureat und ging dann nach Frankreich, um an der Universität Paris zu arbeiten, dem damaligen Zentrum des intellektuellen Lebens in Europa. Um 1245 Rückkehr nach Oxford; studierte Mathematik, Astronomie und Astrologie, Alchemie und Optik, lernte verschiedene Sprachen und befasste sich mit experimentellen Forschungen. Später trat er in den Franziskanerorden ein, der zusammen mit dem Dominikanerorden die Führung in der theologischen Diskussion übernommen hatte. Bacon hatte sich aus arabischen und griechischen Schriften sowie durch eigene Beobachtung eine ungewöhnliche Kenntnis der Wissenschaften angeeignet und versuchte nun, auf dieser Grundlage ein System der Erfahrungsphilosophie zu entwickeln, das er der Scholastik entgegensetzte. Von seinem Orden wurde er deshalb bald wegen des Verdachts auf gefährliche Lehren unter Aufsicht gestellt und durfte nur noch mit Zustimmung der Oberen veröffentlichen. Er suchte einen Förderer und fand ihn in Kardinal Guy le Gros de Foulques, der aber 1265 zum Papst Clemens IV. gewählt wurde und schon drei Jahre später starb. Für diesen verfasste er 1267/68 drei Schriften: Opus maius, Opus minus, Opus tertium. Später weitere Schriften: Communia naturalium, Communia mathematica, Compendium philosophiae. Um 1278 wurde er wegen seiner Angriffe gegen die Scholastiker unter Arrest gestellt und erst 1292 wieder entlassen. Faßte seine Thesen zusammen in einem Compendium studii theologiae, wo er die zeitgenössischen Theologen scharf kritisierte. Wurde von seinen Zeitgenossen doctor mirabilis genannt, hatte aber keine Schüler und wurde bald vergessen. BALARD, Antoine-Jerôme (30.09.1802–30.03.1876) – französischer Chemiker. Nach seiner Ausbildung als Apotheker betrieb er Forschungen über Seepflanzen – insbesondere Braunalgen – und Seetiere sowie über günstige Methoden der Entsalzung von Meerwasser und entdeckte 1826 dabei ein neues Element, das Brom, und die besondere Lichtempfindlichkeit des Silberbromids. →Louis Pasteur war einer seiner Schüler. BASOV, Michail Jakovlevič (15.11.1892–06.10.1931) – sowjetischer Psychologe und Pädologe. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Psychologie, Persönlichkeitspsychologie, Psychologie der Tätigkeit, Entwicklungspsychologie, Organisation des Verhaltens, psychologische Theorie der Entwicklung des Subjekts in verschiedenen Arten aktiver, schöpferischer Tätigkeit und Kommunikation (die später von →S. L. Rubinštejn, →V. S. Merlin, Evgenij Aleksandrovi Klimov (1930–2014), A. N. Leont’ev und anderen weiterentwickelt wurde); Erarbeitung einer Methodik für die psychologische Beobachtung von Vorschulkindern. 1909–1915 Studium am Psychoneurologischen Institut in St. Petersburg bei →V. M. Bechterev und im Psychologischen Labor des Instituts bei →A. F. Lazurskij. Im Ersten Weltkrieg zwei Jahre Militärdienst. Seit 1921 Psychologie- Vorlesungen am Petrograder Pädagogischen Institut für außerschulische Bildung. Habilitation 1922. Seit 1924 Professor für Pädologie und Psychologie am Staatlichen Institut für Wissenschaftliche Pädagogik; seit 1925 am Leningrader Pädagogischen Herzen-Institut. Basov war stark beeinflusst durch →Édouard Claparède, →Wolfgang Köhler, →Jean Piaget und →Kurt Lewin und teilte viele Gedanken L. S. Vygotskijs. Bekannt u. a. durch Arbeiten über die objektive Beobachtung von Kindern und über die Untersuchung der kindlichen Persönlichkeit in der Tätigkeit sowie durch sein Buch Allgemeine Grundlagen der Pädologie. Die ideologische Kritik an seiner Arbeit begann bereits kurz vor seinem Tod, seine endgültige Verurteilung erfolgte nach dem Pädologie-Beschluss 1936. Danach verschwanden Basovs Arbeiten weitgehend aus der sowjetischen Psychologie. Erst seit 1975 konnte V. S. Merlin die Arbeiten seines Lehrers neu herausgeben. Publikationen: Metodika psichologi eskich nabljudenij nad det’mi [Methodik der psychologischen Beobachtung von Kindern]. 1923 Opyt ob-ektivnogo izu enija detstva [Versuch eines obbjektiven Studiums der Kindheit]. Leningrad 1924 Li 7 nost’ i professija [Persönlichkeit und Beruf]. Moskva/ Leningrad 1926 Obščie osnovy pedologii [Allgemeine Grundlagen der Pädologie]. Moskva/ Leningrad: GIZ 1928 (21931); Neuausgabe: Moskva: Aleteja 2007 BASSIN, Filipp Veniaminovič (1905–1992) – sowjetischer Neurophysiologe und Psychologe. Absolvierte 1931 das Medizinische Institut Char’kov. 1931–1936 zuerst wiss. Mitarbeiter, danach Leiter des Labors in der Ukrainischen Psychoneurologischen Akademie Char’kov. Seit 1936 im VIĖM in Moskau. Arbeitete 1941/42 im psychiatrischen Krankenhaus Gannuškin und danach als Chirurg im Neurochirurgischen Rehabilitations-Lazarett in Kisega , Gebiet Čeljabinsk. 1943–1945 Leitung des elektrophysiologischen Labors des Zentralen Instituts für Psychiatrie; 1945–1977 Arbeit im Institut für Neurologie der AMN der UdSSR. 1958 Habilitation, 1960 Professor. Ehrenmitglied einer Reihe ausländischer psychologischer und medizinischer Gesellschaften. 1985 Goldmedaille der Deutschen Akademie für Psychoanalyse. Bedeutender Beitrag zur Entwicklung der sowjetischen Psychologie; u. a. Diskussionen mit A. N. Leont’ev über den Gegenstand der Psychologie (1971/72). Hauptinteressen: Neurophysiologie des Gehirns und Steuerung der Bewegung sowie die psychologische Erforschung des Unbewussten; die erneute Hinwendung der sowjetischen Psychologie zur Erforschung der Probleme des Unbewussten in den 1960er Jahren ist in großem Maße ihm zu verdanken. Er war leitender Organisator des Symposiums über Probleme des Unbewussten 1979 in Tbilisi und Herausgeber der Materialien. Publikationen: Problema „bessoznatel’nogo“ (O neosoznavaemych formach vysšej nervnoj dejatel’nosti) [Das Problem des „Unbewussten“ (Über nicht erkannte Formen der höheren Nerventätigkeit)]. Moskva: Medicina 1968 O razvitii vzgljadov na predmet psichologii [Zur Entwicklung der Ansichten über den Gegenstand der Psychologie]. In: Voprosy psichologii 1971, № 4, 101–113 K razvitiju problemy zna enija i smysla [Zur Entwicklung des Problems von Bedeutung und Sinn]. In: Voprosy psichologii 1973, № 6 Bassin, F. V./ Prangišvili, A. S./ Šerozija, A. E.: K voprosu o dal’nejšem razvitii nau nych issledovanij v psichologii (K problemam bessoznatel’nogo i sobstvenno psichologi eskoj zakonomernosti) [Zur Frage nach der weiteren Entwicklung der Forschungen in der Psychologie (Zu den Problemen des Unbewussten und der eigentlich psychologischen Gesetzmäßigkeit]. In: Voprosy psichologii 1979, № 5, 82–96 (Hrsg., mit A. S. Prangišvili, A. E. Šerozija:) Bessoznatel’noe. Priroda, funkcii, metody issledovanija [Das Unbewusste. Natur, Funktionen, Methoden der Erforschung]. 4 Bände. Tbilisi: Mecniereba 1978 (Bd. 1–3); Bd. 4: Rezul’taty diskussii [Ergebnisse deer Diskussion]. Tbilisi: Mecniereba 1985 BAZAROV [Rudnev], Vladimir Aleksandrovi (08.08.1874–16.09.1939) – russischer Philosoph, Ökonom und Publizist. 1884–1892 Gymnasium in Tula; lernte dort →A. A. Bogdanov kennen. 1892–1897 Studium an der Physikalisch-Mathematischen Fakultät der Moskauer Universität, erhielt aus politischen Gründen kein Diplom. 1900 zwei Semester Philosophiestudium in Berlin. Seit 1895 aktiv als marxistischer Sozialdemokrat, 1901–1907 Arbeit für die SDAPR, seit 1904 für die bolschewistische Fraktion. 1902–1905 erste Verbannung nach Sibirien; danach in Westeuropa. 1911 Rückkehr nach Russland, erneute Verhaftung, 1911–1914 Verbannung bei Astrachan. Nach Februarrevolution 1917 Annäherung an die Menschwiki; lehnte Oktoberrevolution 1917 ab, verließ die bolschewistische Partei. 1914–1918 Arbeit für Zeitung Izvestija, die Zeitschriften Sovremmenik [Zeitgenosse] und Novaja žiznʼ [Neues Leben]. Während des Bürgerkrieges in Char’kov und Jalta Arbeit für die menschewistische Presse. Nach dem Sieg der Bolschewiki gab er die politische Tätigkeit auf; er fand sich mit dem neuen System ab. 1921 Arbeit an der AKV in Moskau, 1922–1933 Wirtschaftsfunktionär, bei Gosplan, dem Staatlichen Plankomitee, beschäftigt. 1930 Verhaftung, Verurteilung zu fünf Jahren Haft. Nach anderthalb Jahren Haft Verbannung nach Saratov, dort wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ökonomischen Forschungsinstituts. Seit 1935 wieder in Moskau, übersetzte philosophische Texte und Belletristik für verschiedene Verlage. 8 Publikationen: Avtoritarnaja metafizika i avtonomnaja li nostʼ [Die autoritäre Metaphysik und die autonome Persönlichkeit]. In: O erki realisti eskogo mirovozzrenja [Grundrisse einer realistischen Weltanschauung]. 1904 Anarchi eskij kommunizm i marksizm [Anarchischer Kommunismus und Marxismus]. 1906 Na dva fronta [An zwei Fronten]. 1910 (gegen Lenins Kritik in Materialismus und Empiriokritizismus) BECHTEREV, Vladimir Michajlovič (01.02.1857–24.12.1927) – russischer Arzt, Psychiater, Physiologe, Neuropathologe, Psychologe und Sozialreformer. Begründer der Reflexologie und der pathopsychologischen Richtung in Russland. Nach Medizinstudium in St. Petersburg Promotion 1878. 1884 Arbeit bei den führenden Physiologen und Psychologen der Zeit: →J.-M. Charcot, Paul Flechsig (1847–1929), Theodor Meynert (1833–1892), →E. Du Bois-Reymond, Alexander Westphal (1863– 1941) und →W. Wundt. 1885 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Kazan’ berufen; dort gründete er das erste russische Labor für Psychophysiologie. 1890 Professor in St. Petersburg, 1893 Professor für Psychiatrie und Neurologie an der MMA und Leiter der Abteilung für Geisteskrankheiten. 1908 Direktor des von ihm gegründeten Psychoneurologischen Instituts in St. Petersburg; 1918 Leiter des auf seine Initiative hin in Petrograd eingerichteten Instituts zur Erforschung des Gehirns und der psychischen Tätigkeit (heute: Bechterev-Institut für Hirnforschung) – eine als höchst fortschrittlich geltende akademische Institution mit exzellenten Mitarbeitern wie →N. N. Vagner, →A. F. Lazurskij, Otto Frank (1865–1944), Lev Vladimirovi Ščerba (1880–1944) und J. I. N. Baudouin de Courtenay (1845–1929). Nach der Oktoberrevolution Leiter der Abteilung für Psychologie und Reflexologie der Universität Petrograd. Gilt zusammen mit →I. P. Pavlov als Begründer der „objektiven Psychologie“ (später: „Psychoreflexologie“, danach: „Reflexologie“). Als Kliniker und Hirnforscher analysierte er das gesamte soziale Leben vom reflexologischen Standpunkt aus und versuchte, Anatomie, Physiologie und Psychologie miteinander zu verbinden. Er gründete Dutzende von Instituten und wissenschaftlichen Zeitschriften. Bechterev starb unter ungeklärten Umständen nach einer Konsultation bei Stalin. BENUSSI, Vittorio (17.01.1878–24.11.1927) – italienischer Philosoph und Psychologe, Mitarbeiter von →Alexius Meinong in Graz. Einer der bedeutendsten Experimentalpsychologen der Wende zum 20. Jahrhundert mit großem Einfluss auf die Entwicklung der italienischen Schule der Gestaltpsychologie. Nach seinem Abitur in Triest und einigen Semestern des Studiums der deutschen und italienischen Literatur in Graz begann er auf Anregung von Meinongs das Studium der Psychologie, belegte aber zusätzlich Kurse in Mathematik, Physik, Physiologie und Anatomie. Nach einem Kurzstudium bei Sante de Sanctis in Rom, dem Begründer der Psychologie und Kinderpsychiatrie in Italien, kehrte er nach Graz zurück, promovierte dort mit Auszeichnung und habilitierte sich 1905 mit einer Arbeit Zur Psychologie des Gestalterfassens. Die Müller-Lyersche Figur. Bis 1918 als Mitarbeiter Meinongs im Psychologischen Laboratorium, dessen stellv. Leiter bis 1914 →Stephan Witasek war. Nach dessen Tod übernahm Benussi die Leitung des Labors. Lehrte 1905–1918 Experimentalpsychologie an der Universität Graz, 1920–1927 an der Universität Padua. BERGER, Hans (21.05.1873–01.06.1941) – deutscher Neurologe und Psychiater; Entwickler der Elektroenzephalografie (EEG). 1892 Abitur; 1893–1897 Medizinstudium in Jena, dort auch Promotion. 1897 Assistent in der von Otto Binswanger (1852–1929) geleiteten Psychiatrischen Klinik Jena; dort 1901 Habilitation, 1912 Oberarzt. 1919, als Nachfolger Binswangers, Direktor der Psychiatrischen Klinik und o. Professor. 1927/28 Rektor der Universität Jena; 1938 Emeritierung. War förderndes Mitglied der SS und Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht Jena. Nahm sich 1941 das Leben. Berger begann 1902 mit Experimenten an der Hirnrinde von Hunden und Katzen; er suchte (als Vertreter der Psychodynamik) nach Wegen, die Beziehung zwischen Körper und Seele durch physikalische Methoden zu objektivieren. Begann 1924 mit der Entwicklung einer Methode zur Ableitung von „Hirnströmen“ am Menschen; am 6. Juli 1924 erste sichere Ergebnisse, d. h. das erste Elektroenzephalogramm. Publikation erst 1929. 1934 erkannte der englische Neurophysiologe Edgar 9 Douglas Adrian (1899–1977) die Tragweite der Entdeckung und gab dem Alpha-Grundrhythmus der hirnelektrischen Tätigkeit den Namen „Berger-Rhythmus“. Berger wurde 1937 Mitglied der Leopoldina. Publikationen: Das Elektroenkephalogramm des Menschen. In: Archiv für Psychiatrie 87 (1929), 527–570. Psychophysiologie in 12 Vorlesungen. Jena: Fischer Verlag, 1921. BERGSON, Henri (18.10. 1859–04.01.1941) – französischer Philosoph. Nach dem Schulbesuch 1868– 1878, wo er 1877 (aufgrund einer Problemlösung, die in einer mathematischen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde) den Schulpreis für Mathematik erhielt, begann er ein Studium der Literaturwissenschaft, das er 1881 erfolgreich absolvierte, und arbeitete danach als Gymnasialprofessor für Philosophie. 1889 promovierte er an der Sorbonne und veröffentlichte 1896 seine zweite größere Schrift Matière et mémoire [deutsch: Materie und Gedächtnis, 1908, 1919; russisch: 1911]. 1900 erhielt er zunächst eine Stelle am renommierten Lycée Henri IV., danach den Lehrstuhl für Griechische Philosophie am Collège de France in Paris und dort 1904 den Lehrstuhl für moderne Philosophie. 1907 erschien seine Schrift L’Évolution créatrice [deutsch: Die schöpferische Entwicklung, 1912], die in zehn Jahren 21 Auflagen erlebte und als sein bekanntestes Werk gilt. Wichtig für das Verständnis seines Werks sind sein Vortrag auf dem Internationalen Philosophiekongress in Bologna 1911 über L'Intuition philosophique und seine Vorträge an der Universität Oxford im selben Jahr über La Perception du changement sowie in Birmingham über Vie et conscience bzw. in London über La Nature de l’âme. 1901 Mitglied der Académie des sciences morales et politiques, 1914 zu ihrem Vorsitzenden gewählt; und im selben Jahr Mitglied der Académie Franҁaise. Ehrendoktorwürde der Universitäten Oxford und Cambridge, 1927 Nobelpreis für Literatur. BERIJA, Lavrentij Pavlovič (29.03.1899–23.12.1953) – sowjetischer Politiker. Seit November 1938 Volkskommissar für Inneres der UdSSR; seit 1941 Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR Iosif Stalin; Generalkommissar für Staatssicherheit. Obgleich der „Große Terror“ 1937/38 bereits von seinem Vorgänger Nikolaj Ivanovič Ežov (1895–1940) organisiert wurde (den Berija 1939 verhaften und 1940 hinrichten ließ), war Berija eine der Schlüsselfiguren der sog. Stalinschen Säuberungen. Neben Massenmorden wie dem Massaker von Katyn 1940 war er für die Deportation mehrerer Volksgruppen in den 1940er Jahren verantwortlich, denen in der Folge mehr als eine halbe Million Menschen zum Opfer fiel. 1939 Kandidat, 1946 Mitglied des Politbüros der KPdSU. 1953 vom Obersten Gericht der UdSSR wegen Spionage und des Versuchs der Beseitigung der Sowjetmacht zum Tode verurteilt und erschossen. BERKELEY, George (12.3.1685–14.01.1753) – anglikanischer Theologe, Sensualist und Philosoph der Aufklärung in England. Seit 1700 Studium am Trinity College in Dublin, lehrte dort 1707–1713 als Fellow, ging dann nach London, reiste über Frankreich nach Italien, 1728 nach Rhode Island, wo er sich bis 1731 vergeblich um staatliche Unterstützung seines Plans bemühte, auf den Bermudas eine Missionsschule zu errichten. Nach seiner Rückkehr wurde er 1734 Bischof von Cloyne (Irland), amtierte bis 1752. 1710 Veröffentlichung von A Treatise Concerning the Pinciples of Human Knowledge [Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Hamburg: Meiner 1996], in der er die beiden Grundprinzipien seines sensualistischen Ansatzes erläuterte. Er erklärte, radikaler noch als Locke, dass weder die Substanz „Materie“ noch die Substanz „Geist“ (oder Subjekt, Verstand, Seele) philosophisch begründbar seien: „Die Existenz der äußeren Dinge besteht in ihrem Wahrgenommenwerden: esse est percipi. … Der Geist als solcher ist unerkennbar. Sein Wesen besteht … im Erfassen: esse est percipere“. Berkeley geht damit weit über Lockes Grundgedanken hinaus, dass durch Erfahrung gewonnene Ideen objektiv, also wahr seien. Insofern für Berkeley die Ideen ausschließlich individuell sind und ihre Objektivität philosophisch nicht nachgewiesen werden kann, ist der Glaube an Gott der einzige Garant für deren Zuverlässigkeit. Gilt überwiegend als Hauptvertreter des subjektiven Idealismus; in Bezug auf das Universalienproblem extremer Nominalist. 10 BERNAL, John Desmond (10.05.1901–15.09.1971) – britischer Physiker. Physikstudium in Cambridge; 1927–1937 dort Strukturanalysen von anorganischen und organischen Substanzen. Er gehörte mit Erwin Schrödinger (1887–1961), Niels Bohr (1885–1962), Max Delbrück (1906–1981), Walter Friedrich (1883–1968) und anderen zu den intellektuellen Bahnbrechern und Wegbereitern der Kristallographie und der modernen Biowissenschaften. Seit den 1920er Jahren beteiligte er sich als Wissenschaftler und politischer Intellektueller an den praktisch-politischen Auseinandersetzungen über die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit. Die Fragen von Krieg und Frieden, die Entwicklung und Funktionen der Wissenschaften sowie die öffentliche Verantwortung der Wissenschaftler und Intellektuellen waren für ihn vor dem, während des und nach dem Zweiten Weltkrieg die zentralen Themen. Als einer der Väter der Wissenschaftswissenschaft sowie einer an den gesellschaftlichen Bedürfnissen orientierten Wissenschaftspolitik seit den 1930er Jahren Beteiligung an den Diskussionen um Entwicklung und Leitung der Wissenschaften in Großbritannien. Wiss. Berater für verschiedene britische Institutionen; Beteiligung an der Gründung der UNESCO und an der Institutionalisierung der Wissenschaftssysteme in den jungen Nationalstaaten (u. a. in Indien und Ghana). 1937 wurde er zum Mitglied der British Royal Society gewählt und auf den Lehrstuhl für Physik am Birkbeck College in London berufen. Die British Royal Society verlieh ihm 1945 die Royal Medal für seine Forschungsleistungen, die US-Regierung 1947 den Order of Freedom für seinen Einsatz im Zweiten Weltkrieg. 1953 erhielt er den Lenin-Friedenspreis der UdSSR, 1959 den Preis der Internationalen Grotius-Stiftung zur Verbreitung des Völkerrechts. Bernal war lange Jahre Vorsitzender des Präsidiums des Weltfriedensrates und Mitglied der AdW der UdSSR, Ungarns, Polens, Rumäniens, Bulgariens, der ČSSR, der DDR und Norwegens; Ehrenprofessor der MGU, Ehrendoktor der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Société Franҁaise de Mineralogie. BERNARD, Claude (12.07.1813–10.02.1878) – französischer Physiologe in Paris und einer der Begründer der experimentellen Medizin. Lehrer von Ivan Sečenov. Er entdeckte die Rolle der Pankreassekretion bei der Verdauung von Fetten und die Rolle der Leber bei der inneren Sekretion von Glukose im Blut, womit man der Ursache der Zuckerkrankheit auf die Spur kam. Er entdeckte, dass Kohlenstoffmonoxid die Atmung blockiert, und begründete mit seinen Curare-Experimenten die experimentelle Physiologie in Frankreich. Als Sohn einer verarmten Weinbauernfamilie musste er 1831 den Besuch des Gymnasiums abbrechen und eine Apothekerlehre beginnen, die er 1843 abschloss, um ein Medizinstudium zu beginnen. 1844 Promotion zum Dr.med. 1848 Assistent bei Francois Magendie in Paris. 1853 Promotion in Zoologie. 1854 wurde ihm ein eigener Lehrstuhl für allgemeine Physiologie an der Sorbonne eingerichtet und er zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt. 1855 wurde er Nachfolger von Magendie auf dessen Lehrstuhl am Collège de France. 1860 korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1868 Mitglied der Académie française und im selben Jahr der Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften. Nach einer heftigen Erkrankung starb er 1878 und erhielt als erster Wissenschaftler überhaupt ein öffentliches Begräbnis auf dem Friedhof Pierre Lachaise in Paris. Seine berühmteste Veröffentlichung: Introduction à l’étude de la médicine experimentale. Paris 1865; deutsch: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin, Leipzig 1961 BERNŠTEJN, Nikolaj Aleksandrovič (05.10.1896–16.01.1966) – sowjetischer Physiologe und Biomechaniker; gilt als ein Begründer der modernen Bewegungswissenschaften. Nach dem Studium an der Historisch-philologischen und später an der Medizinischen Fakultät der Moskauer Universität 1919–1921 Arzt in der Roten Armee. Nach der Demobilisierung in einer psychoneurologischen Heilanstalt in Moskau tätig. 1922–1925 war er im Zentralinstitut für Arbeit Leiter des Labors für Biomechanik, wo er die Grundlagen der Biomechanik in der Sowjetunion entwickelte. Seit 1925 am Moskauer Institut für Experimentelle Psychologie; dort Zusammenarbeit mit L. S. Vygotskij, A. N. Leont’ev und A. R. Lurija. 1933–1937 und 1943–1947 im VIĖM; Laborleiter, danach Abteilungsleiter. 1936–1941 und 1944–1949 Laborleiter im Zentralinstitut für Körperkultur; 1942/43 Abteilungsleiter für Arbeitstherapie im Evakuierungslazarett Taschkent. Schon im Manuskript einer Monografie von 1936 (erst 2003 veröffentlicht) klares Auftreten gegen →I. P. Pavlovs Theorie der bedingten Reflexe:
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