Aktuelle Forschungsergebnisse aus dem Institut Arbeit und Qualifikation Karen Jaehrling, Monika Obersneider und Dominik Postels Digitalisierung und Wandel von Arbeit im Kontext aktueller Marktdynamiken Empirische Befunde zum Zusammenspiel von Innovationen, Beschäftigung und Arbeitsqualität 2018 Auf den Punkt ... • Das IAQ untersuchte im Rahmen eines international vergleichenden 03 Forschungsprojektes (QuInnE), wie sich Innovationen, Beschäfti- gung und Arbeitsplatzqualität wechselseitig beeinflussen. • Innovative Betriebe verzeichnen unseren quantitativen Auswertun- gen zufolge ein höheres Beschäftigungswachstum und höhere Be- schäftigungsstabilität als weniger innovative Betriebe. Davon profi- tieren allerdings vor allem qualifizierte Arbeitskräfte, während die Zahl gering qualifizierter Beschäftigter zurückgeht. • Das kommt aber keinem durchgängigen ‚upgrading‘ von Qualifikati- onsanforderungen und Arbeitsqualität gleich, wie qualitative Un- tersuchungen in zwei Wachstumsbranchen – Handelslogistik und Computerspielbranche – zeigen. Auch einfache Routine-Tätigkeiten können zunehmen und einem ‚downgrading‘ ausgesetzt sein. Umge- kehrt sind auch kreative Tätigkeiten mit steigenden Qualifikations- anforderungen kein Garant für ‚gute Arbeit‘. • Hintergrund dafür sind nicht technologische Umwälzungen per se, sondern vielmehr der ökonomische Kontext, auf den sie treffen. Auch dieser bedarf daher der gesellschaftlichen Gestaltung. Einleitung Die Annahme, dass Innovationen und der Schutz von Arbeitnehmerinteressen sich nicht ver- tragen, gilt mittlerweile als überholt. So ist etwa die in der neoklassizistischen Ökonomie ge- prägte These, dass starke Gewerkschaften Innovationen behindern können, weil sie durch die Abschöpfung von Gewinnen die Anreize für Investitionen in Innovationen verringern (sog. "Hold-up-Problem", vgl. Grout 1984) – durch empirische Untersuchungen oft widerlegt oder zumindest nicht bestätigt worden. Wolfgang Streeck (1997) hat in Übereinstimmung mit der ‚Varieties of Capitalism‘-Schule den institutionellen Rahmen in koordinierten Marktwirtschaf- ten wie Deutschland sogar als Quelle "nützlicher Zwänge" bezeichnet. In dieser Lesart fördern Kündigungsschutz, Tarifvereinbarungen, das Ausbildungssystem und weitere Kontextfaktoren wie ‚geduldiges Kapital‘ Wettbewerbsstrategien, die sich auf kontinuierliche, inkrementelle In- nnovationen stützen, und werden umgekehrt von diesen Strategien gestützt; wohingegen der institutionelle Rahmen in liberalen Marktwirtschaften wie Großbritannien eher radikale Inno- vationen begünstige. Verschiedene Studien zeigen allerdings, dass der hier angedeutete Tugendkreis – also das kom- plementäre Verhältnis zwischen inklusivem Beschäftigungssystem und inkrementeller Innova- tionstätigkeit – auch in koordinierten Marktwirtschaften nur bedingt vorzufinden ist. Innova- tionssysteme sind stattdessen durch eine breite Variantenvielfalt und Mischformen der idealty- pischen Modelle gekennzeichnet (z.B. Allen et al. 2011, Kirchner et al. 2012, Witt und Jackson 2016). Noch weitergehende Zweifel lassen sich mit Blick darauf formulieren, dass die instituti- onellen Voraussetzungen für den Tugendkreis, wie Tarifvereinbarungen oder ‚geduldiges Ka- pital‘, mittlerweile stark im Schwinden begriffen sind. Nun ließe sich argumentieren, dass damit beste Voraussetzungen geschaffen sind, um den Be- trieben die notwendigen Freiräume für jene radikalen Innovationen zu verschaffen, die unter den Schlagworten ‚Digitalisierung‘ oder ‚Industrie 4.0‘ derzeit im Zentrum der öffentlichen De- batte stehen. Tatsächlich geht ein Teil der Debattenbeiträge in diese Richtung – etwa wenn die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA 2015) sich gegen Einschränkungen in der Nutzung von Werkverträgen, Befristungen und flexibilisierter Arbeitszeit ausspricht, weil dies den Erfordernissen der digitalisierten Wirtschaft zuwiderlaufe. Konträr zu dieser Perspektive hat sich allerdings über verschiedene wissenschaftliche Diszipli- nen hinweg wie auch im politischen Raum ein gewisser Grundkonsens herausgebildet, dass die Innovationskapazität von Betrieben in hohem Maße von bestimmten organisatorischen Struk- turen profitiert, die individuelles und kollektives Lernen, Problemlösen und Wissensaustausch unterstützen (vgl. u.a. Høyrup et al, 2012; de Spiegelaere et al. 2015; Oeij et al., 2017). Einigen empirischen Studien zufolge sind diese organisatorischen Strukturen ihrerseits auch in 2 nicht-marktförmigen Institutionen verankert, wie überbetrieblichen Lohnstrukturen und Aus- bildungssystemen, oder großzügigen Leistungen bei Arbeitslosigkeit (vgl. Arundel et al. 2007; Lorenz 2015). In dieser Lesart gedeihen inkrementelle wie radikale Innovationen also nicht in einem Umfeld, in dem institutionelle Restriktionen zum Schutz von Beschäftigteninteressen so weit wie möglich abgebaut werden, sondern in einem Umfeld, in dem die Ausgestaltung von Arbeitsplätzen die Bereitschaft und Fähigkeit von Beschäftigten zur Mitwirkung an Innovatio- nen fördert – sowohl mithilfe intrinsischer Aspekte von Arbeitsplatzqualität (z.B. Autonomie) als auch mithilfe extrinsischer Aspekte (z.B. Entlohnung, materielle Sicherheit). Es stellt sich allerdings die Frage, ob und wie dieser Grundkonsens im realen Wirtschaftsleben praktisch bedeutsam wird; ob er auch unter den Bedingungen der gegenwärtigen technologi- schen Umwälzung und ökonomischer Entwicklungen greift; welche Arbeitsplätze und Beschäf- tigtengruppen davon profitieren; und welche Faktoren dies begünstigen. Mit diesen Fragen hat sich im Zeitraum von 2015 bis 2018 ein Europäisches Forschungsprojekt (QuInnE1) zum Wechselverhältnis von Innovationen, Beschäftigung und Arbeitsqualität beschäftigt, an dem das IAQ neben Forschungsteams aus sechs anderen Ländern (Großbritannien, Schweden, Nie- derlande, Frankreich, Ungarn und Spanien) mitgewirkt hat. Dabei wurden sowohl quantitative Auswertungen auf Basis von Betriebsbefragungen als auch qualitative Betriebsfallstudien im produzierenden Sektor und im Dienstleistungsgewerbe durchgeführt. Im Folgenden werden einige Kernbefunde dieser Untersuchungen vorgestellt. Der erste Ab- schnitt geht zunächst anhand von quantitativen Befunden auf die Frage ein, ob und für welche Beschäftigtengruppen innovative Betriebe mehr und bessere Jobs schaffen als weniger innova- tive Betriebe. Am Beispiel von zwei Branchen mit unterschiedlichem Qualifikationsprofil – Computerspielbranche und Handelslogistik – wird im zweiten Abschnitt auf Basis qualitativer Betriebsfallstudien analysiert, wie genau sich Beschäftigung und Arbeitsplatzqualität hier durch die Digitalisierung im Zusammenspiel mit einer Vielzahl anderer Faktoren verändern. Die Analysen verdeutlichen insbesondere, dass die aktuellen technologischen Umwälzungen auf Marktdynamiken treffen, die deren Effekte auf die Arbeitswelt beeinflussen, und auch ganz di- rekt die Arbeitsqualität beeinträchtigen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer umfassen- den Analyse der Digitalisierungsprozesse, die sich nicht auf das technologisch Machbare be- schränken. 1 ‚Quality of Jobs and Innovation generated Employment Outcomes‘; Projekt-Webseite: www.quinne.eu 3 Schaffen innovative Betriebe mehr und bessere Jobs? Zur Beantwortung dieser Frage wurden für Deutschland Daten des IAB-Betriebspanels ausge- wertet, eine jährlich stattfindende repräsentative Arbeitgeberbefragung mit rund 16.000 Betrie- ben aus allen Branchen und Betriebsgrößen. Die Analyse bezieht sich hier auf Deutschland, da die empirischen Daten der internationalen Projektpartner nur eingeschränkt vergleichbar sind. Dabei wurde mithilfe einer multivariaten Datenanalyse untersucht, wie sich Beschäftigungs- umfang und -bedingungen in Firmen entwickelt haben, die zwischen 2010 und 2012 eine In- novation durchgeführt hatten, und dies mit der Entwicklung in nicht-innovativen Firmen ver- glichen. Unterschieden wird dabei zwischen Prozess- und Produktinnovationen sowie organi- satorischen Innovationen.2 Zwischen 2010 und 2012 führten nahezu 55% der Unternehmen in Deutschland mindestens eine Form von Produktinnovationen durch.3 Die Weiterentwicklung oder Einführung von Prozessinnovationen wurde von ca. 20% der Unternehmen angegeben; dabei kann es sich zum Beispiel um Automatisierung handeln. Organisatorische Innovationen wurden von rund 40% der Firmen durchgeführt. Diese Kategorie ist sehr heterogen; sie vereint u.a. Veränderungen in den Verantwortungs- und Entscheidungsstrukturen, Qualitätsmanage- ment oder Einführung von Teamarbeit, aber auch die Auslagerung von Teilbereichen oder im Gegenteil eine erhöhte Eigenproduktion. Die Ergebnisse zeigen (vgl. Tabelle 1 im Anhang), dass auf der betrieblichen Ebene Produktin- novationen mit einer besseren Beschäftigungsentwicklung einhergehen. Dies gilt sowohl für Männer als auch Frauen. Dieser positive Zusammenhang ist aber auf qualifizierte Arbeitskräfte beschränkt. Deren Beschäftigungsanzahl steigt sowohl infolge von Produktinnovationen als auch infolge organisatorischer Innovationen. Demgegenüber haben Prozess- und organisatori- sche Innovationen negative Auswirkungen auf die Anzahl gering qualifizierter Beschäftigter. Dies dürfte zum einen auf die Automatisierung von Arbeitsprozessen zurückzuführen sein, die überproportional zur Substitution einfacher Routinetätigkeiten beiträgt. Bei Firmen mit orga- nisatorischen Innnovationen kann der Befund vermutlich auch darauf zurückgeführt werden, dass Leistungen vermehrt outgesourct werden, so dass der Arbeitsplatzverlust auf betrieblicher Ebene, aber nicht notwendigerweise auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene anfällt. Diese Be- funde stimmen tendenziell mit der These des ‚skill-biased technological change‘ überein, dem- zufolge durch technologische Innovationen in erster Linie der relative Bedarf an Tätigkeiten mit niedrigen Qualifikationsanforderungen sinkt. 2 Für eine detaillierte Liste der abgefragten Items siehe TNS Infratest (2013). 3 Produktinnovationen werden durch drei Items operationalisiert: Die Verbesserung oder Weiterentwicklung von bestehenden Produkten oder Dienstleistungen; die Aufnahme eines neuen Produkts oder einer Dienstleis- tung, welche auf dem Markt bereits vorhanden war; die Entwicklung eines neuen Produkts oder einer neuen Dienstleistung, für die ein neuer Markt erschlossen werden musste. 4 Was die Beschäftigungsbedingungen anbelangt, geht die Einführung von Produkt- und Prozes- sinnovationen zumindest im Durchschnitt mit niedrigerer Mitarbeiterfluktuation einher, d.h. es kommt in innovativen Unternehmen zu weniger freiwilligen Kündigungen oder Entlassun- gen. Dies mag daran liegen, dass Innovationen den Betrieben höhere Einkünfte und größere wirtschaftliche Stabilität verschaffen, verdankt sich möglicherweise aber auch gezielten betrieb- lichen Strategien der Personalbindung, um das für Innovationen nötige Erfahrungswissen zu halten. Produktinnovationen haben schließlich auch einen positiven Einfluss auf die durch- schnittlichen monatlichen Bruttoverdienste in den Unternehmen. Es kann allerdings nicht fest- gestellt werden, ob dieser positive Effekt sich lediglich der geänderten Beschäftigtenstruktur (mehr qualifizierte Beschäftigte) verdankt oder tatsächlich stärkere Lohnerhöhungen als in nicht-innovativen Betrieben zum Hintergrund hat. Zumindest im Durchschnitt sind die Arbeitsplätze der verbleibenden Beschäftigten in innova- tiven Betrieben somit offenbar sicherer und besser bezahlt als in ähnlichen Betrieben, die weni- ger innovativ sind. Ein differenzierter Blick auf die Art der Beschäftigungsverhältnisse zeigt aber auch, dass neben unbefristeten Jobs in den innovativeren Firmen auch befristete Jobs und Minijobs stärker zunehmen als bei Wettbewerbern ohne Produktinnovationen. Insofern gehen Innovationen offenbar nicht mit grundlegend veränderten Beschäftigungsstrategien der Be- triebe einher; in Bezug auf atypische Beschäftigungsformen setzen sie jedenfalls keine Impulse in Richtung einer deutlich verringerten Nutzung. Digitalisierung im Kontext ökonomischer und sozialer Entwicklungen: Der Wandel der Arbeitswelt in Handelslogistik und Computerspiel- branche Auf Basis der qualitativen Befunde wird mit der Handelslogistik und der Computerspielbran- che im Folgenden der Blick auf zwei Branchen gerichtet, die es erlauben, exemplarisch den Wandel der Arbeitswelt an den zwei Polen des Qualifikationsspektrums eingehender zu analy- sieren: In der Handelslogistik besteht die Kerngruppe der Beschäftigten aus Lager- und Trans- portarbeiter_innen, deren Tätigkeit durch relativ geringe Qualifikationsanforderungen ge- kennzeichnet sind, und die regelmäßig an erster Stelle genannt werden, wenn es um Jobs geht, die durch Maschinen ersetzbar sind. Demgegenüber setzt sich das Gros der Beschäftigten in der Computerspielbranche aus Programmierer_innen, Game-Designer_innen, und weiteren Beru- fen der ‚kreativen Klasse‘ (Florida, 2002) zusammen, zu denen der Zugang zunehmend über 5 eine akademische Ausbildung führt. Ausweislich des IAB-‚Futuromats‘ sind sie durch eine re- lativ niedrige Automatisierbarkeit gekennzeichnet. In der Beschäftigungsentwicklung schlagen sich diese Unterschiede allerdings bislang nicht sichtbar nieder: Die Zahl der Lager- und Trans- portarbeiter_innen stieg im Zeitraum 2012 bis 2016 in Deutschland sogar noch deutlich stärker (+18,8%) als die Gesamtzahl der Beschäftigten (+7,9%) und auch als die Zahl der Programmie- rer_innen (+9,5%) und der Gamedesigner_innen (+17,1%).4 Wie ist dies zu erklären? Welche weiteren Faktoren bestimmen die Beschäftigungsentwicklung und die Innovationsstrategien von Betrieben? Und wie sehen im Ergebnis die Qualifikations- anforderungen und Beschäftigungsbedingungen bei den verbleibenden Arbeitsplätzen aus? Diese und weitere Fragen wurden im QuInnE-Projekt in acht Branchen untersucht, für die je- weils in zwei bis vier Ländern Betriebsfallstudien durchgeführt wurden. Die Auswertungen zur Computerspielbranche (Maarten et al. 2018) und zur Handelslogistik (Jaehrling et al. 2018) sind Grundlage der folgenden Ausführungen.5 Handelslogistik: Zum Wandel gering qualifizierter Routine-Tätigkeiten In der Handelslogistik wurden für die insgesamt sieben Fallstudien in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden Verteilzentren ausgewählt, die für den Einzelhandel mit Lebensmitteln und Drogeriewaren sowie mit Mode oder kulturellen Produkten (Bücher, Musik) Waren la- gern, kommissionieren und versenden – entweder an Geschäfte oder direkt an Einzelkunden. Bei den drei untersuchten Verteilzentren in Deutschland handelte es sich dabei durchweg um Betriebe oder Betriebsteile im Eigentum großer Einzelhandelsketten. Dies spiegelt wider, dass der Trend zur Auslagerung von Lager- und Transport-Dienstleistungen an sogenannte ‚Third- Party-Logistics‘ (3PL)-Dienstleister dieses Segment bislang nur begrenzt betrifft. Dennoch hat der Trend zur vertikalen Desintegration auch dort seine Spuren hinterlassen. So werden die Verteilzentren in Einheiten mit eigener Gewinn- und Verlustrechnung umgewandelt, und die internen Vertragsbeziehungen zwischen Einzelhändlern und ihren hauseigenen Logistikdienst- leistern ahmen ‚Service Level Agreements‘ mit externen Anbietern nach, indem sie detaillierte Leistungsziele und Vertragsstrafen festschreiben. Nicht erst diese Entwicklung trägt jedoch zu einem hohem Kostendruck und einer strukturell asymmetrischen Beziehung zwischen Han- delsketten und Logistikdienstleistern bei. Vielmehr nahm dies bereits Mitte der 1980er Jahre seinen Anfang mit einer länderübergreifenden Transformation der Liefer- und Vertriebskette, in deren Rahmen Einzelhändler die Kontrolle über die Logistikdienstleistungen von den Her- stellern übernommen haben. Übergeordnetes Ziel war dabei, Lagerhaltungskosten zu senken, 4 Quelle: https://job-futuromat.iab.de/, basierend auf Statistik der Bundesagentur für Arbeit. 5 Eine ausführliche Darstellung der Vorgehensweise und Befunde zu allen acht Branchen findet sich im qualitati- ven Projektbericht (Jaehrling 2018). 6 Lieferprozesse zu beschleunigen und die Lieferkette flexibler und nachfrageorientierter zu ge- stalten – ganz im Einklang mit ‚Lean‘-Prinzipien, die in der Logistik ab Ende der 1990er Jahre diese Zielsetzung noch verstärkt haben. Die dominante Position in der Lieferkette erleichtert es Einzelhändlern wiederum, den zunehmenden Preiswettbewerb im Einzelhandel – nicht zuletzt infolge von E-Commerce (höhere Preistransparenz, neue Wettbewerber) – an ihre Logistik- dienstleister weiterzureichen. Beschäftigungswachstum trotz Automatisierung Diese ökonomischen Rahmenbedingungen wirken sich sowohl auf das Innovationsgeschehen als auch auf die Arbeitsplatzqualität aus. Vorrangiges Ziel von Innovationen in der Branche sind Zeit- und Kostenersparnisse, nicht erst seit dem Wachstum von E-Commerce. E-Com- merce hat den Wettlauf um kurze Lieferzeiten lediglich intensiviert, weil diese nun auch genutzt werden, um zusätzliche Kunden und Marktanteile zu gewinnen. Für Arbeitsbedingungen und Innovationen bedeutet dies aber keinen Bruch, sondern eher eine konsequente Fortsetzung mit neuen Mitteln. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde eine breite Palette von neuen, computer- basierten Lager- und Fördertechniken eingeführt, die manuelle Aufgaben ersetzt und grundle- gend verändert haben: Warehouse-Management-Systeme, die Warenströme im Lager in Echt- zeit steuern und kontrollieren, automatische Hochregallager, rechnergesteuerte Sortier- und Verteilsysteme, papierlose Kommissionierung (z.B. pick by voice) und vieles mehr. Diese Tech- nologien tragen zur deutlichen Verkürzung von Durchlaufzeiten und zu Produktivitätssteige- rungen bei. Ein erheblicher Arbeitsplatzabbau geht dabei insbesondere mit dem Bau neuer Ver- teilzentren mit teil- und vollautomatisierten Förderanlagen einher. An mehreren Standorten der untersuchten Logistikfirmen war dies in der jüngeren Vergangenheit der Fall und hatte eine Reduzierung der Belegschaft um bis zu 50% zur Folge. Der hohe Investitionsbedarf für diese großtechnischen Förderanlagen sowie die geringen Ge- winnmargen im Einzelhandel bremsen jedoch ähnlich wie in der Industrie (vgl. Abel et al. 2014) Geschwindigkeit und Umfang der Automatisierung und Substitution von Einfacharbeit. An vielen Standorten kommen neue Technologien weiterhin nur in Teilbereichen zum Einsatz, auch weil sie noch nicht für jedes Artikelsortiment ausgereift genug sind, um menschliche Ar- beitskraft zu ersetzen oder aber nur zu unverhältnismäßig hohen Kosten. Diese Befunde bestä- tigen somit die Einschätzung von Autor (2015), dass Maschinen einige, aber eben nicht alle Aufgaben von Lagerarbeiter_innen kostengünstiger erledigen können. Das gilt selbst für die neuesten sensorgesteuerten ‚Roboter‘, die innerhalb der Verteilzentren Behälter oder ganze Re- gale von A nach B transportieren, und die in der medialen Darstellung gerne zur Veranschau- lichung von ‚Logistik 4.0‘ herangezogen werden. Der Einsatz dieser neuen Technologien ist in den Einzelhandels-Lagern hierzulande noch stark begrenzt und kam nur in einem Fallstudien- unternehmen punktuell zum Einsatz. Im Hinblick auf ihr Automatisierungspotenzial sind sie 7 nicht ‚disruptiver‘ als die teil- und vollautomatisierten Förderanlagen, die bereits seit längerem auf dem Vormarsch sind. Noch entscheidender für die Beschäftigungsentwicklung ist, dass mit dem Wachstum des On- line-Handels auch die Arbeitsplätze in Verteilzentren sowie im vor- und nachgelagerten Wa- rentransport zunehmen – wenngleich dies sicher zum Teil auf Kosten der Beschäftigung im stationären Einzelhandel geht. Die gute konjunkturelle Lage in Deutschland trägt zusätzlich dazu bei, dass trotz fortschreitender Automatisierung, trotz Outsourcing und trotz steigender Konkurrenz durch Online-Händler selbst bei den hier untersuchten firmeneigenen Logistik- dienstleistern alteingesessener Einzelhändler in den vergangenen fünf Jahren das Beschäfti- gungsniveau stabil blieb oder sogar stieg. Dies unterstreicht, dass gering qualifizierte Tätigkei- ten trotz eines hohen Substituierbarkeitspotenzials mit der Digitalisierung keineswegs ver- schwinden und zumindest noch eine ganze Weile die Branche prägen werden. Downgrading von Einfacharbeit Umso wichtiger ist die Frage, wie Qualifikationsanforderungen und Beschäftigungsbedingun- gen in diesen Tätigkeiten aussehen. Hier ergeben die Fallstudien eher ein ernüchterndes Bild, und dies, obwohl sie in Deutschland in Firmen durchgeführt wurden, die in punkto Arbeits- qualität grundsätzlich als ‚best cases‘ gelten dürften – sichtbar etwa an tariflicher Bindung und Existenz von Betriebsräten. Was zunächst die Qualifikationsanforderungen anbelangt, so sind die in den Verteilzentren implementierten technologischen Lösungen nicht auf eine stärkere Nutzung der Fähigkeiten und Kenntnisse der Beschäftigten ausgerichtet, sondern haben im Ge- genteil eher zu einer weiteren Taylorisierung geführt. Dies gilt insbesondere in den Lagerhäu- sern, in denen die Automatisierung besonders weit fortgeschritten ist. Nach den überwiegenden Schilderungen von Interviewpartner_innen sind die Arbeitsaufgaben für das Gros der Beschäf- tigten hier weniger abwechslungsreich, die Arbeit ist repetitiver geworden und das Arbeits- tempo wird stark von den automatisierten Abschnitten des Produktionsprozesses bestimmt. Die Tätigkeiten in der Handelslogistik lassen sich somit dem Entwicklungspfad der ‚digitali- sierten Einfacharbeit‘ (Hirsch-Kreinsen 2016) einordnen, der stark durch Dequalifizierungs- prozesse geprägt ist. Von älteren Beschäftigten, die die Situation vor der weitgehenden Auto- matisierung kennengelernt haben, wird dies zum Teil als Sinnverlust und Entwertung ihres Er- fahrungswissens erlebt. Dies lediglich als nostalgische, die Vergangenheit idealisierende Hal- tung abzutun, erscheint unangemessen. Vielmehr bezeugt die zunehmende Ähnlichkeit mit klassischer Fließbandarbeit, dass es auch innerhalb von einfachen Tätigkeiten zum Downgra- ding, also zu verringerten Anforderungen an Wissen und Kompetenzen der Beschäftigten kom- men kann. 8 Auf dem Weg zur alternsgerechten Arbeitsplatzgestaltung? Eine umstrittene Frage ist hingegen, inwieweit die neuen Technologien physische Belastungen verringern. Mit diesem Argument werben die Hersteller der Fördertechniken – so hebt die Firma Witron etwa als Vorzug ihres teilautomatischen ‚Ergonomic Tray Picking‘ Systems her- vor, „dass der Kommissionierer stets in einer ergonomisch optimalen Körperhaltung kommis- sionieren kann – kein Heben, kein Tragen, kein Bücken.“6. Differenzierter wird dies allerdings durchgehend von den interviewten Beschäftigtenvertreter_innen bewertet: Der Entlastung beim Heben und Tragen stehen demnach erhöhte physische Belastungen durch repetitivere Be- wegungsabläufe und ein erhöhtes Arbeitstempo gegenüber. Auch kritisieren sie zum Teil feh- lende Investitionen in kleinere technische Verbesserungen, die deutliche Entlastungen brächten (z.B. neuere Flurförderfahrzeuge, Rolltore, Wickelmaschinen). Auch die befragten Personalver- antwortlichen in den Betrieben erkennen zunehmenden Handlungsbedarf in punkto nachhal- tiger, alternsgerechter Arbeitsplatzgestaltung. Zu dem Problembewusstsein trägt nicht zuletzt der Arbeitskräftemangel bei, der sich gerade in ländlicheren Regionen Deutschlands selbst bei diesen Tätigkeiten seit einiger Zeit bemerkbar macht. Zudem kollidiert die bisherige Arbeits- platzgestaltung auch mit dem demographischen Wandel, der sich in den deutschen Fallstudien- betrieben in der Alterung der Belegschaften niederschlägt. Das skizzierte ökonomische und technische Umfeld erschwert hier allerdings wirksame Lösun- gen. Auf drei Strategien soll hier kurz eingegangen werden: • Arbeitsplatzrotation: Mehrere der untersuchten Firmen setzen auf die Ausweitung von Ar- beitsplatzrotation, nicht zuletzt mit dem Anspruch, dadurch einseitige körperliche Belas- tungen zu verringern. Der Effekt bleibt allerdings begrenzt. Denn der Hauptzweck besteht in der Kostensenkung durch Verringerung unproduktiver Arbeitszeiten. Arbeitsplatzrota- tion wird daher nur punktuell genutzt, um betriebliche Flexibilitätsbedarfe zu decken. Ihr durchaus vorhandenes Potenzial zur Reduzierung physischer Belastungen und zur Förde- rung sozialer und kognitiver Fähigkeiten wird mithin nicht ausgeschöpft. Zudem illustrie- ren manche Fallstudien auch mögliche negative Effekte: Denn das ‚Multi-Tasking‘ trägt auch dazu bei, Zwangspausen aufgrund von temporären Über- und Unterkapazitäten an einzelnen Arbeitsstationen zu reduzieren. Zudem rotieren die Mitarbeiter_innen immer noch zwischen repetitiven und körperlich anstrengenden Aufgaben. • Leistungsmessung und -vergütung: Ein weiterer Ansatzpunkt waren in einem deutschen Fallstudienbetrieb Veränderungen im Leistungslohnsystem: Für ältere Beschäftigte wurde in einer Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Betriebsleitung die mit REFA-Methoden ermittelte Normleistung abgesenkt, oberhalb derer ihnen eine Leistungsprämie zusteht. 6 Vgl. http://www.witron.de/etp-ergonomic-tray-picking.html 9 Dieses Beispiel verdeutlicht zum einen, dass es bei der durch digitale Technologien erleich- terten individuellen Leistungsmessung relevante Unterschiede gibt: Den primär auf Über- wachung und Disziplinierung ausgelegten Systemen, die es insbesondere durch britische und amerikanische Einzelhandelsketten wie Amazon und Walmart zu notorischer Be- rühmtheit gebracht haben, stehen die schon länger bestehenden Leistungslohn-Systeme ge- genüber, die in Deutschland wie auch Frankreich Gegenstand von Aushandlungsprozessen zwischen den Betriebsparteien sind und primär auf finanzielle Belohnung setzen. Auch diese Systeme sind, zweitens, in der praktischen Handhabung jedoch nicht ohne Konflikte und Probleme und werden von den befragten Betriebsräten in Deutschland ambivalent be- urteilt: Sie sichern den Beschäftigten einen Zuverdienst und helfen, das erreichte Produkti- vitätsniveau zu halten, setzen jedoch auch Anreize zur Überschreitung von Belastungsgren- zen. Auch diese Leistungslohnsysteme bedürften daher unter dem Gesichtspunkt alterns- gerechter Arbeitsplatzgestaltung einer kritischen Überprüfung. • Arbeitszeitreduzierung: Eine dritte, eher ungeplante Variante des Umgangs mit dauerhaft hohen körperlichen Belastungen ist schließlich die individuelle Arbeitszeitreduzierung. Nach dem Auslaufen betrieblicher Altersteilzeit- und Vorruhestandsmodelle ist dies eine Option, die in einem der deutschen Betriebe nach Auskunft der Betriebsräte von älteren Beschäftigten (zum Teil ab Mitte 40!) gerne in Anspruch genommen wird, um ausreichend regenerieren zu können. Diente Teilzeit dort bislang in erster Linie betriebsseitig der flexib- len Arbeitszeitplanung und beschäftigtenseitig der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, so tritt hier nun ein weiterer Grund hinzu, der das hohe Niveau an Teilzeitarbeit in diesem Betrieb stabilisiert. Diese individuellen Bewältigungsstrategien kommen allerdings einer Privatisierung der Kosten gleich, die durch die wenig alternsgerechte Arbeitsplatzge- staltung anfallen. Denn die Einkommenseinbußen aufgrund eingeschränkter körperlicher Leistungsfähigkeit tragen hier die Beschäftigten allein, oder auch die sozialen Sicherungs- systeme – da ein Lohn aus Teilzeitbeschäftigung in diesem Bereich kaum zum Leben, ge- schweige denn für eine existenzsichernde Rente reicht. Verschlechterung von Beschäftigungsbedingungen Zu den Herausforderungen, die die technologischen Innovationen – im Zusammenspiel mit demographischem Wandel und hohem Kostendruck – für die Arbeitsplatzgestaltung mit sich bringen, treten außerdem durchgehend Verschlechterungen in Hinblick auf die Beschäfti- gungsbedingungen: In fast allen untersuchten Betrieben haben schwache Lohnsteigerungen oder sogar Lohnkürzungen den Abstand zum niedrigeren Lohnniveau bei externen Logistik- Dienstleistern verringert. Zudem hat auch die Arbeitszeitflexibilisierung ein Niveau erreicht, das die betrieblich ausgehandelten Kompromisse sprengt und für Konflikte sorgt. Dies betrifft insbesondere die Ausweitung der Betriebszeiten auf die Nacht und das Wochenende, aber auch 10
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