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Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit: 178. Sitzung am 12. Juli 1972 in Düsseldorf PDF

69 Pages·1973·2.839 MB·German
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Rheinisch-W estfalische Akademie der Wissenschaften Geisteswissenschaften Vortrage· G 183 Herausgegeben von der Rheinisch-Westfalischen Akademie der Wissenschaften ERNST-WOLFGANG BOCKENFORDE Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit Westdeutscher Verlag . Opladen 178. Sitzung am 12. Jull 1972 in Dusseldorf ISBN-13: 978-3-531-07183-1 e-ISBN-13: 978-3-322-90090-6 DOl: 10.1007/978-3-322-90090-6 © 1973 by Westdeutscher Verlag GmbH Opladen Gesamtherstellung: Westdeutscher Verlag GmbH Opladen Hans Ulrich Scupin zurn 70. Geburtstag Inhalt Ernst-Wolfgang Bockenforde, Bielefeld Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesell- schaft als Bedingung der individuellen Freiheit .................. 7 Diskussionsbeitrage Harald v. Petrikovits; Ernst-Wolfgang Bockenforde; Theodor Schie der; Eberhard Freiherr von Medem; Josef Pieper; Hans Welzel; Joachim Ritter; Ludwig Landgrebe ............................ 47 Es ist heute nahezu einhellige Meinung '}, insbesondere im Bereich der Politikwissenschaft, daB die Trennung von Staat und Gesellschaft im Zeichen der modernen Demokratie und im Zeichen des Sozialstaates iiberwunden sei An ihre Stelle sei, je Hinger je mehr, eine notwendige Verbindung und 1. Vermischung getreten. Es gebe heute, im Zeichen sozialstaatlicher Interven tion und Daseinsvorsorge, keine "staatsfreie" Gesellschaft mehr, und ebenso wenig konne der Staat, im Zeichen des demokratischen Prinzips, als von der Gesellschaft losgelOst und abgesondert verstanden werden; vielmehr sei er * Der Gegenstand der nachfolgenden Ausfuhrungen uberschneidet sich teilweise mit mei nem Beitrag "Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demo kratischen Sozialstaat der Gegenwart" (Rechtsfragen der Gegenwart. Festgabe fUr Wolf gang Hefermehl zum 65. Geburtstag, 1972, S. 11-36). Daraus erklaren sich einige gedankliche und wortliche Dbereinstimmungen. Fragestellung und Leitfaden der Pro blemerorterung sind jedoch in beiden Abhandlungen verschieden. Steht dort die Aus richtung auf Fragen des Verfassungsrechts, insbesondere auf die durch das Grundgesetz geschaffene Verfassungsordnung im Vordergrund, so sind es hier Fragen der Staatslehre und Verfassungstheorie. 1 Siehe aus der politikwissenschaftlichen Literatur etwa Abendroth, Zum Begriff des demo kratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz, in: Festschrift fUr Bergstrasser, 1954, = Forstho/f (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 114-144 (126/127); O. H. v. d. Gablentz, Staat und Gesellschaft: Politische Vierteljahrschrift, 2. Jg. (1961), S. 2 ff.; v. Krock ow, Staatsideologie oder demokratisches BewuBtsein, ebd. 6. Jg. (1965), S. 118-131 (127 f.); K. D. Bracher, Staatsbegriff und Demokratie in Deutschland, ebd. 9. Jg. (1968), S. 2-27 (19 ff.); P. Romer, Yom totalen Staat zur totalen burgerlichen Gesellschaft: Das Argument, 1970, S. 332 f. Aus der soziologischen Literatur H. Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit der einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, 1957, S. 23 f.; A. Gehlen, Soziologische Voraussetzungen im gegenwartigen Staat, in: Beilage zur Staats-Zeitung fur Rheinland-Pfalz Nr. 1, v. 15. 1. 1956 = Forstho/f (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 320-339 (329); N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 29 f. Aus der rechtswissenschaftlichen Literatur: E. Forstho//, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, Allgemeiner Teil, 1. Auf!. 1950, S. 3, seitdem kontinuierlich festgehalten, vg!. a.a.O., 9. Auf!. 1966, S. 3; eine Einschrankung und Modifizierung jetzt ders., Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 25 ff.; U. Scheuner, Artikel "Staat": HSW Bd. 12 (1963), S. 660; H. Ehmke, "Staat" und "Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Pro blem, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung, Festgabe fur Rudolf Smend, 1962, S. 23-49 (24 f.); K. Hesse, Grundzuge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutsch land, 5. Auf!. 1972, S. 8 f.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 2. Auf!. 1970, § 22, S. 135 ff. 8 Ernst-Wolfgang Bockenforde nur eine Funktion und Teilorganisation der Gesellschaft. Die Beibehaltung der Trennung von Staat und Gesellschaft als eines verfassungstheoretischen und verfassungsorganisatorischen Prinzips sei daher anachronistisch, trage zur Erkenntnis der gegenwartigen politisch-sozialen Wirklichkeit mit ihrer Ordnung nichts bei 2. Mit dieser Kritik verbindet sich teilweise ein ausgesprochener oder una us gesprochener Ideologieverdacht Die Beibehaltung oder gar Postulierung 3. der Trennung von Staat und Gesellschaft bedeute den Versuch einer Restau ration einer gesellschaftstranszendenten staatlichen Autoritat, die demokra tisch illegitim sei. Infolgedessen sei es nicht nur unzeitig, an dem Dualismus und der Gegeniiberstellung von Staat und Gesellschaft festzuhalten, sondern auch gefahrlich. Demgegeniiber enthalt das Thema eine These. Diese These ist urn so pro vozierender, als ja auch die Vertreter der heute verbreiteten Meinung, daB die Trennung von Staat und Gesellschaft iiberholt sei, fiir die individuelle Freiheit engagiert sind, sie keineswegs aufgeben wollen. Und die Heraus forderung wird auch dadurch kaum geringer, daB in meinem Thema mit Vorbedacht von der Unterscheidung anstatt von der Trennung von Staat und Gesellschaft die Rede ist Denn der Gegenstand der Kritik ist das 4. Denken in der Gegeniiberstellung von Staat und Gesellschaft iiberhaupt, nicht eine bestimmte Modifikation innerhalb dieses Denkens. Eben dariiber scheint das wissenschaftliche Urteil nicht zweifelhaft. Bevor nun ein solches Urteil endgiiltig gefallt wird und in Rechtskraft erwachst, im Bereich der Verfassung womoglich mit Bindungswirkung, er scheint es billig, das Recht auf Gehor zu gewahren. Sie haben durch die An nahme des von mir selbst gewahlten Themas dieses Recht auf Gehor gewahrt, und ich danke Ihnen dafiir. Meine Ausfiihrungen sollen sich urn zwei zentrale Fragen gruppieren. Die erste Frage: Inwiefern und wodurch ist gerade die Unterscheidung von Staat 2 So insbes. Hesse, a.a.O. (N. 1), S. 8 f.; Ferner Ehmke, a.a.O. (N. 1), S. 24, 42 H.; Zippelius, a.a.O. (N. 1), S. 138. a Vg!. etwa v. d. Gablentz, a.a.O. (N. 1), S. 2 H.; v. Krockow, a.a.O. (N. 1), S. 128; Bracher, a.a.O. (N. 1), S. 22 ff. 4 Eine organisatorism-funktionale Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wird von etlimen Autoren als sinnvoll und notwendig anerkannt; vg!. j. H. Kaiser, Die Reprasen tation organisierter Interessen, 1956, S. 338 f.; Drath, Artikel "Staat", in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2114-2149 (2122 f.); Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 140 f., S. 146; Henke, Das Recht der politismen Parteien, 2. Auf!. 1972, S. 1 H.; auch wohl H. Kruger, Staatslehre, 2. Auf!. 1966, §§ 30 und 32, ungeachtet seiner besonderen, sehr stark auf versmiedene Bewulhseinsinhalte abhebenden Begriffsvorstellungen von "Staat" und "Gesellsmaft". Weitergehend, i. S. eines modifizierten Dualismus, Isensee, Subsidiari tatsprinzip und Verfassungsremt, 1968, S. 154. Untersmeidung von Staat und Gesellsmaft als Bedingung individueller Freiheit 9 und Gesellschaft eine Bedingung individueller Freiheit, und die zweite Frage: Inwieweit ist die Realisierung dieser Unterscheidung verfassungs theoretisch und verfassungsorganisatorisch auch heute noch moglich? Ais Ausgangspunkt ftir die Beantwortung der ersten Frage erscheint es notwendig, einen Blick auf die Entstehung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu werfen. Aus ihrer Genesis laBt sich am ehesten der Zu gang zu Inhalt und Funktion dieser Unterscheidung gewinnen. Ich werde also zunachst tiber die Entstehung der Unterscheidung von Staat und GeseIl schaft und dann tiber Inhalt und Funktion dieser Unterscheidung sprechen. I. N ehmen wir die gangigen Werke des Marxismus-Leninismus zur Hand, so erscheinen "Staat" und "Gesellschaft" als Kategorien einer allgemeinen Sozial- und Geschichtstheorie, die ftir aIle Zeitepochen und Gesellschafts formationen nach dem Urkommunismus und bis zur klassenlosen kommu nistischen Gesellschaft anwendbar sind Khnlich ist es, wenn wir die alter en 5. Lehrbticher der Rechts- und Verfassungsgeschichte befragen. Dort ist von "Staat" und "Gesellschaft" bei den Germanen im Frankenreich, im hohen Mittelalter die Rede Ebenso sind uns wissenschaftliche Werke gelau- 6. 5 Siehe etwa Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Lehrbuch, Berlin-Ost 1964, S. 174 ff., S. 183 ff.; Grundlagen der marxistischen Philosophie, Berlin-Ost 1965, S. 470 ff., 482 ff. Diese Verallgemeinerung ist eine Folge der Um- und Fortbildung der urspriinglim histo rism-konkreten Einsichten und Diagnosen von Marx und Engels zu einem geschlossenen Lehrgebaude und System. In den Friihschriften Marx' ist der gesmimtliche, der europa ischen Neuzeit zugehorige Ursprung des Staates und der Gegeniiberstellung von Staat und Gesellschaft in erstaunlichem MaEe bewuBt, vgl. etwa die Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie (Friihschriften, ed. Landshut, 1953, S. 85 ff., 96 ff.) und die erste Smrift zur Judenfrage (ebd. S. 196-199). Ein Ansatz zur Verallgemeinerung findet sich im Manifest der Kommunistismen Partei (vgl. Marx-Engels, Ausgewahlte Schriften, Bd. 1, Berlin-Ost 1960, S. 23 ff.); naher ausgefiihrt wurde sie in den Schriften von Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884 (Ausg. Berlin-Ost 1953, insbes. S. 168-173) und: Herrn Eugen Diihrings Umwalzung der Wissenschaft (Anti-Diihring), 1878 (Ausg. Berlin-Ost 1958, S. 347 f.). Aus dies en "Quellen" gelangte sie dann in das System des Marxismus-Leninismus, wie die mehrfachen Bezugnahmen bei Lenin, Staat und Revolution, Kap. I, erkennen lassen. 8 Siehe Heinrich Brunner, Deutsche Remtsgeschimte, Bd. 1, 2. Aufl. 1906, Bd. 2, 2. Aufl. (bearb. v. Claudius v. Schwerin) 1928; Georg v. Below, Der deutsche Staat des Mittel alters, Bd. 1, 1914; Schroder-v. Kiinpberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgesmichte, 7. Aufl. 1932; Schwerin-Thieme, Grundziige der deutschen Rechtsgeschichte, 1949; aum nom H. Conrad, Deutsme Rechtsgesmichte, Bd. 1: Friihzeit und Mittelalter, 1952,2. Aufl. 1962. Die prinzipielle Kritik hierzu bei Otto Brunner, Land und Herrschaft, zuerst 1939, 3. Aufl. 1943, S. 124 ff.; ders., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfas- 10 Ernst-Wolfgang Bockenforde fig, die tiber den "Staat" bei den Romern und in der Antike gehandelt haben 7. Demgegentiber ist festzuhalten, daB die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft das Ergebnis eines verfassungsgeschichtlichen Vorgangs ist, der der europaischen Neuzeit zugehort Erst in der europaischen Neuzeit hat 8. sich' wie gleich zu zeigen sein wird, die Unterscheidung von Staat und Ge sellschaft herausgebildet. Das bedeutet zugleich' daB nur unter bestimmten Gegebenheiten der politisch-sozialen Ordnung von einer Unterscheidung von Staat und Gesellschaft sinnvoU gesprochen werden kann, und nur solange, wie diese Gegebenheiten der politisch-sozialen Ordnung fortbestehen. Ferner ist damit gesagt, daB es sich bei der Unterscheidung von Staat und Gesell schaft nicht urn eine gedankliche Abstraktion, eine bloBe Vorstellung han delt, sondern urn einen Vorgang, der der realen Wirklichkeit angehort. 1. Welches ist nun der geschichtliche Vorgang, der zur Unterscheidung und Gegentiberstellung von Staat und Gesellschaft geftihrt hat? Die vielfach zerstreuten, je begrenzten Herrschaftsbefugnisse tiber Land und Leute, die die mittelalterliche und friihneuzeitliche politisch-soziale Ord nung kennt, wurden in einem langeren, in seinen einzelnen Stadien wechsel voUen historischen ProzeB zunehmend bei einer Person bzw. Instanz kon zentriert und planmaBig zu einer umfassenden Herrschaftsgewalt ausgebaut und organisiert. Auf diese Weise verwandelte sich die herrschaftlich-politisch durchformte Gesellschaft des Mittelalters und der frtihen Neuzeit, die "societas civilis cum imperio", in die neue einheitliche Untertanengesell schaft, die "societas civilis sine imperio" In dieser Gesellschaft tibten nicht 9. mehr einzelne als solche tiber andere einzelne Herrschaftsrechte aus, sondern sungsgeschichte: MItiG, Erg. Bd. 14 (1939) = H. Kampf (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, 1956, S. 1-19; Ernst Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff, 1949, S.21-49. 7 Statt anderer Th. Mommsen, Romisches Staatsrecht, 3 Bde, 3. Aufl. 1887; G. Ostrogorski, Geschichte des Byzantinischen Staates, 1940; Ernst Mayer, Romischer Staat und Staats gedanke, 1948, 3. Aufl. 1964. 8 Die klassische Formulierung und Feststellung immer noch bei Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 260 mit Zus., § 183 mit Zus. (Ausg. Gans, S. 338 und 2621263). Aus der staatsrechtlichen und verfassungsgeschichtlichen Literatur Hermann Heller, Staats lehre, 1934, S. 125-139; Otto Brunner, Die Freiheitsrechte in der altstandischen Gesell schaft = ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 187-198. 9 Dber diesen strukturellen Vorgang im einzelnen O. Brunner, a.a.O. (N. 8), S. 187-198; E. Angermann, Das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft im Denken des 18. Jahrhunderts: ZPo11963, S. 89 ff.; Ferner - begriffsgeschichtlich orientiert - M. Rie del, Hegels "biirgerliche Gesellschaft" und das Problem ihres historischen Ursprungs: ARSP, Bd. 48 (1962), S. 539-566 (542 ff.).

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