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Die unanständige Gelehrtenrepublik: Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit PDF

269 Pages·2007·4.041 MB·German
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J.B.METZLER Martin Mulsow Die unanständige Gelehrtenrepublik Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02182-3 ISBN 978-3-476-05261-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-05261-2 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2007Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2007 www.metzlerverlag.de [email protected] Meiner Münchner Tafelrunde: Anselm, Christoph, Gerhard und Andreas Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1. Unanständigkeit. Mißachtung und Verteidigung der guten Sitten in der Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Philologische Libertinage. Kommentarparodien und ›wildes Denken‹ von Berni bis Saint-Hyacinthe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3 Innenansichten der Gelehrtenrepublik. Soziales Wissen, Wahrnehmungen und Wertungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4. Vom Lohn der Frechheit. Philosophische Innovation aus dem Geist der Satire. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5. Von der Tischgesellschaft zum Oberseminar. Zur historischen Anthropologie mündlicher Wissenschaftskommunikation . . . . . . . . . . . 121 6. Netzwerke gegen Netzwerke. Polemik und Wissensproduktion im politischen Antiquarianismus um 1600. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 7. Der ausgescherte Opponent. Akademische Unfälle und Radikalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8. Wissenspolizei. Die Entstehung von Anonymen- und Pseudonymen-Lexika im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 VI Vorwort Anthropologie der Wissenschaft kann heute in vielerlei Gestalt auftreten. Sie kann eine Geschichte der Rationalität und ihrer Grundbegriffe wie »Objekt«, »Beweis« oder »Tatsache« bieten, die nicht mehr im Sinne trockener Logikbücher, sondern als Bündel kultureller Praktiken gehandhabt werden. Sie kann die menschliche Dimension hinter den strengen Formeln und Argumentationen offenlegen, nicht im Sinne einer simplen Psychologisierung, sondern mit dem wachen Blick auf rituelle Komponenten, auf praktische Logiken des Opportunismus, auf stilistische Vorlieben. Eines ist auf jeden Fall deutlich: Vorreiterin bei der Erkundung neuer kultur- wissenschaftlicher Möglichkeiten, die Geschichte der Wissenschaften zu schrei- ben, ist meistens die Frühneuzeitforschung. Die Frühe Neuzeit ist auf der einen Seite fern genug, um die Alterität der in ihr zu beschreibenden Phänomene evi- dent werden zu lassen. Auf der anderen Seite aber bietet sie, anders als Antike und Mittelalter, eine solche Fülle an Quellen, daß es fast jederzeit möglich ist, mit unterschiedlichsten Methoden den Akteuren nahezukommen, ihren Schlichen nachzuspüren und ihre Kontexte zu erfassen. Wissenschaftsgeschichte wird immer noch schnell mit der Geschichte der Naturwissenschaften identifiziert. Doch anders als das englische »history of sci- ence« läßt der Begriff hierzulande mit gleichem Recht die Geisteswissenschaften zu. In diesem Band nehmen die frühneuzeitlichen Geisteswissenschaften wie Philologie, Geschichte oder Theologie einen großen Raum ein. Das entspricht ihrer Bedeutung als Leitwissenschaften im 17., zum Teil auch noch im 18. Jahr- hundert. Genau genommen aber geht der Terminus »Geisteswissenschaften«, der Charles P. Snows Rede von den »zwei Kulturen« impliziert, in seiner Anwendung auf die Frühe Neuzeit in die Irre. Was dort Gelehrsamkeit, eruditio, war, steht noch diesseits der Scheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Einige der Essays dieses Bandes werden zeigen, daß es gerade typisch für die »undiszi- plinierte« wissenschaftliche Aufmerksamkeit der Frühen Neuzeit gewesen ist, zwi- schen Naturforschung, Rhetorik und Theologie nicht zu trennen, sondern zu oszillieren. Gelehrsamkeit ist in der Epoche des Barock und der beginnenden Aufklä- rung das Geschäft der Gelehrten; sie ist eine Praxis, die nicht im Elfenbeinturm stattfindet, sondern in jener Kommunikationsgemeinschaft, die sich »Respublica literaria« oder »République des lettres« nannte. Diese Gemeinschaft hatte ihre Regeln der Inklusion und der Exklusion. Und diese Regeln sind es, die den Blick VII Vorwort des historischen Anthropologen auf sich lenken. Wer wurde geduldet, wer wurde verstoßen? Wie vertrug sich das Ethos der Toleranz der Gelehrtenrepublik mit den Reaktionen, die sie zeigte, wenn sie in ihrem Standesbewußtsein provoziert wurde? Wie verhielten sich die Praktiken der Gelehrten, oder ihr »Self-Fashio- ning«, zu den Idealen, die sie auf ihre Fahnen schrieben? Die These der in diesem Band versammelten Essays, die sich im Titel reflek- tiert, besagt, daß es eine Dialektik der Ausschließung gegeben hat. Wenn die Gelehrtenrepublik mit Außenseitern jenseits ihres Wertkodexes, also »Unanstän- digen« konfrontiert war, dann wurde sie selbst schnell unanständig, denn sie praktizierte Gewalt – symbolische oder reale –, die keineswegs ihren Idealen ent- sprach. Eine weitere These möchte einen Konnex zwischen der Pluralisierung von Wissensansprüchen einerseits und manchen »undisziplinierten« und »unan- ständigen« Verhaltensformen in der Gelehrtengemeinschaft andererseits herstel- len: Man kann die Relativierung von Normen und die Produktion mehrdeutiger Sprechakte als Reaktion auf eine pluralisierte epistemische Situation begreifen, als Weigerung, sich eindeutigen Autoritätsvorgaben zu beugen. Indem auf diese Weise die Analysen von Wissenschaftskommunikation, von Pluralisierung und von devianten Formen von Intellektualität verschränkt werden, hoffe ich, neue Wege zwischen Ideengeschichte und historischer Anthropologie zu erkunden. Nicht zuletzt bin ich am ideengeschichtlichen Mehrwert interessiert, den die »Un- anständigkeit« hervorgebracht hat. Ein solcher Mehrwert, der sich beobachten läßt, geht in die Richtung von Radikalisierung. Aus satirischer oder obszöner Abweichung konnte echte Kritik an sozialen, politischen oder religiösen Verhält- nissen werden. Ein anderer Mehrwert schlägt sich in wissenschaftlicher Innova- tion oder literarischer Kreativität nieder. Das erste Kapitel spürt einigen Reaktionen nach, die durch Frechheit, Ob- szönität, Heterodoxie oder sexuelle Freizügigkeit ausgelöst wurden. Man sieht, daß die Spanne dessen, was provozierend wirken konnte, von realen Beleidigun- gen bis zu dogmatischen Differenzen reichen konnte. Ebenso wies die Skala der möglichen Reaktionen Formen klassifikatorischer Gewalt bis hin zur Vernich- tung der sozialen Existenz auf. Die moralische Ökonomie der Gelehrtenrepublik hatte bestimmte ›innere Grenzen‹, die meist selbst nicht thematisiert worden sind. Im zweiten Essay wird ein neuer Begriff eingeführt. ›Philologische Liberti- nage‹ soll ein Verhalten kennzeichnen, das sich im gelehrten Bereich Freizügigkei- ten erlaubt, ohne in toto auf Konfrontationskurs zur Gesellschaft zu gehen. Ist dies die ›sanfte Variante‹ der Unanständigkeit gewesen? War sie wirklich nur der Zeitvertreib von hart arbeitenden Wissenschaftlern, die ein Ventil für allzu ernste Arbeit benötigten? Oder besaß diese Art von Freizügigkeit ein eigenes subversi- ves Potential? Der Essay forscht den geistesgeschichtlichen Nischen nach, in denen solche Libertinage gedeihen konnte. Vor allem in Parodien auf allzu ge- VIII Vorwort lehrte Kommentare und in ironischen Abhandlungen über schlüpfrige Gegen- stände werden Beispiele von philologischer Libertinage gefunden: Kommentare, die sich nicht scheuen, mit sexuellen Doppelbedeutungen zu operieren oder ge- wagte Konjekturen anzustellen. Der dritte Beitrag nimmt sich der Alltagsgeschichte der Gelehrten an. Er nutzt die beobachtende »Feldforschung« zweier zeitgenössischer Reisender, um durch ihren Blick hindurch die anthropologische Analyse der Wissenschaftler möglich werden zu lassen. So entsteht ein Blick hinter die Kulissen und Fassaden, der uns einen Kontrast zu den offiziellen Selbstaussagen der Gelehrten an die Hand gibt. Gelehrte haben spezifische Streitstile und spezifische Stile der Selbst- inszenierung entwickelt, doch selten haben sie sich dabei in die Karten schauen lassen. Nach außen gaben sie sich als die seriösen Wissenschaftler, wie es von ihnen erwartet wurde. Die Innenansicht sah anders aus. In den Jahren, in denen die Demaskierung von solchen Wissenschaftlern mehr und mehr praktiziert wurde, etablierte sich der Begriff von der »Charlatanerie« der Gelehrten. An die Ränder der Seriosität führt auch der vierte Essay – genauer ins schil- lernde Gebiet des »Ioco-Seriösen«. Die ioco-seria-Kultur blühte an den margina- len Stellen des Akademischen: beim Zeitvertreib, in den Studentenzirkeln, oder als Sahnehäubchen des Humanismus. Doch diese Marginalstellen konnten auch inhaltliche Marginalstellen der Gelehrtenkultur sein: neue oder heterodoxe Ein- sichten, die man nur als »Scherze« – oder eben als halb ernste, halb scherzhafte Äußerungen (»ioco-seria«) – zu verkaufen können meinte. Der Essay zeigt, daß die Mimese des heterodoxen und libertinistischen Denkens an den harmlos- scherzhaften Zeitvertreib nicht ohne Erfolg geblieben ist. Manche der Innovatio- nen der frühneuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft besitzen eine ioco-seri- öse Vorgeschichte. Dieser Essay führt die Gedanken zum ›wilden‹ oder ›burlesken‹ Denken wei- ter, die im zweiten Essay entwickelt worden sind. Unter solchem Denken ver- stehe ich das bewußte Herstellen von Mesalliancen (Ähnlichkeitsbeziehungen, die intellektuell und gesellschaftlich nicht geduldet sind). Diese Mesalliancen entste- hen bevorzugt im geschützten Raum des Ioco-Seriösen, des privaten Kabinetts, der kleinen Freundeszirkel oder der parodistischen Rituale, können dann aber auf ernsthafte theoretische oder gesellschaftliche Kontexte übergreifen. Dies ist dann der ›Mehrwert‹, der große Veränderungen bewirken kann. Daran, die Perspektive des Offiziellen und Ernsthaften zu überwinden und in die Grauzonen der Kommunikation einzudringen, ist auch dem fünften Kapi- tel gelegen. Es konzentriert sich auf kleine mündliche Zirkel, gesellige Tischrun- den von Professoren mit ihren Studenten. Welche Spielräume von Freiheit und abweichendem Verhalten waren in solchen Runden möglich? Welche neuen Ideen entwickelten sich aus ihnen? Es entsteht eine neue Perspektive auf die Art, Gei- stesgeschichte zu schreiben: eine Geistesgeschichte der informellen Kommunika- IX Vorwort tion, aus der heraus erst jene Kristallisationen entstanden sind, die das Objekt herkömmlicher Geschichtsschreibung ausmachen. Der sechste Essay nimmt die Idee, Gelehrte in ihren Netzwerken und sozi- alen Zusammenhängen zu betrachten, auf und führt sie weiter. Gelehrtennetz- werke, so die These, waren in der Frühen Neuzeit oftmals Vektoren, die pole- misch auf ein entgegengesetztes Netzwerk ausgerichtet waren. Aktivitäten und Ideenproduktion innerhalb dieser entgegengesetzten Netzwerke bezogen ein Gut- teil ihrer Motivation und Energie aus der Aktivität gegen den gemeinsamen ›Feind‹. Das galt vor allem in der hohen Zeit des konfessionalisierten Europa, im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Das gewählte Beispiel, der politische An- tiquarianismus im Kontext der Auseinandersetzung um die Macht des Papstes, macht deutlich, wie neue Gedanken eher als Nebenprodukte in diesem oft mit ›unanständigen‹ Mitteln geführten Machtkampf entstanden sind. In der siebten Studie wird die Frage gestellt, wie mit der Pluralisierung von Weltbildern und Wahrheitsansprüchen umgegangen worden ist. Konnte Plurali- sierung »ausgehalten« werden? Haben sich junge Intellektuelle, die durch neue Ideen vom Weg des allgemein anerkannten Konsenses abgebracht worden waren, als »Drifter« entpuppt, die unter der Verunsicherung gelitten haben, oder als »Surfer«, die trotz aller Ambivalenzen produktiv mit der Situation umzugehen wußten? Wie ist es überhaupt dazu gekommen, daß aus den doch pluralisierungs- gesicherten akademischen Veranstaltungen hin und wieder heterodoxe und »un- anständige« Absolventen hervorgegangen sind? Das letzte Kapitel kehrt schließlich in gewisser Weise wieder zum Ausgangs- punkt zurück. Erneut geht es um die Ausschließung aus der Gelehrtenrepublik. Doch nun wird beobachtet, auf wie enge Weise die Ausschließung mit den zen- tralen Aktivitäten und Praktiken der Gelehrsamkeit selbst verbunden ist. Es war nämlich im späten 17. Jahrhundert geradezu Mode, bibliographische Jagd auf pseudonyme Autoren zu machen. Diese Jagd wurde als Gemeinschaftsunterneh- men zelebriert, verstärkte also intern noch die Sozialintegration der Gelehrtenre- publik. Doch tat sie dies auf dem Rücken der klassifizierten Opfer. Zwar waren die meisten Pseudonyme und Anonyme bereits eine Sache der Vergangenheit, doch auch unter den Zeitgenossen gab es noch genügend Personen, die Grund hatten, ihren Namen auf dem Titelblatt ihrer Schriften zu verbergen. Diese Au- toren bekamen den detektivischen Scharfsinn ihrer Jäger zu spüren. Ein später Trost für sie dann nur, wenn der Historiker ex post feststellen muß, daß gerade die wissenspolizeilichen Jäger es waren, die die Kunde über die versteckten Au- toren – und damit auch ihre Thesen – in die Aufklärung und über sie in die Gegenwart getragen haben. Die hier versammelten Essays sind zu unterschiedlichen Gelegenheiten entstan- den, doch entspringen sie einem gemeinsamen Forschungsvorhaben. Einige sind X

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