zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3 Walter Demel Die Spezifika des europäischen Adels Erste Überlegungen zu einem globalhistorischen Thema urn:nbn:de:0009-9-2440 Der Beitrag versucht die Besonderheiten des europäischen Adels zu eruieren, indem er ihn mit Eliten in Russland, dem Osmanischen Reich, Indien, China und Japan vergleicht. Folgende Eigenheiten erscheinen demnach als charakteristisch für den europäischen Adel: Er war zu einer besonderen ("standesgemäßen") Lebensweise verpflichtet, genoss rechtlich fixierte Privilegien und übte in erblicher Form Herrschaft aus. Überdies war er in abgeschlossenen Korporationen organisiert ("Stände"), und im Rahmen dieser "ständischen" Korporationen pochte er auf politische Partizipation. Dabei erscheint gerade die vielfältige, "verfassungsmäßig" abgesicherte politische Mitsprache adeliger Korporationen als das, was den Adel Europas im globalen Vergleich bis gegen 1900 als einzigartig kennzeichnete. <1> Jeder Historiker, der sich mit europäischer Geschichte beschäftigt, stößt auf den Adel. "Europäisch" meint hier einen im Westen des eurasischen Kontinents gelegenen geographischen Raum mit fluktuierenden Grenzen und, im Osten (Russland) und Südosten (Byzanz, Osmanisches Reich), breiten Übergangszonen. Dieser Raum zeichnet sich durch politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gemeinsamkeiten bzw. Verflechtungen aus, die sich seit dem Mittelalter entwickelt haben. Zu den sozialen Gemeinsamkeiten bzw. Verflechtungen gehört das, was ich "europäischer Adel" nenne.1 Dessen – natürlich idealtypisch gezeichnete 1 Epochenübergreifende Darstellungen zum europäischen Adel: Michael L. Bush: The European Nobility, 2 Bde., New York bzw. Manchester / New York 1983/88; Jonathan Dewald: The European Nobility, 1400–1800, Cambridge / New York / Melbourne 1996; Otto Gerhard Oexle / Werner Paravicini (Hg.): Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa, Göttingen 1997; Jonathan Powis: Der Adel, Paderborn / München 1986; Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990. Die folgenden Abschnitte <1> bis <12> resümieren Ausführungen, die in Walter Demel: Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2005, gemacht wurden. Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels – Merkmale sollen zunächst skizziert und dann mit den Charakteristika "außereuropäischer" Eliten verglichen werden. Der Glaube an die Vererbbarkeit hervorragender Eigenschaften <2> Die Ideen, die diesem Adel zugrunde liegen, spiegeln sich in den Wortfeldern, denen die drei in allen romanisch-germanischen Sprachen existierenden Bezeichnungen dieses sozialen Phänomens angehören, nämlich Adel, Nobilität und Aristokratie: Man ist "edel" im Vergleich zum (all-)"gemeinen" Volk, fällt auf (lat. no(ta)bilis) durch Bekanntheit und "nobles" also vornehmes, großmütiges Verhalten und bildet schließlich in Bezug auf hervorragende menschliche Eigenschaften – Talente, Tugenden, Tüchtigkeit auf unterschiedlichen Gebieten – eine Gemeinschaft der "Besten" (griech. aristoi).2 Der Adel als Denkform basierte auf der Überzeugung von der Vererbung der besagten hervorragenden Eigenschaften.3 Deshalb sprachen manche Adelstheoretiker von einer besonderen, etwa blaublütigen "Rasse". Daraus ergab sich geradezu zwangsläufig ein Anspruch dieser Elite auf Vorrechte, die ebenfalls erblich sein sollten.4 Kriegertum und Multifunktionselite <3> In der sozialen Realität entwickelte sich dieser Adel aus römischen und germanischen, ethnisch gesehen teilweise auch aus slawischen Wurzeln. In römischer Tradition war der Adelige Repräsentant der "öffentlichen Gewalt", damit orientiert auf einen "ersten Mann" im "Staate". In den germanischen Reichen aber bedeutete "Königsdienst" primär militärische Gefolgschaft. Was sich im Frühmittelalter als Adel herausbildete, war 2 Vgl. Werner Conze / Christian Meier: Adel, Aristokratie, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1970, 1-48, hier 1f., 9. 3 Otto Gerhard Oexle: Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Wehler: Adel (wie Anm. 1), 19-56, hier 21f.; Monique de Saint Martin: Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz 2003, 22, 275f. 4 Zur Idee einer adeligen Rasse vgl. Guy Chaussinand-Nogaret: Une histoire des élites 1700-1848, Paris / La Haye 1975, 24f. Zum Elite-Begriff: Thomas Burton Bottomore: Elite und Gesellschaft, München 1966. Günter Endruweit: Elite und Entwicklung. Theorie und Empirie zum Einfluß von Eliten auf Entwicklungsprozesse, Frankfurt a. M. / Bern / New York 1986, 22-33, definiert Elite als eine durch einen Ausleseprozess gewonnene, in der Regel als positiv bewertete Minderheit und unterscheidet Eliten dann nach unterschiedlichen Kriterien (Wertelite, Leistungselite, Machtelite usw.). Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels dementsprechend eine Gemeinschaft von Kriegern – allerdings nicht nur dies. Denn der Adel stellte eine multifunktionale Elite dar.5 Er dominierte durch seine Ämter und seine Macht politisch und militärisch, durch seinen Herrschaftsbesitz ökonomisch, durch sein überlegenes Prestige sozial und durch das Vorbild seiner Lebensweise und sein Mäzenatentum auch kulturell. Insbesondere beherrschte er auch die römische Kirche, indem er – wenigstens in katholischen Ländern bis in die Umbruchszeit um 1800, im Falle des Papsttums noch länger – die Masse der geistlichen Würdenträger stellte.6 "Adelige Elite" als Herrschaftsträger <4> In welcher Stellung auch immer – Adelige waren geborene Herrschaftsträger. Zwar fächerte sich die einheitliche Herrengewalt seit dem Hochmittelalter immer mehr in unterschiedliche Herrschaftsrechte auf (Grundherrschaft, später auch Gutsherrschaft, Leibherrschaft, Patrimonialgerichtsbarkeit etc.). Aber weiterhin unterlag deren Ausübung durch Nichtadelige in der Regel bestimmten Einschränkungen.7 Denn die Herrschaft von Adeligen war zunächst einmal wenigstens faktisch autonom, nicht abgeleitet, und daher erblich. Eine Elite, die eine solche Herrschaft ausübt, nenne ich "adelige Elite". Darüber hinaus übten Adelige im Dienst von Königen, Fürsten, Kirchen oder Korporationen natürlich auch eine "fremde", "verliehene" oder delegierte Herrschaft aus – bis hin zu den adeligen "Staatsbeamten" des 19./20. Jahrhunderts. 5 Karl-Ferdinand Werner: Naissance de la Noblesse. L’essor des élites politiques en Europe, 2. Aufl., Paris 1998, IIf., 19, 89, 122f., 150f., 325f., 508; ders.: Adel – "Mehrzweck-Elite" vor der Moderne?, in: ders.: Einheit der Geschichte, Sigmaringen 1999, 120-135; Friedrich Prinz: Klerus und Krieg im frühen Mittelalter, Stuttgart 1971; ders.: Europäische Grundlagen deutscher Geschichte (4.-8. Jahrhundert) (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. I, Abschnitt II), 10. Aufl., Stuttgart 2004, 470-477; Werner Hechberger: Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter (= Enzyklopädie deutscher Geschichte Bd. 72), München 2004, 5-15, 63-72. 6 Zur adeligen Kirchenherrschaft im Reich: Johannes Rogalla v. Bieberstein: Adelsherrschaft und Adelskultur in Deutschland, Limburg an der Lahn, 3. Aufl., 1998, 130-163. 7 Wenn im 18. Jahrhundert ein bürgerlicher Erwerber eine bayerische Hofmark kaufte, konnte er die damit verbundenen Gerichtsrechte nicht ausüben, erwarb er ein sächsisches Rittergut, erhielt er damit nicht das Landtagsprivileg. Hans Rall: Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung 1745-1801 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 45), München 1952, 353f.; Axel Flügel: Bürgerliche Rittergüter. Sozialer Wandel und politische Reform in Kursachsen (1680-1844) (Bürgertum, Bd. 16), Göttingen 2000, 76, 81, 197-209. Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels Aber erst ab 1789 setzte sich das Gewaltmonopol des Staates durch. Damit gingen dem europäischen Adel seine "eigenen" Herrschaftsrechte verloren, aus denen er einen Teil seines Selbstverständnisses bezogen hatte. Seine Berufung war es nämlich, selbst zu herrschen und / oder einem Höheren zu dienen. Körperliche Arbeit war dagegen stets verpönt, zunächst fast ebenso sehr eine geschäftliche Aktivität außerhalb der Verwertung von Produkten, die auf eigenen Grund und Boden erzeugt wurden. Selbst Fernhandel galt, zumindest außerhalb Italiens, lange Zeit als mehr oder minder "unstandesgemäß".8 Der europäische "Adelsstand" <5> Seit dem 11./12. Jahrhundert bildete sich der Adel nämlich als Stand im rechtlich-sozialen Sinne aus, als "Adelsstand".9 Das heißt, er setzte sich von der übrigen Bevölkerung ab durch eine besondere, ihn verpflichtende Lebensweise (siehe <6-8>) sowie durch erbliche und rechtlich fixierte Privilegien, die ihm meist, aber nicht allesamt durchgängig und nicht immer exklusiv zustanden: 1. Ehrenvorrechte (besondere Anrede bzw. Titel, ein bevorzugter Platz in der Kirche, Wappen etc.), 2. Privilegien jurisdiktioneller Art (Standesgerichte, weder Folter noch "unehrenhafte" Strafen), 3. Monopole auf bestimmte Herrschafts-, speziell Gerichtsrechte, weitgehend auch auf höhere Ämter im fürstlichen oder kirchlichen Dienst oder auf gewisse Formen des Grundbesitzes (Lehen, Rittergüter) samt dem Jagdrecht auf fremdem Grund, 4. besondere erbrechtliche Normen (Bevorzugung des Erstgeborenen, Fideikommisse), die das adelige Familienvermögen in vielen europäischen Ländern über lange Zeiträume zusammenhielten, 5. Befreiung von staatlichen Lasten (wie Steuern, Fronen, Einquartierungen oder dem persönlichen Milizdienst).10 Adelsehre und Adelsfamilie <6> 8 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Handelsgeist und Adelsethos. Zur Diskussion um das Handelsverbot für den deutschen Adel vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), 272-309. 9 Martin Aurell: La noblesse en Occident (Ve – XVe siècle), Paris 1996, 94-132; Philippe Contamine: La Noblesse au royaume de France de Philippe le Bel à Louis XII, Paris 1997, 21-45. 10 Vgl. Bush: Nobility (wie Anm. 1), Bd. I, der die Privilegien zum Teil ein wenig anders kategorisiert. In Grenzfällen – wie der englischen Gentry oder den ungarischen Szeklern – verfügte eine Gruppe allerdings nur über wenige der angesprochenen Privilegien, zumindest in rechtlich fixierter Form. Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels Schließlich stand seit dem Hochmittelalter nicht mehr die Sippe im Vordergrund, sondern das "Adelshaus", immer häufiger mit patrimonial- linearer Erbfolge. Denn der Adel bestand nicht aus Individuen, sondern aus "Familien", genauer aus "gentes", eben "Geschlechtern" bzw. "Häusern". Unter anderem wurde damit auf einen tatsächlichen oder fiktiven "Stammsitz" der Familie bzw. einen "Stammvater" hingedeutet.11 Andererseits erhoben nun Monarchen Personen für bestimmte Verdienste in den Adelsstand. Für die nachfolgenden Generationen konstituierte die – oft hingebungsvoll gepflegte – kollektive Erinnerung an den oder die großen Ahnen in beiden Fällen das Bewusstsein, etwas Besseres zu sein oder zumindest sein zu sollen.12 <7> Diesen Anspruch dokumentierte schon ein Ehrerbietung erheischendes Äußeres: wertvoller Schmuck, luxuriöse Kleidung (entsprechend frühneuzeitlichen Kleiderordnungen), Perücke usw. Man aß nicht, man speiste – nach Möglichkeit Herrenspeisen (Edelfische, Wild) – mit edlem Geschirr, nicht auf einfachen Holztellern, man ging nicht, man ritt aus usw. Ostentativer Konsum prägte die Architektur und das Innere der Wohngebäude ebenso wie die Teilnahme an bestimmten städtischen oder höfischen Vergnügungen.13 Schließlich gehörte es zum Adel, nicht nur den eigenen Rang zu wahren, sondern nach Möglichkeit eine Rangerhöhung zu erreichen. <8> Entscheidend für den (Vor-)Rang einer Adelsfamilie war zunächst einmal deren Alter, sozusagen das von den Vorfahren kumulierte "symbolische Kapital der Ehre" (P. Bourdieu). Ihm sollte jedoch jede Generation möglichst viel hinzufügen. Was "ehrenhaftes Verhalten" meinte, ergab sich anfangs aus dem Ehrenkodex des Rittertums, als eines Produkts der höfischen Laienkultur des Hochmittelalters.14 Auf die Vermittlung derartiger adeliger Werte war die ganze Erziehung und Ausbildung des adeligen Nachwuchses gerichtet. Speziell für die 11 Oexle: Aspekte (wie Anm. 3), 27-30; Werner: Naissance (wie Anm. 5), 458f. 12 Contamine: Noblesse (wie Anm. 9), 65-84; Saint Martin: Adel (wie Anm. 3), 25. 13 Vgl. z. B. Werner Paravicini: Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 32), München 1994, 8-10; Timothy Reuter: Nobles and Others: The Social and Cultural Expression of Power Relation in the Middle Ages, in: Anne J. Duggan (Hg.): Nobles and Nobility in Medieval Europe. Concepts, Origins and Transformations, Woodbridge 2000, 85-98, hier 89-93. 14 Paravicini: Kultur (wie Anm. 13), 6-8; Werner: Naissance (wie Anm. 5), 485- 488; Maurice Keen: Das Rittertum, München / Zürich 1987 (im Original zuerst 1984). Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels männliche Jugend gab es dazu seit dem 16. Jahrhundert mehr oder minder exklusive Bildungseinrichtungen.15 Das Idealbild des Höflings änderte seit dieser Zeit mehrfach seine Form. Was aber blieb, war das allgemeine Prinzip, dass ein Adeliger die eigene Ehre, noch mehr die seiner Familie, notfalls mit Gewalt verteidigen sollte.16 Außerdem hatten Männer wie Frauen, mit Blick auf das Familienvermögen und die Vererbung adeliger Tugenden, der Familie ihr eigenes Interesse unterzuordnen, insbesondere in Fragen einer eventuellen Heirat.17 Prinzipiell war der Adel endogam. "Ständischer Adel" <9> Ebenfalls seit dem Hochmittelalter konstituierte sich der Adel als Stand im politischen Sinn. Ich nenne ihn in dieser Funktion "ständischen Adel".18 Fast überall in Europa entstanden nämlich ständische Korporationen, die auf Reichs- oder Landtagen mehr oder minder häufig und mit größerem oder geringerem Erfolg politische Mitsprache praktizierten. Eine Adelskammer fehlte dabei fast nie, auch nicht in der späteren Entwicklung.19 In einigen Fällen (Polen, Venedig) beherrschte der Adel eine "Republik" sogar praktisch ausschließlich. Noch die konstitutionellen Monarchien des "langen" 19. Jahrhunderts besaßen überwiegend adelig besetzte Oberhäuser, die bei der Legislative mitwirkten. 15 Zur adeligen Bildung: Norbert Conrads: Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 21), Göttingen 1982, bes. 28f., 40-43,80, 243-246; Rudolf Stichweh: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität, Frankfurt a. M. 1991, 261- 284; Rogalla v. Bieberstein: Adelsherrschaft (wie Anm. 6), 283-311. 16 Verwiesen sei nur auf die langdauernde Bedeutung des Duells, das schließlich sogar auf die "bürgerliche Gesellschaft" ausstrahlte. Vgl. Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. 17 Vgl. allgemein: Dewald: Nobility (wie Anm. 1), 168-176; intensiv untersuchtes Fallbeispiel: Heinz Reif: Westfälischer Adel 1770-1860 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 35), Göttingen 1979, 78-122, 240-315. 18 Fallbeispiel etwa: Karl Bosl: Die Geschichte der Repräsentation in Bayern: Landständische Bewegung, Landständische Verfassung, Landesausschuß und altständische Gesellschaft, München 1974. 19 Zu frühneuzeitlichen Ausnahmefällen wie Kastilien oder dem Herzogtum Württemberg vgl. Volker Press: Kaiser Karl V., König Ferdinand und die Entstehung der Reichsritterschaft (Institut für europäische Geschichte Mainz, Vorträge, Nr. 60), Wiesbaden 1976, 16-20; Antonio Domínguez Ortiz: El Antiguo Régimen: Los Reyes Católicos y los Austrias (Historia de España Alfaguara, Bd. III), Madrid 1973, 9. Neudruck 1986, 214. Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels Europäische Strukturen und Verflechtungen der Adelswelt <10> Der "europäische" Adel war "europäisch" durch seine Strukturen und Verflechtungen. Strukturell zerfiel er seit dem Mittelalter in einen Hoch- und einen Niederadel, ohne dass die Zuordnung im Einzelfall immer leicht zu treffen wäre.20 Seitdem bildete sich eine Titelhierarchie aus, die sich über den ganzen Kontinent, wenn auch nach Nord- und Osteuropa mit Verspätung, verbreitete: Herzöge, Markgrafen, Grafen, Freiherren etc. Nur in Polen blieb die rechtliche Gleichheit im Adel äußerlich, mit Blick auf Titel, weitgehend erhalten. Dabei prägten sich gerade hier – wie etwa auch in Ungarn oder Spanien – die Besitzunterschiede zwischen einer Handvoll Magnaten und der Masse eines besonders zahlreichen Kleinadels extrem aus.21 <11> Teilweise unabhängig von der Rangfrage aber zeichnete sich der Adel durch ein hohes Maß an geographischer Mobilität aus. Schon im Mittelalter führten die Kreuzzüge viele Ritter in ferne Länder, in der Frühen Neuzeit gingen zahlreiche junge Edelleute auf Kavalierstour.22 Adelige dienten als Offiziere, aber auch als zivile Amtsträger fremden 20 Hechberger: Adel (wie Anm. 5), 22f., 32; Paravicini: Kultur (wie Anm. 13), 22, 36; Michael Jones (Hg.): Gentry and Lesser Nobility in Late Medieval Europe, New York 1996. 21 Vgl. die einschlägigen Beiträge in: Hamish M. Scott (Hg.): The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, 2 Bde., London / New York 1995; Jean-Stanislas Myciński: La noblesse polonaise de l’Ancien Régime et son évolution, Lille 1992; Edward Opalinski: Die Freiheit des Adels. Ideal und Wirklichkeit in Polen-Litauen im 17. Jahrhundert, in: Ronald G. Asch (Hg.): Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (1600-1789), Köln / Weimar / Wien 2001, 77- 104; Robert J. W. Evans: Der Adel Ungarns in der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert, in: ebd., 345-362; David García Hernán: La Nobleza en la España moderna, Madrid 1992, 20f., 29-38, aber auch ebd., 59, Anm. 36. 22 Werner Paravicini: Die Preußenreisen des europäischen Adels (= Francia, Beiheft 17), 2 Bde., Sigmaringen 1989/95, Bd. I, 24-29; ders.: Von der Heidenfahrt zur Kavalierstour. Über Motive und Formen adeligen Reisens im späten Mittelalter, in: Horst Brunner / Norbert Richard Wolf (Hg.): Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikationen, Sprache (Wissensliteratur im Mittelalter, Bd. 13), Wiesbaden 1993, 91-130; Peter Thorau: Die Kreuzzüge, München 2004, 49-55; Hans Eberhard Mayer: Geschichte der Kreuzzüge, 8. Aufl., Stuttgart 1995, 23-28, 39- 42. Zur Kavalierstour als Fallbeispiel: Katrin Keller: Der sächsische Adel auf Reisen. Die Kavalierstour als Institution adeliger Standesbildung im 17. und 18. Jahrhundert, in: dies. / Josef Matzerath (Hg.): Geschichte des sächsischen Adels, Weimar 1997, 257-274. Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels Fürsten – nicht nur wenn sie sich aufgrund der politischen Verhältnisse in ihrer Heimat zur Emigration veranlasst sahen. Da Adel grundsätzlich Zutritt bei Adel hatte, entstanden so vielfältige Kontakte, die zu Ehen führen konnten. Der Hochadel, gar die Dynasten, suchten sich ihre Heiratspartner ohnehin gern außerhalb der eigenen Region bzw. des eigenen Landes, da sie auf Ebenbürtigkeit achteten. So entstand ein europaweites Netz an Heiratsverbindungen, das nur im 18. / 19. Jahrhundert vielleicht ein wenig ausdünnte.23 Einzelne Herrscherfamilien sind jedoch wahrlich als "europäische" Dynastien anzusprechen. So haben die meisten Länder Europas irgendwann einmal einen Habsburger oder eine Habsburgerin auf ihren Thronen gesehen. Die Merkmale des europäischen Adel <12> Zusammengefasst lässt sich der "europäische Adel" somit als eine Herrschaft ausübende "adelige Elite" mit vielfältigen Funktionen beschreiben, als ein hierarchisierter sozialer und politischer "Stand" mit besonderen Ehrbegriffen, Verhaltensweisen, (Erziehungs-)Idealen, familiären Normen, relativem Reichtum und entsprechend standesgemäßem Aufwand, der geographisch vergleichsweise mobil und daher an der Spitze über große Entfernungen hinweg verflochten war. Adel an der Peripherie Europas: Das russische Bojarentum <13> Russland – das Moskauer Reich – war vor dem 18. Jahrhundert praktisch weder in derartige dynastische Verflechtungen einbezogen, noch besaß sein Adel europäische Strukturen. Das Land hatte anscheinend von Anfang an nur einen Dienstadel, an der Spitze Bojaren, die – einzeln oder in Gruppen – vom Herrscher zu dessen Beratung berufen wurden ("Bojarenduma" ist freilich ein späterer Begriff !). Solange sie, mit ihren Erbgütern, zwischen verschiedenen dienstgebenden Fürsten wechseln konnten, war ihre Position noch relativ stark, wenn auch nicht so stark wie in Kiew oder Nowgorod. Aber ihre interne Konkurrenz, ihre häufige Versetzung an verschiedene Orte, die Expansion des Moskauer Reiches und das Prinzip der Erbteilung schwächten sie. Auch war ihre Herkunft „internationaler“ Natur: Die Moskauer Bojaren entstammten nämlich teils den alten Gefolgschaftsleuten der Zaren, teils den Herrscherfamilien 23 Walter Demel: "European nobility" oder "European nobilities"? Betrachtungen anhand genealogischer Verflechtungen innerhalb des europäischen Hochadels (ca. 1650-1800), in: Wolf Dieter Gruner / Marcus Völkel (Hg.): Region – Territorium – Nationalstaat – Europa, Rostock 1998, 81- 104. Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels bzw. einem Teil der vornehmen Dienstmänner der seit dem 14. Jahrhundert angegliederten Fürstentümer. Über ihre bäuerlichen Gemeinschaften herrschten sie, ohne dass die Zentralgewalt dies – bis ins 19. Jahrhundert hinein – effektiv zu kontrollieren vermochte. Sie bildeten also eine in sich hierarchisierte, multifunktionale, auf lokaler Ebene herrschende "adelige Elite", jedoch keinen anerkannten "Adelsstand". Denn der Bojarenrang pflegte zwar, nach einer gewissen Dienstzeit, an Mitglieder von Bojarenfamilien verliehen zu werden, war aber nicht direkt vererbbar. Natürlich geboten diesen Kreisen Familientradition und der Wille der Herrscher den Dienst für den Zaren. Dieser quasi-erbliche "Dienstadel" umfasste 1681 vermutlich knapp 0,6% der Bevölkerung. Er besaß jedoch nur wenige und eher gewohnheitsmäßig als rechtlich gesicherte Privilegien. Denn auch die Bojaren hatten ihre Stellung und ihr Vermögen spätestens seit Iwan IV., der die Erb- den Dienstgütern anglich, ausschließlich den autokratischen Zaren zu verdanken. Selbst in Zeiten der Unsicherheit, ab 1610 und 1648/49, gelang es ihnen nicht, eine dauerhafte ständische Mitsprache zu etablieren. Der letzte Inhaber eines Bojarenrangs starb 1750.24 Eine "europäische" Elite für Russland: Der petrinische Adel <14> Zar Peter I. hatte nämlich 1722 eine neue Rangtabelle erlassen: Alle militärischen Ränge ab dem Fähnrich und alle höheren zivilen Ämter verliehen den Erbadel, alle niedrigeren zivilen Stellungen ab dem Kollegienregistrator den persönlichen Adel. Die Höhe des Ranges bestimmte die Privilegien, auch wurden eine "europäische" Titelhierarchie eingeführt und damit erstmals Nobilitierungen (mit Titeln wie "Graf") vorgenommen. Doch der militärische und zivile Staatsdienst war noch wenig personalintensiv. So rekrutierte sich das Offizierskorps zunächst weiterhin zu über 80% aus dem Erbadel als einer mächtigen, 24 Harmut Rüss: Adel und Adelsopposition im Moskauer Staat, Wiesbaden 1975; Robert O. Crummey: Die Staatsbedingte Gesellschaft revisited, in: ders. / Holm Sundhaussen / Ricarda Vulpius (Hg.): Russische und Ukrainische Geschichte vom 16.-18. Jahrhundert (Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, Bd. 58), Wiesbaden 2001, 21-27; Geoffrey Hosking: Russia and the Russians, Cambridge/Mass. 2001, 34f., 67-70, 86-96, 112f., 121-124; 138-141; Klaus Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. I: Die Kiever und die Moskauer Periode (9.-17. Jahrhundert), Darmstadt 1987, 84-99; Edgar Hösch: Geschichte Rußlands. Vom Kiever Reich bis zum Zerfall des Sowjetimperiums, Stuttgart / Berlin / Köln 1996, 87-91; Andreas Kappeler: Russische Geschichte, 3. Aufl., München 2003, 17, 20f., 49; Isabel de Madariaga: The Russian Nobility in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Scott (Hg.), Nobilities (wie Anm. 21), 223-273. Ebenso auch zum folgenden: Hans-Joachim Torke: Adel, in: ders. (Hg.), Lexikon der Geschichte Rußlands, München 1985, 11-16. Walter Demel – Spezifika des europäischen Adels aber nicht abgeschlossenen "Herrschaftsklasse". Zumindest anfänglich stärkten die Reformen die alten Bojarenfamilien damit sogar. 1762 wurde der Adel von der Dienstpflicht befreit (was nur eine Minderheit nutzte) und seitdem offiziell mit Privilegien ausgestattet wie dem Monopol auf den Besitz von Land und nunmehrigen Leibeigenen. So entstand erstmals ein russischer "Adelsstand", dessen Rechte jedoch erst in den 1830er Jahren – unvollständig – kompiliert wurden. An der "Gesetzgebungskommission" von 1766/68 und an den 1785 "von oben" eingerichteten Korporationen, die auf Gouvernements- und Kreisebene gewisse Mitwirkungsrechte und -pflichten erhielten, wurde er maßgeblich beteiligt. Das war der Ansatz eines vom Adel indes wenig genutzten politischen Ständewesens nach westlichem Vorbild. Es wurde ab 1864 weiter ausgebaut, allerdings unter Einbeziehung von Zensus-Kriterien. Aber nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 verkaufte ein Großteil des Adels – durch die Ausweitung des Staatsdienstes verfügte Russland nun über rund 1% Erb- und 0,5% Personaladelige – seinen Grundbesitz. Damit war zwar nicht zwangsläufig ein ökonomischer Abstieg verbunden, denn oftmals wurde das Geld in lukrative Geschäfte investiert. Aber das Standesbewusstsein schwand. Mit der Einrichtung der Staatsduma, eines nationalen Parlaments, ab 1906 erhielten die führenden Kreise, darunter vor allem ab 1907 viele Adelige als Gutsbesitzer, erstmals eine formelle Beteiligung an der Staatsmacht, nachdem die Ansätze im 17./18. Jahrhundert gescheitert waren. Diese war jedoch eher theoretischer Natur, denn die Dumaversammlungen wurden mehrfach aufgelöst, u. a. weil sich die Großgrundbesitzer heftig gegen eine Demokratisierung wehrten. Nun hatte Russland also in gewissem Sinne einen "europäischen Adel". Aber der war innerlich gespalten – bis ihn der aus einer Beamtenadelsfamilie stammende Lenin 1917 abschaffte.25 Adel in Südosteuropa <15> 25 Jurij M. Lotman: Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I., Köln / Weimar / Wien 1997 (im Original zuerst 1994), 19-43; Marc Raeff: The Russian Nobility in the Eighteenth and Nineteenth Centuries: Trends and Comparisons, in: Ivo Banac / Paul Bushkovitch (Hg.): The Nobility in Russia and Eastern Europe, in: dies. (Hg.): The Nobility in Russia and Eastern Europe, New Haven 1983, 99-121; Hosking: Russia (wie Anm. 24), 202, 205, 374-378; Kappeler: Geschichte (wie Anm. 24), 24-26, 54f.; Hösch, Geschichte (wie Anm. 24), 160-162, 190-193, 209-214, 276f., 315; John P. LeDonne: Absolutism and Ruling Class. The Formation of the Russian Political Order 1700-1825, New York / Oxford 1991, VIII-XIII, 3-9, 22-28, 297-309; Seymour Becker: Nobility and privilege in late imperial Russia, Dekalb/Ill. 1985, 16-29, 140-143, 158-166, 171-178.
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