Die Reden des Dion von Prusa über Sklaverei und Freiheit (Reden 14 und 15) Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philologischen Fakultät der Universität Trier Fachbereich II Klassische Philologie – Gräzistik vorgelegt von Ivano Loffredo Vorwort Diese Publikation ist die überarbeitete Fassung meiner im Sommersemester 2009 im Fachbereich II der Universität Trier eingereichten Dissertation. Sie entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs 846: „Sklaverei – Knechtschaft und Frondienst – Zwangsarbeit. Unfreie Arbeits- und Lebensformen von der Antike bis zum 20. Jahrhundert“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft großzügig gefördert wird. Ihr und den Verantwortlichen des Kollegs gilt mein Dank. Meine besondere Wertschätzung gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Georg Wöhrle, von dessen fachlicher und persönlicher Betreuung ich sehr profitiert habe, sowie Frau Prof. Dr. Elisabeth Herrmann-Otto, die das Zweitgutachten übernahm und meine Arbeit mit Anregungen und Kritiken stets unterstützt hat. Für die anregenden Diskussionen und für die freundschaftliche Unterstützung danke ich meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen des Graduiertenkollegs, sowie den Kreis der klassischen Philologen der Universität Trier. Für die sprachliche Betreuung bedanke ich mich bei Herrn Peter Willenborg und Frau Annika Stello, die meine Dissertation Schritt für Schritt gelesen und verbessert haben. Frau Fabia Neuerburg und Frau Silvia Carlitz haben meine Arbeit gelesen : Auch ihnen gilt mein Dank. Meiner Frau Barbara und meinem Sohn Gabriele ist diese Arbeit gewidmet. Bozen, im Februar 2015 Ivano Loffredo Inhalt A. Einführung 5 1. Das Leben 6 2. Das Werk 14 2.1 Papyrusfragmente 15 2.2 Zeugnisse verlorener Werke 16 3. ‚Sklaverei’ und ‚Freiheit’ im corpus dioneum 20 3.1 Terminologie 20 3.2 Thematik 31 3.2.1 Die soziale Perspektive 33 3.2.2 Die politische Perspektive 35 3.2.3 Die ethische Perspektive 36 4. Freiheit und Sklaverei in der 14. und 15. Rede 38 5. Die innere Freiheit bei den Zeitgenossen Dions 40 6. Ziel, Publikum und Datierung der Reden 45 6.1 Das Publikum der Reden 49 6.2 Die Datierung der Reden 51 B. Texte und Übersetzungen 55 1. Anmerkungen zum griechischen Text 56 2. Sklaverei und Freiheit I (Rede 14) 58 3. Sklaverei und Freiheit II (Rede 15) 68 C. Kommentare 85 1. Rede 14 86 2. Rede 15 164 D. Anhang 239 1. Literaturverzeichnis 240 3 A. Einführung 5 1. Das Leben Dion Chrysostomos1 kam in den 40er Jahren des 1. Jhs. n.Chr. 2 in Prusa als Sohn einer begüterten und einflussreichen Familie der Bithynischen3 Aristokratie zur Welt. Dion spricht in seinen Werken stolz von den Leistungen seiner Familie. Der Großvater mütterlicherseits hatte in der Verwaltung von Prusa4 eine bedeutsame Rolle gespielt. Dank seiner Freundschaft mit einem römischen Kaiser5, vermutlich Claudius6, hatte sein Großvater die römische Bürgerschaft und das Bürgerrecht von Apameia7 erhalten. Er war gegen seine Stadt sehr großzügig, verschleuderte sein Vermögen in Ausgaben für Prusa8 und bemühte sich, vom Kaiser Vorteile für die Stadt zu gewinnen. Er erreichte allerdings sein Ziel nicht, weil das freundschaftliche Verhältnis zum Kaiser plötzlich abbrach9. Dions Vater, Pasikrates10, Ehrenbürger von Apameia11 wie die Mutter, war ein Stadtverwalter12 und wurde von den Mitbürgern für seinen Einsatz zugunsten der Stadt 1 Den Beinamen Chrysostomos hat Dion nach dem Bericht von Photios (Bibl. 209, 165 b 5-8 Bekker) bereits von seinen Zeitgenossen bekommen. Er erscheint allerdings zuerst bei dem Rhetor Menander (390, 1-2 Spengel) und dann bei Themistios (or. 5, 63 d) und Synesios (Dio 1,2). S. dazu Crimi (1972) 389-393; Desideri (1978) 519. 2 Aufgrund der Rede 12, 15, in der Dion sich als Mann, «dessen beste Lebensjahre bereits hinter ihm liegen» darstellt, vermutet Jones (1978) 133, dass er in jener Zeit 50-60 Jahre alt gewesen sein muss. Wenn man die 12. Rede auf das Jahr 101 datiert (die Datierung ist allerdings umstritten und schwankt zwischen 97 und 105 n. Chr.), kann man annehmen, dass Dion zwischen 40 und 50 n. Chr. geboren ist. Vgl. dazu auch Schmid (1903) 850; Moles (1978) 82 Anm. 27. 3 Nach dem Tod des Königs Kleomedes IV. im Jahr 74 v. Chr. wurden die agri regii zur Bezahlung des Zehnten an die Zöllner verpflichtet. Bereits zehn Jahre später machte Pompeius diese Region zur Provinz Pontus, nachdem er die Pläne des Mithridates VI. für dieses Land zerschlagen hatte; s. dazu Salmeri (1982) 11; Strobel (1997) 700-702; zur Stadt Prusa, dem heutigen Bursa, s. Jones (1978) 1-7. 4 S. or. 50,7. Die Verwaltungsordnungen der povlei" waren auch nach der Unterwerfung unter die römische Herrschaft noch in Kraft, obwohl die kaiserliche Macht Einschränkungen und Kontrollen auferlegte. So bestimmte Pompeius neue Regelungen für den Zugang zur boulhv. Nur die ehemaligen Magistrate und die Bürger über 30 Jahre, die ein öffentliches Amt bekleiden durften, bekamen Zugang zur boulhv. Er wählte so eine begrenzte Gruppe von Bürgern der Oberschicht aus, die Interesse daran hatte, dass alles ruhig blieb, und er machte sie für die örtliche Verwaltung Rom gegenüber verantwortlich. S. dazu Salmeri (1982) 12; Desideri (1994a) 11-12 mit weiterer Bibliographie. 5 S. or. 41, 6; 44, 5; 46, 3. 6 S. dazu von Arnim (1898) 123; Jones (1978) 4. An Tiberius denken dagegen Veyne (1967) 748; Salmeri (1982) 14. 7 Auch die Mutter Dions bekam vom selben Kaiser das Bürgerrecht von Rom und Apameia. S. or. 41,6. 8 Eine übliche Praxis bei den Familien der Oberschicht war, ihr Vermögen zugunsten der Stadt auszugeben. Das Geld wurde für die Liturgien verwendet und auch dazu, um die Veranstaltung von Aufführungen und Festmählern zu organisieren sowie Bauprojekte zu finanzieren. S. dazu Salmeri (1982) 12-13. 9 S. or. 44,5. Der Großvater Dions strebte danach, dass seiner Stadt der Status einer civitas libera gewährt wurde, was später auch Dion versuchte. 10 Der Name ist von Photios (Bibl. 209, 165 a 39-40 Bekker) und in der Suda (s.v. Divwn, oJ Pasikravtou" (n. 1240) II, 117 Adler) überliefert worden. 11 Auch Dion, wie sein Großvater und seine Eltern, war Ehrenbürger von Apameia (s. or. 40, 22 und insbesondere or. 41, 10; dazu Desideri (1978) 454 Anm. 9). Er berichtet, dass es üblich war, dass die einflussreichsten Bürger einer Stadt von einer anderen das Bürgerrecht bekamen. Der Erhalt des Bürgerrechts einer Provinzstadt konnte auch vom Kaiser entschieden werden, wie im Fall von Dions Großvater und Mutter. Da Dion Sohn einer römischen Bürgerin und eines peregrinus war (zum Stand des Vaters s. Sherwin- 6 und sein Ansehen hoch geehrt13. Pasikrates war wohl ein ausgezeichneter Stadtverwalter, er war allerdings kein guter Verwalter innerhalb der Familie, da er Dion viele Schulden hinterließ14. Als Kind einer Familie der Oberschicht erhielt Dion eine gute Bildung. Er hat die drei für die Söhne aristokratischer Familien vorgesehenen Bildungsstufen durchlaufen: Zuerst die Grundschule, dann die Schule des Grammatikers und des Rhetors15. Obwohl Dion nie von seiner literarischen Ausbildung spricht, lässt sich aus der Stilebene seiner Reden16 und aus den von ihm selbst erteilten Ratschlägen über die für einen Politiker wichtigen Lektüren erschließen, dass er sich während seiner literarischen Ausbildung mit den Historikern Herodot, Thukydides, Xenophon und Theopomp, mit den Rhetoren Hypereides, Aischines und Lysias so wie mit den homerischen Epen und den Dramen Euripides’ und Menanders beschäftigte17. Um seine Ausbildung zu vervollständigen, begab er sich Ende der 60er Jahre18 nach Rom und ließ in Prusa seine Frau und seine Kinder19 zurück. In der Hauptstadt des Römischen Reiches war er Schüler des Stoikers Musonius Rufus20 und bekam eine vollständige philosophische Ausbildung. Philostrat berichtet, dass er während der Jahre seines römischen Studiums nach Alexandria gekommen sei und an einem Treffen zwischen den Philosophen Apollonius und Euphrates und dem Kaiser Vespasian teilgenommen habe21. Die Vier hätten über die beste Verfassungsform gesprochen und Euphrates, der sich gegen die Monarchie und für ein demokratisches Regime erklärte, habe mit Apollonius, der für White (1966) 676; Moles (1978) 82; dagegen Jones (1978) 7), konnte er sich des römischen Bürgerrechts nicht von Geburt rühmen. Wie der Vater war er peregrinus von Geburt und erwarb das römische Bürgerrecht erst als Erwachsener; s. dazu Salmeri (1982) 18 Anm. 49; vgl. unten Anm. 51). 12 In der Rede 50, 7 behauptet Dion, dass sein Großvater und sein Vater Vorsitzende (prostavtai) der boulh v waren. 13 Die Stadt Prusa ließ zu Ehren der Familie Dions zahlreiche Statuen errichten. Sie ehrte die Mitglieder der Familie auch mit Staatsbegräbnissen und Leichenspielen und ließ einen Altar für Dions Mutter errichten. S. or. 44,3 14 S. or. 46, 5. 15 S. dazu Marrou (61965) 359-360. 16 S. dazu Schmid (1887) I, 72-191. 17 S. or. 18, 7; 10; 11 e 14 und dazu Desideri (1978) 137-142. Zu der rhetorischen und philosophischen Ausbildung Dions s. Desideri (1991a) 3884; Desideri (1994b) 842. 18 Moles (1978) 86-87, ist der Meinung, dass Dion vor dem Tod Neros nach Rom gekommen sei; s. auch Jones (1978) 13-14. 19 Dion war verheiratet (or. 46, 13) und hatte Kinder (or. 46, 6), darunter nur einen Sohn (or. 40, 2). 20 S. Front. Ad M. Antonin. imp. de eloq. 1, 133, 8-11 Hout = 2, 50 Haines, der ihn unter den Schülern des ‘römischen Sokrates’ neben Euphrates, Timidoros und Atenokrates nennt. Die Lobesworte, die man in der Rede 32, 122 liest, richten sich wahrscheinlich an seinen Lehrer. Zu dem Zeugnis Frontos s. Desideri (1978) 6-16. Unter dem Namen Dions sind zwei vermutlich unechte an einen gewissen Rufus adressierte Briefe überliefert; s. dazu Desideri (1991b) 3925-3926. 21 S. Philostr., Leben des Apollonius von Tyana 5, 27-38; dazu s. Moles (1978) 83-85; Desideri (1978) 22-35. 7 die Monarchie und die Macht Vespasians eintrat, gestritten22. Obwohl der Bericht Philostrats sich auf ein Ereignis bezieht, das wirklich stattgefunden haben könnte, muss man annehmen, und so ist es fast einhellig in der Forschung betont worden23, dass das Treffen in Alexandria nie stattgefunden hat24. Jedenfalls ist es wichtig zu sehen, dass Dion nach Philostrats Meinung eine wichtige Rolle in dem schwierigen Verhältnis zwischen Vespasian und den Philosophen zukam. Zeugnis dieses Verhältnisses sind zwei Reden, von denen nur die Titel überliefert sind und die Synesios zufolge (Dio 1, 9) Angriffe gegen die Philosophen enthielten. Es handelt sich um die Reden Kata; tw'n filosovfwn (Gegen die Philosophen) und Pro;" Mouswvnion (Gegen Musonius oder An Musonius)25. Während seines ersten Aufenthalts in Rom unter Vespasian war Dion als politischer Redner/Vortragender tätig und reiste viel im östlichen Teil des Reiches umher, wie einige seiner Reden erkennen lassen26. Das schon erwähnte schwierige Verhältnis des Kaisers zu den Philosophen erlebte Dion aus erster Hand und gegen Mitte der 80er Jahre sah er sich gezwungen, Rom zu verlassen und in die Verbannung zu gehen. Der Grund der Verbannung ist allerdings nicht in der 22 In dieser Debatte trat Dion für eine aristokratische Verfassungsform ein, in der die Senatoren eine wichtige Rolle spielen konnten. Desideri (1978) 30, meint, dass «idee come quelle che Filostrato attribuisce a Dione (ed Eufrate) ad Alessandria tra il 69 e il 70 non hanno di per sé nulla di anacronistico o di assurdo storicamente: sono insomma perfettamente possibili. Che Dione le abbia effettivamente condivise non è dimostrabile al di là di ogni dubbio». 23 S. dazu Momigliano (1951) 152; Moles (1978) 83; Desideri (1978) 50 Anm. 31; Salmeri (1982) 23; zur einzigen Ausnahme s. Forte (1972) 239-241. 24 Philostrat hat möglicherweise Informationen aus Dions Werken, insbesondere aus der Debatte über die beste Verfassungsform in der 32. Rede, übernommen, wie Klauck (2000) 12-13, denkt. Er könnte auch einer narrativ-biographischen Tradition gefolgt sein, in der das Thema des schwierigen Verhältnisses Vespasians zu den Philosophen eingeflossen war. Genau in diesem schwierigen Verhältnis spielten Euphrates und Dion eine wesentliche Rolle; s. dazu Desideri (1978) 30-34. Zu einer ausführlichen Untersuchung des Berichts Philostrats s. Brancacci (1985) 66-86. 25 Schmid (1903) 851, meint, dass die Rede Pro;" Mouswvnion auch polemische Angriffe gegen Musonius enthielte. Da er es für unwahrscheinlich hält, dass Dion öffentlich gegen seinen Lehrer auftrat, behauptet er, was mir widersinnig scheint, dass Dion die Rede verfasste, bevor er den Unterricht des Stoikers besuchte. Nach Klauck (2000) 13, musste Dion eine solche Stellung beziehen, weil unter Vespasian der Boden für die Philosophen heiß wurde. Ich halte die Argumente von Desideri (1978) 63 und Jones (1978) 16, für überzeugender, die in der Rede An Musonius einen Angriff gegen die Philosophen, aber nicht gegen Musonius sehen. Der Stoiker kam gut davon entsprechend der Maßnahme Vespasians, der «alle Philosophen außer Musonius aus Rom vertrieb» (Cass. Dio, LXV (LXVI) 13,2 = Xiph. 208, 7 f.). 26 Es handelt sich um die Rede an die Alexandriner (or. 32), die von einigen Forschern auf die Regierungszeit Vespasians datiert worden ist; s. dazu Jones (1973) 302-309; Rostovtzeff (2003) 160. Nach von Arnim (1898) 844 und Salmeri (1982) 97-98 stammt die Rede aus der Zeit Trajans. In die Zeit Vespasians sind Desideri (1994b) 844 zufolge die Rede An die Rhodier (or. 31; vgl auch Desideri (1978) 110-116; Jones (1978) 26-35), die erste Tarsische Rede (or. 33; vgl. auch Desideri (1978) 122-129; dagegen Moles (1983) 132, der die Zeit Trajans vorschlägt), die Rede In Kelainai (or. 35; vgl. auch Desideri (1978) 129-131; dagegen Jones (1978) 65-82, der die Rede in die Zeit Trajans datiert) zu datieren. Ausführlich zur Datierung aller genannten Reden Bost Pouderon (2006) II, 11-40. 8
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