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Die Heroische Periode Der Grossen Russischen Revolution PDF

416 Pages·1971·13.489 MB·German
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Leo N. Kritzman Die heroische Periode der grosse russischen Revolution Archiv sozialistischer ,Literatur 24 . Verlag Neue Kritik Frankfurt Leo N. Kritzman Die heroische Periode der grossen russischen Revolution Archiv sozialistischer Literatur 24 Verlag Neue Kritik Frankfurt Archiv sozialistischer Literatur 24 ISBN 3 8015 0094 2 © 1971 by Verlag Neue Kritik KG Frankfurt Umschlagentwurf Christian Chruxin Westberlin Gesamtherstellung Graphischer Betrieb Heinz Saamer Frankfurt Elnleltung 1 Bereits einen Tag nach der Übernahme der Staatsmacht, am 26. 10./ 8. 11. 1917,1 erfüllten die Bolschewiki die Forderungen nach „Frie den und Land", die ihnen vor der Oktoberrevolution die Zustim mung der Massen eingebracht hatte. Mit dem Dekret über den Frieden versuchten sie, möglichst schnell einen Friedensvertrag ,,ohne Annexionen" abzuschliessen und zugleich die Völker, insbe sondere die Arbeiter Englands, Frankreichs und Deutschlands, an ihre eigene Verantwortung für den Frieden zu erinnern.2 Das Dekret über den Landbesitz, durch das der Grossgrundbesitz enteignet, der Grund und Boden verstaatlicht und den Bauern zur Nutzniessung überlassen wurde,3 brachte den Bolschewiki zwar die In den Anmerkungen wird versucht, vor allem Werke zu zitieren. die leicht zugänglich und in westlichen Sprachen geschrieben sind, um auf diese Weise die Weiterarbeit anzuregen. In vielen Fällen lässt sich allerdings ein Rückgriff auf russische Quellen und Literatur nicht umgehen. lesenswerte zusammenfassende Darstellungen der Zeit von 1917 bis 1921 sind: Carr, Edward Hallet!: The Bolshevik Revolution 1917-1923. 3 vol. London 1951-1953. - Chamberlin, William Henry: Die Russische Revolution 1917-1921. 2 Bde. Frankfurt 1958. - Venediktov, A.V.: Organizacija gosudarstvennoj promyslennosti v SSSR, tom 1, 1917-1920. Leningrad 1957. Die Arbeit wurde von Ger! Meyer, Prof. Dr. Peter Scheibert und Dr. Richard Lorenz kritisch durchgesehen. ' Die Doppeldatierung erklärt sich dadurch, dass bis zum 1. 2. 1918 in Russland der jullanische Kalender galt, erst danach der gregorianische; hier sind beide Zeitrechnungen angegeben. Die Umschrift der russischen Wörter in lateinische Buchstaben erfolgt nur in den Anmer kungen nach der preussischen Transkriptionsordnung, während im Text aus Gründen der Lesbarkeit eine Anpassung an das gewohnte Schriftbild versucht wurde. • Die russische Revolution 1917, hrsg. von M. Heilmann, München 1964 (dtv-dok. 227/228). S. 312-315. Ein Dekret entspricht etwa unseren Staatsgesetzen. Lenin definierte 1919 das Wesen von Dekreten der Sovetmacht als „Instruktionen, die die Massen zum praktischen Handeln aufrufen", nicht als „absolute Gebote", von denen man jede Einzelheit sofort durchführen müsse (Werke, Bd. 29, S. 195). ' Die russ. Revolution. S. 315-318. V für die Erhaltung der Macht notwendige Zustimmung der Bauern/ aber auch Nachteile für die zukünftige Wirtschaftspolitik: Die grossen, ehemals für den Markt produzierenden Ländereien waren nun in viele kleine Bauernhöfe zersplittert, die neuentstandenen faktischen Besitzrechte erschwerten den Übergang zu kollektiven Wirtschafts weisen. Lenin begründete das Dekret mit den Worten: ,,Hier werden Stim men laut, das Dekret selbst und der Wählerauftrag5 seien von den Sozialrevolutionären6 abgefasst worden. Sei's drum. Es ist einerlei, von wem sie abgefasst worden sind; als demokratische Regierung können wir einen Beschluss derVolksmassen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären." Den Bauern solle es selbst überlassen bleiben, ,,alle Fragen zu entscheiden, selbst ihr Leben zu gestalten" .7 In der allgemeinen Wirtschaftspolitik und besonders in der Industrie politik hatten die Bolschewiki vor der Oktoberrevolution im wesent lichen zwei Konzepte diskutiert: Lenin hatte die Vorschläge nach Einführung einer staatskapitalistischen Wirtschaftsverfassung unter stützt, die schon im Frühjahr 1917 vom Petrograder Sowjet vorge legt und von Menschewiki (Groman, Tscherewanin) ausgearbeitet worden waren: Staatskontrolle über die Industrie, Aufbau einer zentralisierten, planmässigen Lenkung der Industrie.' Als wichtigste Programmpunkte stellte Lenin heraus: Nationalisierung der Banken und der Syndikate, Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, Zwangs syndisierung der Industrie und Zwangsvereinigung der Bevölkerung in Konsumgenossenschaften.9 „Der Sozialismus ist nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des gesamten Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein."10 Auch Lenin befürwortete als Ergänzung der Staatskontrolle die Ar beiterkontrolle über ihre Betriebe,11 weit stärker aber wurde diese Forderung von anderen Bolschewiki, wie Larin und Miljutin, ver treten. Ihnen folgte das ökonomische Aktionsprogramm der Bol schewiki, das auf dem VI. Parteitag im August 1917 angenommen wurde.12 Am deutlichsten ist diese Konzeption niedergelegt in einer • W. P. Miljutin. Sozialismus und Landwirtschaft. Hamburg 1920. S. 29-32. ' Ein Muster-Wählerauftrag eus 242 örtlichen Aufträgen an den 1. Gesamtrussischen Kon gress der Bauerndelegierten, der vom 4.-28. 5.117. 5.-10. 6. 1917 stattfand. ging wörtlich in das Dekret ein. • Gemeint ist die Sozialrevolutionäre Partei, die auf dem Land grossen Einfluss besass, vgl. die beiden Bücher von 0. H. Radkey, The Agrarian Foes of Bolshevism, New York 1958: The Sickle under the Hammer, New York 1963. ' Lenin, Werke, Bd. 26, S. 252/253. • R. Lorenz, Zur Industriepolitik der provisorischen Regierung. in: Jahrbücher für Ge schichte Osteuropas N. F. Bd. 14/1966, S. 367-387, hier S. 374/375; Lenin, Werke, Bd. 24, s. 393/394. • Lenin, Werke, Bd. 25, S. 337/338. 10 Lenin, Werke, Bd. 25, S. 396. " Lenin, Werke, Bd. 24, S. 394. " R. Lorenz, Anfänge der bolschewistischen Industriepolitik, Köln 1965, S. 73 ff. VI Resolution der kurz vor der Oktoberrevolution tagenden 1. Gesamt russischen Betriebskomitee-Konferenz im Anschluss an ein Referat Larins: Die Arbeiterkontrolle müsse alle Betriebe umfassen sowie die Ausarbeitung und Durchführung eines Wirtschaftsplanes über wachen, der sich an den Bedürfnissen der Volksmassen zu orien tieren habe.13 Diese Resolution war Ausdruck einer breiten Strömung unter dem Industrieproletariat: überall im Land hatten sich im laufe des Jahres 1917 Betriebskomitees gebildet, die die Kontrolle über die Betriebe verlangten. In zahlreichen Fällen hatten sie auch selbst die Organi sierung der Produktion übernommen, wenn die Unternehmer geflo hen waren, Aussperrungen vorgenommen, die Produktion einge schränkt oder die neue demokratische Ordnung sabotiert hatten. Politisch waren sie für die Machtübernahme durch die Sowjets ein getreten.14 Allerdings: an eine völlig selbständige Wirtschaftsverwaltung durch die Betriebskomitees war auch in dieser Konzeption nicht gedacht - die Eigentumsverhältnisse sollten unangetastet bleiben, der für alle Unternehmen verbindliche Wirtschaftsplan sollte von staatlichen Organen ausgearbeitet werden, isolierte Aktionen der Komitees wurden verurteilt. Die Forderung nach Arbeiterkontrolle war - ebenso wie die Forderung nach Nationalisierung von Banken und Syndikaten - nicht Teil einer geplanten sozialistischen Wirtschafts ordnung, sondern höchstens ein „Schritt zum Sozialismus" .15 Die Arbeiter durchkreuzten jedoch diese Vorstellungen der Bolsche wiki. Sie, die in den Betriebskomitees und zunehmend auch in den Gewerkschaften eine Massenbewegung für den Sturz der provisori schen Regierung geschaffen hatten, der sich die Bolschewiki kaum entziehen konnten, 16 trieben nach Übernahme der Macht durch die Bolschewiki die Revolution weiter, als es jene mit ihren Ende No vember und Ende Dezember erlassenen Dekreten über die Arbei terkontrolle und über die Nationalisierung der Banken 17 vorhatten: in grossem Ausmass wurden von den Arbeitern - oder lokalen Be hörden - eigenmächtig Betriebe enteignet und in Verwaltung über nommen - zumal die meisten Unternehmer entgegen den Hoffnun gen der Bolschewiki nicht bereit waren, die Arbeiterkontrolle hin zunehmen oder loyal mit der neuen Macht zusammenzuarbeiten. Obwohl das Dekret über die Arbeiterkontrolle „im Interesse der 11 John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Reinbek 1967 (roro 9181919), S. 289 bis 292. " vgl. im einzelnen dazu: Uwe Brügmann, Gewt1rkschaften und Revolution, Die russischen Gewerkschaften 1917-1919, Diss. Marburg 1969. Diese Arbeit wird demnächst veröffentlicht. Ich danke U. Brügmann für die Erlaubnis, aus seinem Dissertations-Manuskript zitieren zu dürfen. 11 Brügmann. S. 90. vgl. S. 57;59; Lenin. Werke. Bd. 25, S. 369/370, so auch noch nach der Oktoberrevolution: Bd. 26, S. 398. " Brügmann, S. 107 ff.; W. Pietsch, Revolution und Staat, Institutionen als Träger der Macht in Sowjetrussland 1917-1922. Köln 1969. S. 30. " Die russische Revolution. S. 327/328. 337. VII planmässigen Regulierung der Volkswirtschaft" erlassen wurde, ge lang es nicht, die Betriebskomitees in ein System der gesamtstaat lichen Wirtschaftsplanung zu integrieren - statt dessen richteten sich viele Massnahmen der Komitees nach betriebsegoistischen Ge sichtspunkten.18 Von den Bolschewiki wurden die Gefahren der planlosen Enteig nungen durchaus gesehen. Die organisatorischen Voraussetzungen für eine staatliche Verwaltung der Betriebe oder auch nur für die Koordinierung von gesamtwirtschaftlichen und einzelbetrieblichen Interessen fehlten fast völlig. Im Dezember 1917 hatte die Regierung die Bildung des Obersten Volkswirtschaftsrates und der regionalen Volkswirtschaftsräte angeordnet. Der Aufbau dieser Institutionen war zwischen Betriebskomitees, Gewerkschaften, Partei und Re gierung umstritten gewesen.19 Auf Bezirksebene griff man teilweise auf das Projekt der Betriebskomitees zurück: Betriebskomitees, Gewerkschaften, Sowjets, Kooperative und das technisch-admini strative Personal der Unternehmen wählten ihre Vertreter in die Wirtschaftsräte. Die Organe der Wirtschaftsräte waren die „Glawki" und „Zentry", die nach Industriezweigen eingerichtet waren und ausserordentlich umfassende Vollmachten hatten, sowie die Produk tionsabteilungen. Der Aufbau dieses Systems vollzog sich unter grossen Schwierigkeiten. Erst im Frühjahr 1918 kann man von einer gewissen Konsolidierung sprechen. Deshalb war man auch bestrebt, bremsend in die Enteignungsbewegung einzugreifen.20 Gleichzeitig war jedoch die Begeisterung in der Partei über die revolutionäre Energie und den spontanen Angriff auf die „Macht des Kapitals" gross.21 Lenin drückte sie im Dezember 1917 vielleicht am deutlichsten aus: ,,Einen konkreten Plan zur Organisierung des wirtschaftlichen Le bens gibt es nicht und kann es nicht geben. Niemand kann ihn geben. Nur die Masse kann das tun, von unten, auf Grund der Erfah rung. Es werden natürlich Direktiven erteilt und die Wege umrissen werden, aber man muss zugleich sowohl von oben wie von unten anfangen. "22 Er entwarf einen Plan zur unmittelbaren Sozialisierung der Volkswirtschaft, der allerdings wegen des Widerstandes der füh renden Wirtschaftsfachleute der Partei nicht durchgeführt wurde.23 Und im Januar 1918 berichtete er, wie er Arbeiter- und Bauern-Dele gationen aufgefordert habe: ,,Ihr seid die Macht, tut alles, was euch wünschenswert erscheint, nehmt alles, was ihr braucht, wir werden euch unterstützen, sorgt aber für die Produktion, sorgt dafür, dass "Brügmann, S. 132 ff.; Lorenz, Anfänge, S. 90 ff., 132 ff.; Venediktov, S. 90 ff. " Brügmann, S. 137 ff., 172 ff., 181 ff.; Lorenz, Anfänge, S. 93 ff.; Venediktov, S. 83 ff. Dekret über den Obersten Volkswirtschaftsrat in: Die russische Revolution, S. 330/331. " Lorenz, Anfänge, S. 134-137. " vgl. A. G. Löwy, Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, Bucharin: Vision des Kommu nismus, Wien-Frankfurt-Zürich 1969, S. 88. n Lenin, Werke, Bd. 26, S. 362-363. " Lenin, Werke, Bd. 26, S. 389-392; Lorenz, Anfänge, S. 107-109. VIII Nützliches produziert wird. Stellt euch auf nützliche Arbeit um, ihr werdet Fehler machen, aber ihr werdet lernen. "24 Gewerkschaften, Betriebskomitees und einige Bolschewiki setzten sich für die Förderung der „proletarischen Selbstdisziplin" ein: Disziplinarstrafen sollten nur dann ausgesprochen werden, wenn der Gang der Gesamtproduktion schwerwiegend gestört werde.25 Die Arbeitsproduktivität sank jedoch nach der Oktoberrevolution stark. Dabei spielten planlose Enteignung, unvollkommene Verwal tung der Betriebe, Abnutzung der Produktionsmittel und Einflüsse des Krieges sicher eine Rolle. Hauptursache war aber die physische Erschöpfung der Arbeiter. Die Löhne hielten mit den Preisen nicht mehr Schritt, und auch eine teilweise Naturalentlohnung konnte die Verschlechterung der Lage der Arbeiter, die bereits während des Krieges Mangel gelitten hatten, nicht verhindern. Viele Arbeiter, die vom Land stammten, kehrten ins Dorf zurück und verschärften das Problem der ländlichen Überbevölkerung. Es bestand keine Aus sicht, die Ernährungssituation kurzfristig zu verbessern, zumal die Bauern, die mehr als den Eigenbedarf produzierten, ihr Getreide zurückhielten oder damit auf dem Schwarzmarkt handelten, weil ihnen keine äquivalenten Industrieprodukte geboten werden konn ten.26 Die beginnende Ernüchterung schlug sich im Januar 1918 in wider sprüchlichen Stellungnahmen nieder. Lenin forderte in der eben zitierten Äusserung die Arbeiter auf, alles selbst in die Hand zu neh men. Zur gleichen Zeit verlangte der 1. Gesamtrussische Gewerk schaftskongress in einer Resolution die „Verstaatung" der Gewerk schaften, ihre Umwandlung in Organe der sozialistischen Macht - eine Formulierung, die vor dem Hintergrund der Theorie vom Ab sterben des Staates gesehen werden muss. Zugleich billigten die Delegierten jedoch im wesentlichen ein Referat des Metallgewerk schaftlers Gastew über die langfristige industrielle Entwicklung Russ lands. Gastew wollte die Hilfe ausländischen Kapitals in Anspruch nehmen, das Taylor-System einführen, die Arbeitsdisziplin festigen, die Arbeitskräfte nach den Anforderungen der Industrie verteilen - mit einem Wort: die Unterstützung der Spontaneität der Arbeiter abbrechen.27 Verstärkt wurde die Ernüchterung durch die Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich in Brest-Litowsk und die daraus resul- " Lenin, Werke, Bd. 26, S. 468 " Brügmann, S. 158/159. " Brügmann, S. 153 ff.; zum Problem der ländlichen Oberbevölkerung vgl. Raja Sil berkweit, Analyse und Kritik der Frage der russischen Agrarüberbevölkerung, Leipzig 1934. " Brügmann, S. 161 ff.; mit Taylor-System (nach dem amerikanischen Ingenieur F. W. Tay lor, 1856-1915) wird die „wissenschaftliche Betriebsführung" bezeichnet, mit der durch Rationalisierung der einzelnen Arbeitsvorgänge und Verbesserung der Arbeitsbedingun gen ( .. Psychotechnik") versucht wird, die menschliche Arbeitskraft zur grösstmöglichen Leistungsfähigkeit zu bringen. IX tierende Krise der Partei.28 Am 8.3.1918 sprach Lenin auf dem VII. Parteitag den Arbeiterorganisationen noch das Recht zu, die Betriebe selbst zu verwalten, obwohl an vielen Stellen schon deut lich wird, dass er nicht mehr an die unmittelbare Verwirklichung seiner früheren Hoffnungen glaubte. Auch in internen Diskussionen begann er, von seinen bisherigen wirtschaftspolitischen Grundsät zen abzuweichen.29 Drei Tage später erschien ein Artikel von ihm, in dem er die Bevölkerung aufforderte, beim deutschen Arbeiter und von der Organisation der deutschen Volkswirtschaft zu lernen.30 Damit gab er den Anstoss zu einer wirtschaftspolitischen Diskussion, die bis Ende Mai dauerte und in der die verschiedenen Konzeptionen für den Aufbau des Sozialismus in Russland zutage traten. - Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren jetzt bedeutend schlechter als zur Zeit der Oktoberrevolution. Zahlreiche Betriebe lagen still, weil die technischen und finanziellen Möglichkeiten fehlten, sofort von der Kriegs- zur Friedensproduktion überzugehen. Die Zahl der Industriearbeiter sank wegen der Stadtflucht zusehends. Der spon tane Kampf der Arbeiter um Kontrolle und - im allgemeinen darüber hinausgehend - eigene Verwaltung der Fabriken beseitigte nicht die Konkurrenz zwischen den Unternehmen zugunsten einer auf Selbst verwaltung beruhenden neuen Organisation der Volkswirtschaft. Allerdings sollte man eine Reihe von gelungenen Selbstverwaltungs versuchen und die Ansätze, über die Räte der Betriebskomitees bis hinauf zum Gesamtrussischen Rat einen neuartigen Wirtschafts apparat zu schaffen, nicht übersehen.31 Die Hindernisse, die sich diesen Versuchen in den Weg stellten, wurden verstärkt durch die verheerenden ökonomischen Auswirkun gen des Brester Friedensvertrages. Wichtige Wirtschaftsgebiete (vor allem Polen und die Ukraine, die Kornkammer Russlands, in der es zugleich bedeutende Industrieanlagen gab) gingen verloren; die Lebensmittelversorgung wurde dadurch immer schwerer, der Roh und Brennstoffmangel immer drückender. Die traditionellen Wirt schaftsbeziehungen mit den westlichen Industriestaaten - vor der Revolution hatten Frankreich, Belgien und England neben Deutsch land einen grossen Einfluss auf die russische Wirtschaft gehabt32 - waren abgerissen, dadurch fehlten Kapital und hochwertige Indu strieprodukte, aber auch besondere Rohstoffe. Die Folge waren weitere Stillegungen von Betrieben, Zerfall des Transportwesens mangels Brennstoff und intakter Lokomotiven, zunehmende Er schwerung des Güteraustausches zwischen Stadt und Land, kata- " Die Unterzeichnung des Friedensvertrages erfolgte am 3. 3. 1918. Vgl. im einzelnen dazu R. V. Daniels. Das Gewissen der Revolution, Kommunistische Opposition in Sowjet russland, Köln-Berlin 1962, S. 93 ff.; Löwy, S. 89 ff. " Lenin, Werke, Bd. 27, S. 122; Lorenz, Anfänge, S. 109-111. " Lenin, Werke, Bd. 27, S. 146-151. " Brügmann, S. 137 ff., 172 ff. " J. Nötzold, Wirtschaftspolitische Alternativen der Entwicklung Russlands in der Ara Wille und Stolypin. Berlin 1966, S. 165 ff. X strophale Ernährungslage, Teuerung und Arbeitslosigkeit. Die Unruhe unter den Arbeitern und Bauern begann sich zugunsten von Gegnern der Bolschewiki auszuwirken.33 In der innerparteilichen Diskussion standen sich im wesentlichen zwei Konzeptionen für den Ausweg aus der Krise gegenüber. Das Programm der Fraktion der „linken Kommunisten", die sich während der Auseinandersetzungen um den Brester Vertrag gebildet hatte (führende Mitglieder waren Bucharin, Pjatakow, Kritzman, Lomow, Kossior, Preobraschenski, Radek, W.M. Smirnow, Uritzki), wurde am eingehendsten von N. Osinski dargestellt.34 Die Gegenvorstellungen wurden vor allem in den Gewerkschaften vertreten,35 in der Partei führung am ausgeprägtesten von Trotzki und Lenin.36 Lenin ging von einer pessimistischen Analyse der internationalen Lage - obwohl er mit einer friedlichen „Atempause" rechnete - und der sozio-ökonomischen Verhältnisse Sowjet-Russlands aus. An knüpfend an Überlegungen vor der Oktoberrevolution forderte er die Beendigung der „Offensive gegen das Kapital", die Übernahme des Staatskapitalismus, der Trust-Organisation, der neuesten Technik und die Durchsetzung einer strengen Arbeitsdisziplin. Sozialismus sei ohne den Weg über den Staatskapitalismus undenkbar. Miss brauch durch Anhänger der kapitalistischen Ordnung und Gefahren für die Sowjetmacht sollten durch besondere Kontrollmassnahmen verhindert werden. Lenin reflektierte durchaus sein Abweichen von Vorstellungen, die er in „Staat und Revolution" entwickelt hatte, aber er sah keine andere Möglichkeit, schnell die Wirtschaftskrise zu meistern, die Rückständigkeit Russlands zu beseitigen und all mählich zum Sozialismus überzugehen. Die „linken Kommunisten" kamen in ihrer Analyse zu anderen Schlüssen als Lenin: Sie glaubten nicht an eine „Atempause", son dern rechneten mit einer verschärften Klassenauseinandersetzung im nationalen und internationalen Massstab.37 Eine Politik des Staatskapitalismus werde die gegenrevolutionären Kräfte stärken " R. Lorenz, Wirtschaftspolitische Alternativen der Sowjetmacht im Frühjahr und Som, mer 1918. in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F. Bd. 1511967, 5. 209-236, hier s. 209-212. " N. Osinskij, über den Aufbau des Sozialismus. in: Arbeiterdemokratie oder Partei diktatur, hrsg. von F. Kool und E. Oberländer, eing. von 0. Anweiler, Ollen-Freiburg i. B. 1967. S. 92-126; nach diesem Aufsatz vom April 1918 wird im folgenden zitiert. Seine Auflassungen führte Osinskij weiter aus in: Stroitel 'stvo socializma. Moskva 1918. über die innerparteilichen Auseinandersetzungen jener Zeit vgl. Daniels, S. 105 ff. " vgl. Brügmann, 5. 168 ff., auch Lorenz, Alternativen, 5. 216-217. " L. Trotzki. Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die sozialistische Sowjet-Republik retten, Basel 1918 (russ.: L. Trockij, Socinenija, t.XVll/1, S. 155-172). Lenin, Werke, Bd. 27. S. 192-208. 225-268, 306-309, 315-347 (.,Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" . .,über ,linke· Kinderei und Kleinbürgerlichkeit" einschliesslich Entwürfen und Thesen; vgl. auch die ubrigen Schriften Lenins in dieser Zeit). Zum Zitat im Text (.,Offensive gegen das Kapital") und zur Reflexion über sein Abweichen von früheren Vorstellungen vgl. Bd. 27. s. 239. " Lorenz, Alternativen, s. 223, weist darauf hin, dass diese Einschätzung der Theorie der permanenten Revolution folgte; in der Tat ist dieser Zusammenhang herzustellen, vgl. Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven. eing. von R. Lorenz, Frankfurt 1967, S. 69. Zum internationalen Kampf vgl. Osinskij, 5. 125. XI

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