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Die Freiheit, Frei zu Sein PDF

39 Pages·0.971 MB·German
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Hannah Arendt DIE FREIHEIT, FREI ZU SEIN Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthensohn Mit einem Nachwort von Thomas Meyer dtv In diesem erstmals veröffentlichten Essay zeichnet Hannah Arendt die historische Entwicklung des Frei­ heitsbegriffs nach. Was ist Freiheit, was bedeutet sie uns? Und: Haben wir sie einfach, oder wer gibt sie uns, und kann man sie uns auch wieder wegnehmen? Arendt berücksichtigt dafür insbesondere die Re­ volutionen in Frankreich und Amerika. Während die eine in eine Katastrophe mündete und zu einem Wen­ depunkt der Geschichte wurde, war die andere ein triumphaler Erfolg und blieb doch eine lokale Angele­ genheit. Aber warum? Hannah Arendt war eine der signifikanten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. 1906 in Hannover geboren, emigrierte sie 1933 zunächst nach Paris, 1941 dann mit ihrem Mann nach New York. Bis sie 1957 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, war sie staatenlos. Arendt war Professorin an der University of Chicago und lehrte danach an der New School for Social Research in New York. Dort starb sie 1975. Andreas Wirthensohn, geboren 1967, lebt als Überset­ zer, Lektor und Literaturkritiker in München. Er hat u.a. Werke von Michael Hardt/Antonio Negri, Timo­ thy Snyder und Yuval Harari ins Deutsche übertragen. Thomas Meyer; geboren 1966, lehrt Philosophie an der LMU München. Er hat zahlreiche Werke zur moder­ nen jüdischen Philosophie verfasst und herausgegeben. , Mein Thema heute ist, so fürchte ich, fast schon beschä­ mend aktuell. Revolutionen sind inzwischen alltägliche Ereignisse, denn mit der Beendigung des Imperialismus haben sich viele Völker erhoben, um »unter den Mäch­ ten der Erde den selbstständigen und gleichen Rang einzunehmen, zu dem die Gesetze der Natur und ihres Schöpfers es berechtigen«. So, wie zu den dauerhaftes­ ten Folgen der imperialistischen Expansion der Export der Idee vom Nationalstaat noch in den hintersten Winkel dieser Welt gehörte, so führte das Ende des Im­ perialismus unter dem Druck des Nationalismus dazu, dass sich die Idee der Revolution über den gesamten Erdball ausbreitete. All diese Revolutionen, mag ihre Rhetorik auch noch so gewaltsam antiwestlich sein, stehen im Zeichen traditioneller westlicher Revolutionen. Der heutigen Situation ging eine ganze Reihe von Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg in Europa selbst voraus. Seither - und noch markanter seit dem Zweiten Welt­ krieg - scheint nichts gewisser, als dass es nach einer Niederlage in einem Krieg zwischen den verbliebenen Mächten - natürlich nur, wenn es sich nicht um eine völlige Vernichtung handelt - zu einer revolutionären Veränderung der Regierungsform (im Unterschied zu einem Regierungswechsel) kommen wird. Allerdings sei darauf verwiesen, dass Kriege, schon bevor tech­ nologische Entwicklungen kriegerische Auseinander­ setzungen zwischen den Großmächten buchstäblich 7 zu einem Kampf auf Leben und Tod gemacht haben, politisch gesehen zu einer Frage von Leben und Tod wurden. Das war beileibe keine Selbstverständlichkeit, sondern zeigt an, dass die Protagonisten zwischenstaat­ licher Kriege nunmehr so agierten, als seien sie an Bür­ gerkriegen beteiligt. Und die kleinen Kriege der letzten zwanzig Jahre - Korea, Algerien, Vietnam - waren ein­ deutig Bürgerkriege, in welche die Großmächte hinein­ gezogen wurden, weil eine Revolution entweder ihre Herrschaft bedrohte oder für ein gefährliches Macht­ vakuum gesorgt hatte. In diesen Fällen war es nicht mehr der Krieg, der eine Revolution herbeiführte; die Initiative war vom Krieg auf die Revolution übergegan­ gen, auf die in einigen - aber beileibe nicht allen - Fäl­ len ein militärisches Eingreifen folgte. Es ist, als befän­ den wir uns plötzlich wieder im 18. Jahrhundert, als der Amerikanischen Revolution ein Krieg gegen England und der Französischen Revolution ein Krieg gegen die verbündeten Monarchien Europas folgte. Und wieder wirken militärische Interventionen trotz der völlig andersgearteten Umstände - technologisch, aber auch sonst - relativ hilflos gegenüber dem Phä­ nomen. In den letzten zweihundert Jahren haben zahl­ reiche Revolutionen ein schlimmes Ende genommen, aber nur wenige wurden dadurch zerschlagen, dass überlegene Gewaltmittel zum Einsatz kamen. Umge­ kehrt haben sich Militärinterventionen, selbst wenn sie erfolgreich waren, oft als bemerkenswert wirkungslos 8 erwiesen, wenn es darum ging, wieder für Stabilität zu sorgen und das Machtvakuum zu füllen. Selbst ein Sieg, so scheint es, ist nicht in der Lage, Stabilität an die Stel­ le von Chaos, Integrität an die Stelle von Korruption, Autorität und Vertrauen in die Regierung an die Stelle von Verfall und Auflösung zu setzen. Eine Restauration, Folge einer unterbrochenen Revo­ lution, sorgt in der Regel für wenig mehr als einen dün­ nen und sichtlich provisorischen Deckmantel, unter dem die Auflösungsprozesse ungehindert weitergehen. Andererseits aber wohnt bewusst gebildeten neuen politischen Körperschaften ein enormes Potenzial für künftige Stabilität inne, wie beispielhaft die amerika­ nische Republik zeigt; das Hauptproblem besteht na­ türlich darin, dass erfolgreiche Revolutionen so selten sind. Selbst in der heutigen Welt, in der, im Guten wie im Schlechten, Revolutionen zu den bedeutsamsten und häufigsten Ereignissen geworden sind - und das wird in den kommenden Jahrzehnten höchstwahr­ scheinlich so weitergehen -, wäre es nicht nur klüger, sondern auch angemessener, wenn wir nicht dauernd damit prahlen würden, dass wir das mächtigste Land auf Erden sind, sondern wenn wir sagen, dass wir seit der Gründung unserer Republik ein außergewöhnli­ ches Maß an Stabilität genossen haben und dass diese Stabilität unmittelbare Folge der Revolution war. Denn weil sich der Wettstreit zwischen den Großmächten nicht mehr durch einen Krieg entscheiden lässt, wird er 9 sich langfristig daran entscheiden, welche Seite besser begreift, was Revolutionen sind und was dabei auf dem Spiel steht. Ich glaube, es ist - spätestens seit dem Vorfall in der Schweinebucht - niemandem verborgen geblieben, dass die Außenpolitik dieses Landes nicht einmal in Ansät­ zen eine Ahnung davon hat, wie sie revolutionäre Situ­ ationen einschätzen oder die Dynamik revolutionärer Bewegungen beurteilen soll. Zwar wird das Scheitern der Invasion in der Schweinebucht oft mit falschen In­ formationen oder einem Versagen der Geheimdienste erklärt, doch tatsächlich liegen die Ursachen dafür tie­ fer. Der Fehler bestand darin, dass man nicht begriffen hat, was es bedeutet, wenn eine verarmte Bevölkerung in einem rückständigen Land, in dem die Korruption das Ausmaß völliger Verdorbenheit erreicht hat, plötz­ lich befreit wird, nicht von der Armut, sondern von der Undeutlichkeit und damit der Unbegreiflichkeit des ei­ genen Elends; was es bedeutet, wenn die Leute mer­ ken, dass zum ersten Mal offen über ihre Lage debat­ tiert wird, und wenn sie eingeladen sind, sich an dieser Diskussion zu beteiligen; und was es heißt, wenn man sie in ihre Hauptstadt bringt, die sie nie zuvor gesehen haben, und ihnen sagt: Diese Straßen, diese Gebäude, diese Plätze, das gehört alles euch, das ist euer Besitz und damit auch euer Stolz. Das - oder zumindest et­ was Ähnliches - geschah zum ersten Mal während der Französischen Revolution. io Kurioserweise war es ein alter Mann aus Ostpreußen, der seine Heimatstadt Königsberg nie verließ, ein Phi­ losoph und Liebhaber der Freiheit, nicht unbedingt bekannt für aufrührerische Gedanken, der das sofort verstanden hat. Immanuel Kant nämlich sagte: »Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr.« Und tatsächlich wurde es nicht vergessen, sondern spielte im Gegenteil seither eine wichtige Rolle in der Weltgeschichte. Und auch, wenn viele Revolutionen in der Tyrannei endeten, so erinnerte man sich doch immer daran, dass sich, mit den Worten Condorcets, »das Wort revolutionär (...) mithin nur auf Revolutionen anwenden [lässt], die die Freiheit zum Ziel haben«. Wie jeder andere Begriff unseres politischen Wortschat­ zes lässt sich auch der der Revolution in generischem Sinne verwenden, ohne dass man dabei die Herkunft des Wortes oder den zeitlichen Moment berücksich­ tigt, an dem der Terminus erstmals auf ein bestimmtes politisches Phänomen Anwendung fand. Hinter einer solchen Verwendung steht die Annahme, dass das Phä­ nomen, auf das sich der Begriff bezieht, genauso alt ist wie das Menschheitsgedächtnis, ganz gleich, wann und warum der Begriff selbst erstmals auftauchte. Beson­ ders stark ist die Versuchung, das Wort gattungsmäßig zu verwenden, wenn wir von »Kriegen und Revolutio­ nen« sprechen, denn tatsächlich sind Kriege so alt wie die dokumentierte Menschheitsgeschichte. Es dürfte ii schwer sein, das Wort »Krieg« in anderem als generi­ schem Sinne zu verwenden, allein schon deshalb, weil sich sein erstes Auftauchen weder zeitlich noch räum­ lich genau feststellen lässt, aber was die wahllose Ver­ wendung des Begriffs »Revolution« angeht, so gibt es eine solche Ausrede nicht. Vor den beiden großen Revolutionen Ende des 18. Jahr­ hunderts und dem spezifischen Sinn, den das Wort »Revolution« damals bekam, spielte der Begriff im Vokabular politischen Denkens oder politischer Praxis keine wirkliche Rolle. Wenn der Begriff beispielswei­ se im 17. Jahrhundert auf taucht, ist er streng mit seiner ursprünglichen astronomischen Bedeutung verbunden, welche die ewige, unausweichliche und immer wieder­ kehrende Bewegung der Himmelskörper bezeichnete; der politische Gebrauch war metaphorischer Natur und beschrieb eine rückläufige Bewegung zu einem im Vor­ hinein angenommenen Punkt, ein Zurückschwingen in eine vor-gegebene, prästabilierte Ordnung. Erstmals verwendet wurde das Wort nicht, als das, was wir als Revolution bezeichnen würden, in England ausbrach (und woraus Cromwell als eine Art Diktator hervor­ ging), sondern im Gegenteil im Jahr 1660 anlässlich der Wiedereinführung der Monarchie nach dem Sturz des Rumpfparlaments. Die »Glorreiche Revolution«, das Ereignis, das dem Begriff »Revolution« paradoxerweise seinen Platz im politischen und historischen Sprach­ gebrauch sicherte, wurde keineswegs als Revolution 12 empfunden, sondern als die Restauration der Königs­ gewalt in ihrer früheren Rechtmäßigkeit und Herrlich­ keit. Die tatsächliche Bedeutung von Revolution vor den Ereignissen Ende des 18. Jahrhunderts zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Inschrift auf dem Gro­ ßen Siegel Englands von 1651, derzufolge die erste Um­ wandlung einer Monarchie in eine Republik vor allem eines bedeutete: »Freedom by Gods blessing restored.« Die Tatsache, dass das Wort »Revolution« ursprüng­ lich Restauration bedeutete, ist mehr als nur eine se­ mantische Kuriosität. Selbst die Revolutionen des 18. Jahrhunderts lassen sich nicht begreifen ohne die Erkenntnis, dass Revolutionen erstmals ausbrachen, als Restauration ihr Ziel war, und dass der Inhalt die­ ser Restauration die Freiheit war. In Amerika seien die Männer der Revolution, mit den Worten von John Adams, »gegen ihre Erwartung berufen und entge­ gen ihrer Neigung berufen« worden; Gleiches gilt für Frankreich, wo man Tocqueville zufolge anfangs hät­ te glauben können, »daß das Ziel der bevorstehenden Revolution nicht der Umsturz des Ancien Régime, sondern seine Wiederherstellung« sei. Und als den Ak­ teuren im Verlauf beider Revolutionen bewusst wurde, dass sie sich auf ein gänzlich neues Unterfangen einge­ lassen hatten und nicht einfach zu irgendetwas Voran­ gegangenem zurückkehrten, als das Wort »Revolution« folglich seine neue Bedeutung annahm, war es von allen Thomas Paine, der weiter dem Geist einer vergangenen

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