Kultur der Angst Die Angst vor dem Islam in Deutschland Verfasst von: Dominik Breuer Kontakt: [email protected] Bonn, Dezember 2015 Inhaltsverzeichnis i Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ..................................................................................................................... 1 2 Sicherheit, Risiko und Angst ........................................................................................ 3 2.1 Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos ................................................. 3 2.2 Angst ...................................................................................................................... 6 3 Theorien einer Angstgesellschaft ................................................................................. 9 3.1 Risikogesellschaft .................................................................................................10 3.2 Kultur der Angst ...................................................................................................14 3.3 Das neurotische Subjekt .......................................................................................17 3.4 Geopolitik der Angst .............................................................................................19 4 Zur Konstruktion von Ängsten ....................................................................................22 4.1 Speech Acts und Versicherheitlichungen .............................................................23 4.2 Die Rolle der Massenmedien ................................................................................27 5 Die Angst vor dem Islam in Deutschland ...................................................................30 5.1 Islamophobie .........................................................................................................32 5.2 Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland ...................................................34 5.3 Methode .................................................................................................................40 5.4 Ergebnisse und Diskussion ..................................................................................42 5.4.1 Existiert in Deutschland eine Angst vor dem Islam? ...................................43 5.4.2 Wie und warum konnte eine Angst vor dem Islam entstehen? ....................47 5.4.3 Wird die Angst vor dem Islam instrumentalisiert? ......................................54 6 Schlussbetrachtungen .................................................................................................57 Literatur ..............................................................................................................................61 Anhang ................................................................................................................................69 A) Interviewleitfaden ......................................................................................................69 Einleitung 1 1 Einleitung Die Gegenwart wird von einigen Autoren als „Age of Anxiety“ bezeichnet (AUDEN 1948, DUNANT u. PORTER 1996, GLASSNER 1999, WILKINSON 1999, FUREDI 2002). Nach BAUMAN (2006) leben wir in einer Gesellschaft, die sich durch Gefahren bedroht sieht und nicht weiß, wie sie mit diesen Gefahren umgehen soll. Die Globalisierung und der technische Fortschritt produzieren Risiken, die nicht mehr kontrollierbar sind (BECK 1986). Atomare GAUs, Finanzkrisen, Pandemien, die Folgen des Klimawandels oder der globale Terroris- mus sind allgegenwärtige Bedrohungen; sie können jeden treffen, jederzeit und überall (BECK 2008). Die Antizipation der Katastrophe begründet eine Gesellschaft, die Angst vor einer unsicheren Zukunft hat (BAUMAN 2006, BECK 2008): „Fear is the name we give to our uncertainty: to our ignorance of the threat and what is to be done.“ (BAUMAN 2006: 2). Indem die Angst zu einer gesellschaftlichen Konstitution wird, wird sie eine machtvolle Emotion (HUNT 1999, FUREDI 2002, BOURKE 2003). Sie beeinflusst das politische, soziale und wirtschaftliche Geschehen (LAWSON 2007). Bereits Hobbes erkannte das Macht- potential der Angst und begründete auf ihr seine Staatsphilosophie (ROBIN 2004). Im Hobbesschen Naturzustand existiert kein Staat und es herrscht ein Krieg aller gegen alle: „That Condition is called War; and such war, as is of every man, against every man. In such a condition there is […] no Society, and which is worst of all, continual fear, and danger of violent death; And the life of Man, solitary, poor, nasty, brutish, and short.” (HOBBES 2010: 56). Aus Angst um ihr Leben schließen sich die Menschen im Naturzustand zu einer Gesellschaft zusammen und geben ihre Macht an einen Souverän ab, der ihnen im Gegenzug ein Leben in Sicherheit bietet (vgl. ROBIN 2004: 31 ff.): „Fear […] serve as its [the state’s] constituent element, establishing a negative moral foundation upon which men could live together in peace.” (ROBIN 2004: 34). Mit der Hobbesschen Staatsphilosophie wird die Gewährleistung von Sicherheit zur zentralen Aufgabe des Staates und von den Bürgern auch als „Recht auf Sicherheit“ eingefordert (ROBIN 2004). Die Bedrohungen und Katastrophen der Gegenwart zeigen aber, dass der Staat dieses Sicherheitsversprechen nicht erfüllen kann (BECK 2008). Den Bürgern bleibt nur ein „Recht auf Risiko“ und ein Leben mit der Angst (BECK 1986, ISIN 2004): „From this point onwards, fear ceases to be just an emotion; it is also an important part of the construction of identity.“ (FUREDI 2007: 8). Indem die Angst zu einem konstitutiven Element der Einleitung 2 Gesellschaft wird, beeinflusst sie wer wir sind, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, in ihr handeln und ihr Sinn verleihen (FUREDI 2007). FUREDI (2002) spricht auch von einer Kultur der Angst. Sie besagt, dass wir, beziehungsweise die Gesellschaft, unsere Umwelt als tendenziell bedrohlich wahrnehmen und unser Handeln in ihr durch Angst gekenn- zeichnet ist (FUREDI 2002). Die Kultur der Angst ist der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Mit ihrer engen Verwandtschaft zur Sicherheits- und Risikothematik fällt ihre Erforschung in das interdisziplinäre Aufgabenfeld der Geographie, Soziologie, Politologie und verwandter Wissenschaften. Im Gegensatz zu den Themen Sicherheit und Risiko wird Angst etwas „stiefmütterlich“ behandelt. Dies wird bereits an der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen deutlich. Zahlreiche Forschungen befassen sich mit den Risiken der Gegenwart und Denker wie BECK (1986), GIDDENS (1990), LUHMANN (1991) oder DOUGLAS (1994) konstatieren mit einer Risikogesellschaft das Ende der Sicherheit. Ein Ende der Sicherheit bedeutet im weitesten Sinne aber auch ein Leben in Angst und Sorge (KRASMANN et al. 2015). Vergleichsweise wenige Autoren diskutieren diesen Aspekt, sodass es bisher keine konzise Theorie einer Angstgesellschaft gibt. Ein erstes Ziel dieser Arbeit ist es daher, die bereits bestehenden Überlegungen hinsichtlich einer Kultur der Angst zu einem Gesamtbild zu verknüpfen. Es wird gefragt, wie eine Kultur der Angst entstehen kann, wie diese beschaffen ist und welche politischen Implikationen aus ihr folgen. Das zweite Ziel dieser Arbeit ist, die Theorie am Beispiel des Islams in Deutschland zu konkretisieren. Es wird gefragt, ob in Deutschland eine Angst vor dem Islam existiert, wie diese gegebenenfalls entstehen konnte und ob sie politisch instrumentalisiert wird. Traurigerweise ist das Untersuchungsbeispiel mit den religiös motivierten Terror- anschlägen vom 13. November 2015 in Paris und der gegenwärtigen (2015) Flüchtlings- debatte zu einem aktuellen Thema avanciert. Auch die diesbezügliche Berichterstattung weist eine entsprechende Konnotation auf: Die Reportage „Paris – Stadt der Angst“ (ARD 2015) ist nur ein Beispiel. Solch eine affirmative Berichterstattung ist auch eine diskursive Wirklichkeitskonstruktion. Ein ähnliches Dilemma (vgl. HUYSMANS 2002: 43 ff.) wohnt dem Untersuchungsbeispiel dieser Arbeit inne: Sprache schafft Realität (AUSTIN 1962, SEARLE 1969). Entsprechend ihrer Zielsetzung gliedert sich die Arbeit in zwei Teile. Im ersten Teil wird die Kultur der Angst aus einer abstrahierenden Perspektive betrachtet. Es werden zunächst die Begriffe Sicherheit, Risiko und Angst eingeführt. Anschließend wird auf Sicherheit, Risiko und Angst 3 zentrale Theorien hinsichtlich einer Kultur der Angst eingegangen. Den Ausgangspunkt dieses Abschnittes stellt BECKs (1986) Risikogesellschaft dar. Aus ihr leitet sich eine Kultur der Angst ab (FUREDI 2002). Mit der Kultur der Angst entsteht eine neue Form des Regierens, die ein neurotisches Subjekt in das Zentrum ihrer Machtrationalität setzt (ISIN 2004). Die politische Instrumentalisierung der Angst und ihre Raumwirksamkeit werden am geopolitischen Beispiel des Irakkrieges 2003 illustriert. Dieses Beispiel leitet zum nächsten Abschnitt über, in dem die Frage diskutiert wird, wie Ängste konstruiert werden. Hier wird mit BUZAN et al. (1998) auf die Bedeutung sogenannter „Versicherheitlichungen“ eingegangen und kurz die Rolle der Massenmedien erörtert. Im zweiten Teil der Arbeit wird die Theorie am Beispiel des Islams in Deutschland konkretisiert. Zunächst wird der Begriff „Islamophobie“ diskutiert und der aktuelle Forschungsstand zur Wahrnehmung des Islams erarbeitet. Folgend wird auf die Untersuchungsmethode (Experteninterviews) eingegangen. Entsprechend der Frage- stellung ist die anschließende Ergebnispräsentation und -diskussion in drei Abschnitte unterteilt. Zuerst wird auf die Frage eingegangen, ob in Deutschland eine Angst vor dem Islam existiert. Daran anknüpfend wird erörtert, wie und warum gegebenenfalls eine solche Angst entstehen konnte. Zuletzt wird die Frage diskutiert, ob die Angst vor dem Islam politisch instrumentalisiert wird. Im Fazit werden die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst, kritisch reflektiert und ein kurzer Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten gegeben. 2 Sicherheit, Risiko und Angst In dieser Arbeit nehmen die Begriffe „Sicherheit“, „Risiko“ und „Angst“ eine zentrale Stellung ein und werden im Folgenden definiert. Zunächst werden in Anlehnung an MÜNKLER (2010) kurz die Konzepte von Sicherheit und Risiko erläutert. Anschließend wird der Angstbegriff vertiefend betrachtet. 2.1 Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos Trotz ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit haben die Konzepte Sicherheit und Risiko ein gemeinsames Ziel: die Kontrolle von Gefahr und Bedrohung (MÜNKLER 2010). Die Begriffe „Gefahr“ und „Bedrohung“ werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Sie bezeichnen ein antizipiertes oder eingetretenes Ereignis, welches für die Betroffenen negative Konsequenzen (einschließlich des Todes) birgt. Der gelegentlich gemachten Unterscheidung zwischen intendierter Bedrohung und zufälliger Gefahr, wird hier nicht Sicherheit, Risiko und Angst 4 gefolgt (vgl. MÜNKLER 2010: 11). In der Praxis ist diese Differenzierung fragwürdig, da eine vermeintliche Gefahr auch eine unerkannte Bedrohung sein kann (KRASMANN et al. 2015, MÜNKLER 2010). Die Konzepte von Sicherheit und Risiko unterscheiden sich im Umgang mit der Gefahr. Das Konzept der Sicherheit versucht durch die Ausgrenzung alles Gefährlichen „Welten der Sicherheit“ zu schaffen, die sich durch ein deutlich geringeres Gefahrenniveau von ihrer Umgebung abgrenzen (MÜNKLER 2010). Ein Sinnbild dieser sicheren Welten oder Räume sind sogenannte „Gated Communities“: Wohnkomplexe, in denen durch Zäune und Wachpersonal die Gefahr draußen gehalten wird (MÜNKLER 2010). Sicherheit wird als die Abwesenheit der Gefahr verstanden (DAASE 2002). Die Strategie der Sicherheit führt jedoch in ein Dilemma: Je höher die Mauern einer Gemeinschaft sind, desto bedrohlicher nimmt sie die Außenwelt wahr; was wiederum zu einem noch größeren Sicherheits- bedürfnis und noch höheren Mauern führt (MÜNKLER 2010). Im Gegensatz zur Sicherheit, lässt sich das Risiko auf die Gefahr ein und macht sie durch Kalkül berechenbar. Das sogenannte „Risikokalkül“ ist das mathematische Produkt der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses und des erwarteten Schadens. Durch diese Berechnung wird das Risiko zu einem Wagnis (Chance vs. Gefahr) und bekommt ein Element des Spielerischen: Es werden bewusst Gefahren in Kauf genommen, um etwas gewinnen zu können. Dieser Umgang mit der Gefahr wird als „Kultur des Risikos“ bezeichnet. Ein Sinnbild dieser Kultur ist der Casinobesucher, der den kalkulierbaren Verlust seines Einsatzes riskiert um ein Vielfaches gewinnen zu können (MÜNKLER 2010). Nach LUHMANN (1991) manifestieren sich Risiken in Form von Entscheidungen über eine unsichere Zukunft. Weil die Zukunft unbekannt ist, besteht die Möglichkeit, dass durch gegenwärtige Entscheidungen ein zukünftiger Schaden verursacht wird: „Vom Risiko spricht man nur, wenn eine Entscheidung ausgemacht werden kann, ohne die es nicht zu dem Schaden kommen könnte. […] Für den Begriff […] ist nur ausschlaggebend, dass der kontingente Schaden selbst kontingent, also vermeidbar, verursacht wird.“ (LUHMANN 1991: 25). Die skizzierte Kultur des Risikos basiert auf der Vorstellung, dass Risiken freiwillig eingegangen werden: Der Hasardeur entscheidet sich freiwillig die Welt der Sicherheit zu verlassen, um am Wagnis der Risikokultur zu partizipieren. Wenn der Spieler das Casino verlässt, betritt er wieder eine Welt der Sicherheit. Dabei versprechen ihm die Institu- tionen der Sicherheit, wie zum Beispiel Gesetze, dass sein Gewinn am Casinoausgang Sicherheit, Risiko und Angst 5 nicht geklaut wird. In diesem Sinne sind die Kulturen des Risikos auf sichere Umwelten angewiesen (MÜNKLER 2010). Die Vorstellung, dass die Kulturen des Risikos in Welten der Sicherheit „eingebettet“ sind, ist jedoch falsch. Die Finanzkrise ab 2007 zeigte zum Beispiel, dass die Risiken des „Casino-Kapitalismus“ auch die vermeintlichen Welten der Sicherheit betreffen. Die Spekulationsverluste der Finanzinstitute wurden auch von denen getragen, die nicht am Spekulationsspiel teilgenommen hatten. Der Steuerzahler musste für die Bankenrettung aufkommen (MÜNKLER 2010). Die Wahl, in einer Welt der Sicherheit oder in einer Kultur des Risikos zu leben, besteht nur in sehr begrenztem Umfang (MÜNKLER 2010). Für einige Menschen ist das Leben in Risikokulturen optional, für viele jedoch nicht. Die Nutzung der „Exit-Chance“ ist häufig mit einem noch größeren Risiko verbunden, als weiterhin in der Kultur des Risikos zu verweilen. Ein Beispiel hierfür sind afrikanische Flüchtlinge, die versuchen mit Booten die sichere Welt Europas zu erreichen und dabei ihr Leben riskieren (MÜNKLER 2010). Auch existieren Gefahren und Bedrohungen, vor denen man nicht in sichere Welten flüchten kann. Nach BECK (1986) ist die Gesellschaft der fortgeschrittenen Moderne dazu „verdammt“, eine Risikogesellschaft zu sein (siehe Abschnitt 3.1 Risikogesellschaft). Mit dem Modernisierungsprozess gehen Risiken einher, die räumlich, zeitlich und sozial entgrenzt sind (BECK 1986). Beispiele hierfür sind der Klimawandel oder atomare GAUs. Die Welten der Sicherheit sind somit eine Utopie (BECK 1986). Auch LUHMANN (1991) sieht die Gesellschaft per se als eine Risikogesellschaft: Entscheidungen sind immer riskant, weil sie eine unbekannte Zukunft betreffen, welche durch gegenwärtige Entscheidungen möglicherweise negativ beeinflusst wird. Ein risikofreies Entscheiden, auch das Nichtentscheiden ist eine Entscheidung, ist daher unmöglich (vgl. LUHMANN 1991: 37 ff.). Ein eng mit den Konzepten Sicherheit und Risiko verbundener Begriff ist „Angst“. Der Zusammenhang zwischen Sicherheit und Angst spiegelt sich bereits in der Etymologie des Wortes „Sicherheit“ wider. Das Wort „Sicherheit“ geht auf den lateinischen Begriff „Securitas“ zurück. „Securitas“ ist ein Neologismus aus den Wörtern „sine“ (lat. ohne) und „curas“ (lat. Sorgen). „Securitas“ bedeutet also „ohne Sorgen“ (MÜNKLER 2010) und meint im weitesten Sinne ein Leben ohne Furcht und Angst (KRASMANN et al. 2015). Sicherheit, Risiko und Angst 6 2.2 Angst „Du läufst nachts einen Waldweg entlang. Zu deiner Rechten und Linken befindet sich undurchdringliches Dickicht. Die Stille ist gespenstisch. Nur deine Schritte sind zu hören. Plötzlich springt etwas auf deinen Weg. Vor dir steht ein Tiger. Er schaut dich direkt an. Du erstarrst mitten im Schritt. Dein Herz fängt an zu rasen. Du atmest flach. Dein Mund wird trocken. Kalter Schweiß läuft dir den Rücken runter. Du hast Angst.“ (nach TUDOR 2003: 239). Mit bedrohlichen Situationen assoziieren wir ein Gefühl, das als Angst bezeichnet wird. Grundlegend wird in dieser Arbeit Angst aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive verstanden, in der Angst ein elementares Gefühl der Besorgnis ist (WILKINSON 1999). Genauer wird hier Angst als ein affektiver Zustand definiert, der „[…] durch die Selbstwahrnehmung von Erregung, das Gefühl des Angespanntseins, ein Erlebnis des Bedrohtwerdens und verstärkte Besorgnis gekennzeichnet ist.“ (KROHNE 1996: 8). Es wird zwischen einer Existenzangst (z. B. Todesangst), einer sozialen Angst (z. B. Angst vor Fremden) und einer Leistungsangst (z. B. Prüfungsangst) differenziert (TEWES u. WILDGRUBE 1999). Angst kann sich auf ein konkretes, gegenwärtiges oder auf ein antizipiertes, zukünftiges Ereignis beziehen (JACKSON u. EVERTS 2010). In der englischsprachigen Literatur wird häufig zwischen den Begriffen „Fear“ und „Anxiety“ unterschieden (WILKINSON 1999, BOURKE 2003). Während „Fear“ verwendet wird um eine rationale und augenblickliche Angst gegenüber einem konkreten Objekt auszudrücken, wird „Anxiety“ in Bezug auf eine antizipierte Bedrohung genutzt und drückt eine irrationale und nicht konkrete Angst aus (BOURKE 2003, JACKSON u. EVERTS 2010). Im obigen Beispiel würde der Begriff „Fear“ die Angst vor dem Tiger beschreiben und „Anxiety“ die Angst, bevor der Tiger erscheint. BOURKE (2003) argumentiert, dass sich die Begriffe „Fear“ und „Anxiety“ nur minimal unterscheiden: „The only difference between a ‘fear’ and an ‘anxiety’ is the ability of individuals or a group to believe themselves capable of assessing risk or identifying a (supposed) enemy.“ (BOURKE 2003: 126). Doch selbst dieser Unterschied ist nicht unbedingt haltbar: Viele konkrete Ängste werden mit einer unspezifischen Angst in Verbindung gebracht (JACKSON u. EVERTS 2010). Beispielsweise wird nach HAFEZ und SCHMIDT (2015) die Angst vor einem islamistischen Terroranschlag mit einer allgemeinen Furcht vor dem Islam und den Muslimen assoziiert. Ebenso kann aus einer unspezifischen Angst eine konkrete Angst werden: „Scapegoating, for instance, enables a group to convert an anxiety into fear […].“ (BOURKE 2003: 127). In dieser Arbeit werden daher „Fear“ und „Anxiety“ als zwei Seiten einer Medaille verstanden (AHMED 2004, JACKSON u. EVERTS 2010). Sicherheit, Risiko und Angst 7 Die Gefahren und Bedrohungen, vor denen wir Angst haben, können in bestimmten Räumen verortet werden. Hierzu zählt nicht nur der „Naturraum“ mit seinen Naturgefahren (z. B. Erdbeben) oder die vom Menschen gestaltete Umwelt mit ihren Bedrohungen (z. B. Atom- energie), sondern auch CASTELLS’ Raum der Ströme. Im Raum der Ströme organisiert sich die Netzwerkgesellschaft. Eine typische Gefahr, die sich in diesem Raum manifestiert sind Finanz- krisen (vgl. CASTELLS 2004: 146 ff.). Das Angst- empfinden gegenüber Gefahren und Bedro- hungen wird von einem komplexen Wirkungs- gefüge verschiedener Parameter beeinflusst Abbildung 1: Angst als soziales Konstrukt (WILKINSON 1999, TUDOR 2003). (verändert nach TUDOR 2003: 248). TUDOR (2003) unterscheidet zwischen institutionalisierten Makrostrukturen, wie der Kultur und Gesellschaftsstruktur, sowie individuellen Eigenschaften, wie der Persönlichkeit, Körperstatur und sozialen Rolle, die das Angstempfinden steuern (siehe Abbildung 1). So legt zum Beispiel die Kultur fest, in welchen Situationen wir Angst empfinden. Sie beeinflusst unsere Werte, Stereotype, Vorurteile, Ideen und Glaubensüberzeugungen. Dadurch lehrt sie uns, vor welchen Aktivitäten, Menschen oder Orten wir uns ängstigen sollen (TUDOR 2003). Auch die Historikerin BOURKE (2005) betrachtet Angst als ein kulturelles Konstrukt. Angst ist nicht naturgegeben, sondern erlernt. Bestimmte Institutionen, wie die Familie, Schule oder Medien vermitteln, wovor man Angst haben soll. Da sich eine Kultur mit der Zeit wandelt, kann sich auch die Angst im Laufe der Zeit verändern (BOURKE 2003, BOURKE 2005): „Unseen yet harmful microbes and bacteria are equal to the task previously given to evil spirits; scientists have replaced sorcerers in threatening to destroy the world.“ (BOURKE 2003: 112). Ebenso beeinflusst die Gesellschaftsstruktur und die Position, welche man in ihr einnimmt, das Angstempfinden: „Anxiety is manifested within an unequal social distribution of psychological distress which follows definite patterns of social stratification.“ (WILKINSON 1999: 457). Angst kann die Folge einer sozialen Deprivation sein. Das Fehlen sozialer Sicherheiten, zum Beispiel eines Sozialstaates oder eines sozialen Netzwerkes, trägt zur Entstehung von Ängsten wie Altersarmut oder Einsamkeit bei (WILKINSON 1999, TUDOR 2003). Sicherheit, Risiko und Angst 8 Auf der Ebene des Individuums wirkt sich die Persönlichkeit auf das Angstempfinden aus. Die Persönlichkeit meint hier die psychologische Veranlagung des Individuums und seine gemachten Erfahrungen. So sind einige Menschen von Natur aus ängstlicher als andere. Auch kann eine Person eine bestimmte Situation mit negativen Erfahrungen verbinden und sich fürchten, während eine andere Person in derselben Situation positive Erfahrungen gemacht hat und keine Angst empfindet (TUDOR 2003). Ebenso ist in einer körperlichen Konfliktsituation der trainierte und gesunde Mensch tendenziell weniger ängstlich als sein kleineres und schwächeres Gegenüber (TUDOR 2003). Letztlich wird das Angstempfinden auch von der sozialen Rolle beeinflusst: Das Kind beurteilt die Situation unbeaufsichtigt und allein auf der Straße zu spielen positiv, während sich die Eltern eventuell Sorgen (z. B. „Stranger Danger“) machen (TUDOR 2003). Neben dem sozialwissenschaftlichen Angstverständnis wird in dieser Arbeit auch auf die existenzphilosophische Auslegung des Angstbegriffes Bezug genommen. Nach KIERKEGAARD, NIETZSCHE und HEIDEGGER ist Angst die Einsicht in die Nichtigkeit alles Seins, einschließlich der eigenen Existenz (vgl. JACKSON u. EVERTS 2010: 2795 ff.). Im Zustand der Angst realisiert das Individuum die Relativität seiner Umwelt und seiner eigenen Existenz. Unsere Existenz ist bedeutungslos; das Leben hat keinen höheren Sinn. Spätestens mit der Erkenntnis der eigenen Endlichkeit wird man sich der Nichtigkeit von Allem bewusst (JACKSON u. EVERTS 2010): „In the face of anxiety, an individual realises that these meanings are not stable or absolute but relative; that we are ourselves the creators of these meanings. The world in itself has no meaning; therefore, there is nothing. Anxiety also reveals the inevitability of one’s own death which is the annihilation of being.” (JACKSON u. EVERTS 2010: 2796). In diesem Sinne basiert Angst auf einem Ereignis, das mit der alltäglichen Routine bricht und den Menschen mit der Idee des Nihilismus konfrontiert: „Whereas many doings (in fact the vast majority) assert the everydayness of life, the anxiety-event is a deep cut. It is an event that brings about the realisation of nothingness.“ (JACKSON u. EVERTS 2010: 2798). Indem ein Ereignis über das Potential verfügt, etwas Seiendes in etwas nicht Seiendes zu verwandeln, kann es zu einem Angstereignis werden. Tatsächlich basieren viele Ängste auf der Zukunftsprojektion eines gegenwärtigen Ereignisses und gehen von der eigenen Todesmöglichkeit aus. Ob ein Ereignis tatsächlich Angst hervorruft, hängt daher von seiner Inszenierung ab (siehe Abschnitt 4 Zur Konstruktion von Ängsten) (JACKSON u. EVERTS 2010): „Framing is the activity that can turn any event that presents itself as rupture into an extensive event of anxiety.“ (JACKSON u. EVERTS 2010: 2798).
Description: