Die akuten Erkrankungen der GaumenmaIldeln und ibrer unmittelbaren Umgebung Leitfaden fiir Arzte und Studierende von Dr. rued. Werner Schultz Dirigierender Arzt der n. inneren Abteilung des Krankenl1auses Charlottenburg-Westend Mit 1925 Abbildungen Berlin Verlag von Julius Springer 1925 ISBN-13: 978-3-642-90383-0 e-ISBN-13: 978-3-642-92240-4 001: 10.1007/978-3-642-92240-4 ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER UBERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN. VORBEHALTEN COPYRIGHT 1925 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN Softcover reprint of the hardcover 18t edition 1925 Vorwort. Die Anginen sind lange Stiefkind gewesen. Interne und Spe zialisten haben sich bis vor kurzem in die Aufgabe geteilt, das Gebiet unbeachtet, oder, wenn das zu viel gesagt ist, unentwickelt zu lassen. Die weittragenden Fortschritte auf dem Gebiete der Diphtherie haben zweifellos auf der Schattenseite zu einem Des interessement gefUhrt, das anderen Fragen zum Verhangnis ge worden ist. Hierin ist nun neuerdings eine Wendung eingetreten, insofern als von verschiedenen Seiten, klinische und experimen telle Forschungen Ansatze zu einem fUr Pathologie und Praxis in gleicher Weise aussichtsreichen Arbeitsfeld beleuchteL haben. Wenn es personliche Erlebnisse sind, die zu dem Entwurf des vorliegenden Leitfadens gefiihrt haben, so liegt der Grund hierfiir einmal in der Tatsache, daB seit J ahren eine reiche Sammlung von Halserkrankungen des GroB-Berliner Westens auf der unter meiner arztlichen Leitung stehenden zweiten inneren Abteilung des Krankenhauses Westend vereinigt ist. Des weiteren hat sich aber herausgesteIlt, daB sich im Laufe der Zeit immer wieder schwerste perakut verlaufende FaIle einfinden, deren Pathologie von hochstem Interesse ist, ohne deren intime Kenntnis indessen die klinische Aufklarung der Faile sehr haufig miBlingt. weil die Uberstiirzung der Ereignisse rasches und zielbewuBtes Eingehen auf den Fall verlangt. Wir werden diese FaIle niemals heilen, wenn wir sie nicht wenigstens diagnostizieren. Den Gegenstand des vorliegenden Abrisses bilden die akuten Tonsillenerkrankungen als Krankheiten fUr sich und als fUhrendes Symptom. Da wir iiberall am Anfang der Probleme stehen, kann die allgemeine Pathologie der Tonsillenerkrankungen, die hier versucht ist, lediglich als bescheidener Beginn betrachtet werden. 1m speziellen Teil sind auch die neuerdings diskutierten, aber noch nicht vollig geklarten Krankheitsbilder wie Monocyten- IV Vorwort. angina und Agranulocytose beriicksichtigt und die Wichtigkeit der hamatologischen Seite ist unterstrichen. SpezieIl fur ein naheres pathologisch-anatomisches Eingehen auf die Agranulocytose bin ich auBer den ersten Untersuchungen von VERSE, dem Prosektor unseres Krankenhauses, Herm Prof. CEELEN zu Danke verpflichtet. Das gleiche gilt fur den Leiter unseres Untersuchungsamtes, Herm Oberarzt ELKELES beziig lich bakteriologischer Befunde. Ferner bin ich in dankenswerter Weise durch den Direktor des Charlottenburger Krankenhauses fur Haut- und Geschlechtskranke, Prof. BRUHNS, durch Hinweise auf seinem Spezialgebiet und vortreffliche Abbildungen der lueti schen Halserkrankungen unterstutzt. Seine materielle Existenz verdankt der Leitfaden der rasehen Initiative von Herrn Dr. med. h. c. SPRINGER, was ieh auch an dieser Stelle mit Dank hervor hebe. Ieh wiirde es als einen Erfolg begriiBen, wenn dieser kurze AbriB dazu beitragt, das organische Zusammenwirken der Dis ziplinen auch in der Hand des Praktikers zu steigern, welche letzten Endes der entseheidende Faktor fiir aIle Auswirkungen der Heilkunde ist. Berlin-Charlottenburg, im Mai 1925. Werner Schultz. Inhaltsverzeichnis. Selte Allgemeiner Teil 1 Anatomie und Physiologie 1 Pathogenese. • . • . . . 4 Pathologische Anatomie 21 Allgemeine Therapie der Tonsillitiden 24 Spez i ell eT Teil . . . . . 28 Diphtherie . . . . . . • . . . . . . 28 Bakteriologie S. 28. - Experimentelle Pathologie S. 30. - Klinik der Diphtherie S. 32. - Diagnose S. 37. - Pathogenese. Pathologische Anatomie. Immunitat S. 38. - Bacillentrager S. 42 . - Prophylaxe S. 44. - Allgemeinbehandlung der Diphtherie S.50. - Serumtherapie der Diphtherie S. 51. - Anaphylaxie S.53. Tonsillitis acuta (Anhang: Angina herpetica) 56 Peritonsillitis und TonsillarabsceB 64 Monocytenangina. . . • . 67 Plaut· Vincentsche Angina 83 Lues der Mandeln . . . . 89 Mandelaffektionen bei Gonorrhoe 92 Akut verlaufende Tuberkulose der Rachenteile 93 Mandelerkrankungen bei schweren akut verlaufenden Affektionen des hamatopoetischen Apparates 94 Akute Leukamie . . . . . . 94 Aleukocythamische Leukamie 97 Amyelie . . • . . . . . . . 100 Agranulocytose • . . . . . • 109 Mandelerkrankungen bei sonstigen Infektionszustanden und Intoxi- kationen . . . . . 123 Aphthae epizooticae. . . . . . . • 124 Colitis cystica . . . . . . . . . . 126 Erythema exsudativum multiforme . 127 VI Inhaltsverzeichnis. Seite Erythema infectiosum . 131 Erythema nodosum 131 Grippe ...... . 131 Meningitis cerebrospinalis epidemica 134 Morbilli ..... . 135 Rubeolae 135 Typhus abdominalis . 135 Scarlatina 136 Vaccine . 138 VariceUae 139 Variola .. 139 I'ltoxikationen 139 S achverzeichnis 145 Allgemeiner Teil. Anatomie und Physiologie. Die Gaumentonsillen gehoren dem Mundrachen, Mes op h arynx, an, der gegen den Epipharynx durch das Gaumensegel, gegen den Hypopharynx durch den Zungengrund abgegrenzt wird. Die Entwicklungsgeschichte lehrt die Entstehung der Gaumen mandeln aus einer Tiefenwucherung des Ektoderms im ventralen Anteil einer im Grunde der zweiten Schlundspalte sich anlegenden Grube. Beim Fiitus deckt eine vom vorderen Gaumenbogen ausgehende Plica trian gularis von der Medianseite her die ganze Mandelgegend zu, so daB sie in diesem Entwicklungsstadium abgezogen werden muB, um die eigentliche Mandelbucht zur Anschauung zu bringen. Die Mandelbucht wird von dem iiber ihr liegenden Recessus palatinus durch eine feste, diaphragmaartige Gewebsplatte, die Plica transversa, abgeschieden. Die Mandeln sind im fertigen Zustande Aggregate von Balg drUsen. Topographisch liegt die Tonsilla palatina zwischen den beiderseitigen vorderen und hinteren Gaumenbogen in einer Nische, die in 2 Abschnitte gesondert ist. Die Mandel, die vorn von einer deutlichen Schleimhautfalte, der erwahnten Plica triangularis, um grenzt wird, nimmt den hinteren Abschnitt ein, liegt also dem hinteren Gaumenbogen an. Der vordere, pratonsillare Abschnitt der Nische zeigt wechselnde Befunde. Er ist bald tiefer einge buchtet und glatt, bald springt er durch groBe BalgdrUsen aus gezeichnet stark vor. Diese letzteren haben, wie GEGENBAUR annimmt, nichts mit denen der Mandel zu tun, von der sie durch die erwahnte Schleimhautfalte scharf geschieden sind, und werden als Fortsetzungen des Balgdriisenkomplexes der Zungenwurzel auf gefaBt. 1m ausgebildeten Zustand wird die gesamte Mandelgegend (Mandel- und Supratonsillarbucht) von der fibrosen Mandel kapsel gemeinsam umschlossen. Mikroskopisch sind die Mandeln vom Pflasterepithel der Mundhohle ausgekleidet. Eine eigentliche Submucosa existiert Schul tz, Gaumenmandeln. 1 2 Anatomie und Physiologie. nicht, das lymphadenoide Gewebe wird nur von diinner Epithel schicht iiberzogen. Wahrend die Rohle der Balgdriisen der Zungenwurzel, ebenso wie die der Rachenmandel in ihrer unteren Flache den Aus fiihrungsgang einer tiefer gelegenen Schleimdriise aufnimmt, zeigen die Gaumenmandeln dadurch einen bemerkenswerten Unter schied, daB in ihnen nirgends ein Schleimausfiihrungsgang in das Kryptenlumen einmiindet. C. RmSCH meint, "daB man weder in den adenoiden Vegetationen am Rachendach noch an der Zungen grundmandel eine Pfropfbildung im gleichen Sinne wie in den Gaumenmandeln beobachtet hat, weil eben in den Gaumenmandeln der Speichel nicht in die Kryptenlumina einstromt und das pfropf bildende Material nicht abgefiihrt wird." Beziiglich der LymphgefaBe der Gaumenmandeln nimmt man, wie CASAR HmsCH ausfiihrt, insbesondere nach SCHLEMMER an, daB weder die Gaumentonsille noch die iibrige lymphadenoide Substanz der Mundrachenhohle, also der ganze W ALDEYERSche Schlundring zufiihrende LymphgefaBe besitzen. Der Lymph abfluB aus den Tonsillen findet ausschlieBlich zentripetal zur vorderen oberen Gruppe der Glandulae jugulares statt. Es existiert keine zentrifugale, pharynxwarts gerichtete Lymphbewegung. Das Lymphcapillarnetz stellt in den Tonsillen ein geschlossenes Kanal system dar. Es gibt keine kryptenwarts offene Enden desselben, durch die ein zentrifugaler Lymphstrom moglich ware. Nach allem hat man die Gaumenmandeln als einen Komplex peri pherer Lymphknotchen, nicht aber als Lymphdriisen auf zufassen. Man nimmt heute nicht mehr an, daB die Lymphocyten durch einen Lymphstrom an die Oberflache geschafft werden, sondern durch eine aktive Wanderung, die auch in anderen Ab schnitten des Digestionstractus vor sich geht. Die Ansicht friiherer Autoren, daB Lymphocyten sich nur extrem langsam bewegen, muB heute ala widerlegt geIten, nachdem MORTON Mc. CUTCHEON gezeigt hat, daB menschllche Lymphocyten bei Beobachtung unter dem geheizten Mikroskop eine allmahlich bis zur neunten Be obachtungsstunde fortschreitende Zunahme der Lokomotion zeigen. Die h6chste Geschwindigkeit eines einzelnen Lymphocyten betrug 30 Mikren pro Minute, annahernd soviel ala die Geschwindigkeit eines neutrophilen Leukocyten. In den "Keimzentren" der Follikel sieht man heute nicht mehr die Bildungsstatten der Lymphocyten, sondern Reaktionszentren, Anatomie und Physiologie. 3 in denen im Gegenteil die Lymphocyten, wenn sie beschadigt sind, unschadlich gem1tcht werden, ebenso wie Bakterien und deren Toxine. Was die angebliche Schutzfunktion der Mandeln be trifft, so ist es kaum verstandlich, daB die Anhaufungen lymph adenoiden Gewebes nur im jugendlichen Alter voll vegetierend vor handen sind, wahrend man bei alteren Individuen, die doch auch des Schutzes bediirftig sind, an Stelle der Tonsillen oft bloB mehr einige Furchen der Schleimhaut mit sehr sparlichem Gewebe antrifft. AuBerdem leiden jugendliche Individuen oft sehr stark (Mandelkinder!) und erholen sich prachtig nach deren Entfernung. Uber die innere Sekretion der Mandeln ist uns nichts zu verlassiges bekannt. Die Tonsillensubstanz hat nach KELEMEN und v. GARA stark gerinnungsbeschleunigende Eigenschaften. Wir wissen seit mehr als einem halben Jahrhundert (ALEXANDER SCHMIDT), daB dies bei allen parenchymatosen Organen, speziell den lymphatischen der Fall ist, somit keine Sondereigenschaft der Mandeln vorliegt. Nach MINK haben die Tonsillen die Durchfeuchtung der Atmungsluft durch Wasserabgabe an ihrer Oberflache zu be sorgen. Danach waren die Mandem ein Manometer fUr das Wasser bediirfnis des Organismus unter Vermittlung des DurstgefUhls. Ergebnisse der Mandelexstirpation sprechen nicht fUr diese Theorie. Man glaubte, daB die MandeIn wegen ihrer anatomisch-histo logischen Merkmale besonders als Eintrittspforten fiir eine Reihe von Krankheiten in Frage kommen. Sie besitzen tief gehende und weitverzweigte Krypten, in die keine Ausfiihrungs gange der Schleimdriisen einmiinden, massenhafte Bakterienflora in den Kryptenkonkrementen, ii ppige Lymphocytendurchwanderung des Epithels mit Zerrei13ung desselben. Was von dieser Auffassung zu halten ist, werden die eingehenden Ausfiihrungen weiter unten ergeben. Die Fortleitung einer Infektion von den Mandeln aus trifft, wie C. HIRSCH ausfiihrt, zunachst die LymphgefaBe und macht sich in einer Lymphdriise geltend. Nach GOLDMANN erkrankt zuerst die paratonsillare Driise in der Regio retromandibularis, etwa in der Hohe der Mandel selbst, dann die Driisen zwischen Schildknorpel und Zungenbein, weiterhin die in der Einmiindung der Vena facialis communis in die Jugularis interna gelegene, zu letzt die tiefen cervicalen Driisen entlang der Vena jugularis interna. 1* 4 Pathogenese. Pathogenese. Die altere, vielfach noch herrschende Anschauung iiber die Entstehung der Tonsillitiden geht dahin, in den Tonsillen gleich zeitig den Ort der Infektion und der Krankheitsmanifestation, Eingangspforte und Krankheitssitz zu erblicken. Gegen die All gemeingiiltigkeit dieser Ansicht sprechen nun eine Reihe seit Jahren vertretener grundsatzlicher innerklinischer und neuerdings spezialistischer Anschauungen, die zum Teil in einer Monographie von FEIN einen Niederschlag erhalten haben. Die Gedankengange lassen sich in etwa folgenden Satzen niederlegen, deren Ein schrankungen weiter unten zu erortern sind. 1. Wir haben keinen Grund, anzunehmen, daB die Erreger iibertragbarer Tonsillitiden vorzugsweise durch die Mandeln ein dringen, vielmehr bietet der ganze Komplex Naseneingang, Nase, Epi-, Meso- und Hypopharynx, Mundhohle und Kehlkopf tausendfaltig Gelegenheit zur Aufnahme krankhafter Keime. 2. Die Entstehung der iibertragbaren Tonsillitis ist durchweg eine hamatogene, die Tonsillen sind demgemaB Manifestations ort einer Allgemeinerkrankung. 3. Zwischen Tonsillen und gewissen Infekten besteht eine analoge biologische Affinitat wie zwischen Typhusbacillen und PEYERSchen Plaques. Man nimmt heute an, daB die Affektion der letzteren indirekt, d. h. vom Elute aus zustande kommt. 4. Die Rolle der Streptokokken und einiger anderer Erreger bei Tonsillitiden ist pathogenetisch eine sekundare. Unter Beriicksichtigung der 4 aufgestellten Punkte gibt uns das Paradigma des Scharlachs eine verhaltnismaBig klare und akzeptable Pathogenese einer Tonsillitis mit Beteiligung von Streptokokken. Der prim are Infekt wird durch das noch un bekannte, unsichtbare spezifische Virus dargestellt, dessen Ein gangspforte durchaus nicht die Tonsillen zu sein brauchen, wie dies einmal durch das Vorkommen von Scharlach ohne Angina gezeigt wird, ferner durch die Entwicklung von echtem Scharlach mit Angina im AnschluB an auBere Hautverletzungen. Die Angina kann also fehlen, wenn die biologische Affinitat des Virus zu den Tonsillen fehlt. Die Streptokokken spielen die Rolle von "Hyanen." Ihre Tatigkeit beginnt, wenn der Weg fiir sie durch den Scharlacherreger im biologischen Sinne geoffnet ist.