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Der Staat und die Sicherheitsgesellschaft PDF

272 Pages·2018·2.763 MB·German
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Staat – Souveränität – Nation Jens Puschke Tobias Singelnstein Hrsg. Der Staat und die Sicherheitsgesellschaft Staat – Souveränität – Nation Beiträge zur aktuellen Staatsdiskussion Reihe herausgegeben von R. Voigt, Netphen, Deutschland S. Salzborn, Berlin, Deutschland Zu einem modernen Staat gehören Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk (Georg Jellinek). In Gestalt des Nationalstaates gibt sich das Staatsvolk auf einem bestimmten Territorium eine institutionelle Form, die sich über die Jahrhunder te bewährt hat. Seit seiner Etablierung im Gefolge der Französischen Revolution hat der Nationalstaat Differenzen in der Gesellschaft auszugleichen vermocht, die andere Herrschaftsverbände gesprengt haben. Herzstück des Staates ist die Sou- veränität (Jean Bodin), ein nicht souveräner Herrschaftsverband ist kein echter Staat (Hermann Heller). Umgekehrt ist der Weg von der eingeschränkten Souve- ränität bis zum Scheitern eines Staates nicht weit. Nur der Staat ist jedoch Garant für Sicherheit, Freiheit und Wohlstand der Menschen. Keine internationale Orga- nisation konnte diese Garantie in ähnlicher Weise übernehmen. Bis vor wenigen Jahren schien das Ende des herkömmlichen souveränen Nati- onalstaates gekommen zu sein. An seine Stelle sollten supranationale Institutio- nen wie die Europäische Union und – auf längere Sicht – der kosmopolitische Weltstaat treten. Die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu weiterer Integ- ration schwindet jedoch, während gleichzeitig die Eurokratie immer mehr Macht anzuhäufen versucht. Die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen ist zweifelhaft geworden. Das Vertrauen in die Politik nimmt ab. Wichtige Orientierungspunkte (NATO, EU, USA) haben ihre Bedeutung für die Gestaltung der Politik verloren. In dieser Situation ist der souveräne Nationalstaat, jenes „Glanzstück occidentalen Rationalismus“ (Carl Schmitt), der letzte Anker, an dem sich die Nationen festhalten (können). Dabei spielt die Frage nur eine untergeordnete Rolle, ob die Nation „gemacht“ (Benedict Anderson) worden oder ursprünglich bereits vorhanden ist, denn es geht nicht um eine ethnisch definierte Nation, sondern um das, was Cicero das „Vaterland des Rechts“ genannt hat. Die „Staatsabstinenz“ scheint sich auch in der Politikwissenschaft ihrem Ende zu nähern. Und wie soll der Staat der Zukunft gestaltet sein? Dieser Thematik will sich die interdisziplinäre Reihe Staat – Souveränität – Nation widmen, die Mono- grafien und Sammelbände von Forschern und Forscherinnen aus unterschiedlichen Disziplinen einem interessierten Publikum vorstellen will. Das besondere Anliegen der Herausgeber der Reihe ist es, einer neuen Generation von politisch interessier- ten Studierenden den Staat in allen seinen Facetten vorzustellen. Rüdiger Voigt Samuel Salzborn Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12756 Jens Puschke · Tobias Singelnstein (Hrsg.) Der Staat und die Sicherheitsgesellschaft Herausgeber Jens Puschke Tobias Singelnstein Marburg, Deutschland Bochum, Deutschland Staat – Souveränität – Nation ISBN 978-3-658-19300-3 ISBN 978-3-658-19301-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-19301-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa- tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Jens Puschke und Tobias Singelnstein Grundlegende Perspektiven Bringing the State back in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Oder: Was hat der Staat in der Sicherheitsgesellschaft verloren? Reinhard Kreissl Sicherheitsstaat und neue Formen des Autoritären (Staates) in Europa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Ein Versuch begriffl icher Annäherung Kadriye Pile und Andreas Fisahn Das Paradox der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Über ein Versprechen des Rechts und seine Folgen Benno Zabel Konkretisierungen Zur Politik der Sicherheitsversprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Die biometrische Verheißung Sylvia Kühne und Christina Schlepper V VI Inhaltsverzeichnis Der Staat in der prognostischen Sicherheitsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 101 Ein technografi sches Forschungsprogramm Lars Ostermeier Ein politisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Zwei Jahre Ausnahmezustand in Frankreich (November 2015 bis November 2017) Fabien Jobard Der zu schützende Staat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Kritik der Aufgabendefi nition von Polizei und Verfassungsschutz in Deutschland und Perspektiven eines Paradigmenwechsels Hartmut Aden Strafrecht und Kriminalisierung im Besonderen Perioden der Kriminalisierung im und durch den (west-) deutschen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Zum Wert marxistischer Analysen Bernd Belina Funktionswandel des Strafrechts in der Sicherheitsgesellschaft . . . . . . . . 193 Beatrice Brunhöber Konturen einer „Sicherheitsgesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Diskursanalytische Hinweise am Beispiel Jugendkriminalität Bernd Dollinger, Dirk Lampe und Henning Schmidt-Semisch Terrorismusbekämpfung durch das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Die Rolle des Strafrechts als Teil eines Hegemonieprojekts Jens Puschke und Jannik Rienhoff Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Vorwort Jens Puschke und Tobias Singelnstein Die Rolle des Staates in der Sicherheitsgesellschaft ist eine widersprüchliche. Staatliche Instanzen sind in der jüngeren Vergangenheit einerseits stark an der Herstellung zunehmender Sicherheitsbedürfnisse und somit dem massiven Bedeu- tungszuwachs individueller, bürgerlicher Sicherheit beteiligt. Die starke Betonung von Sicherheitsbedürfnissen und -notwendigkeiten, symbolische Gesetzgebung und die Selbstpräsentation des Staates im Feld der Sicherheitsproduktion führen ebenso wie eine zunehmende soziale Prekarisierung dazu, dass individuelle Si- cherheit vor ganz verschiedenen Bedrohungen eine steigende Bedeutung erfährt. Andererseits ist der Staat eine wesentliche Instanz, die diese Bedürfnisse befrie- digen kann, will bzw. soll (Singelnstein und Stolle 2012, S. 34ff.). Diese Aufgabe wird sowohl von der Gesellschaft an ihn herangetragen, als auch von ihm selbst für sich reklamiert. Zugleich werden die Fähigkeit des Staates zur Lösung dieser Aufgaben und die in der Bevölkerung wahrgenommene Legitimität des Staates und seiner Instanzen mit dem Ausmaß des Auftretens abweichenden Verhaltens in Verbindung gebracht (Nivette 2014, S. 93ff.). Dementsprechend ergibt auch die Betrachtung, wie der Staat die Rolle als Si- cherheitsproduzent in der jüngeren Vergangenheit ausfüllt, ein widersprüchliches Bild. Die Analysen reichen von einem Rückzug des Staates aus der Sicherheits- produktion und Tendenzen der Privatisierung (Briken und Eick 2011, S. 34ff.) über Veränderungen der Formen – etwa hin zu einem Regieren aus der Distanz (Bourdieu 1998, S. 99f.) – bis hin zu der Feststellung, dass die Produktion von Sicherheit vor Kriminalität und anderen Bedrohungen und Gefahren eines der wenigen Politikfelder darstellt, auf denen der Staat noch Handlungsfähigkeit de- VII VIII Vorwort monstrieren kann und das demnach besondere Bedeutung hat – in der Kriminolo- gie wird dies etwa unter dem Topos „governing through crime“ diskutiert (Simon 2007). Angesichts dessen stehen scheinbar gegensätzliche Entwicklungen neben- einander, wie zum Beispiel der massive Ausbau von Befugnissen und Ressourcen der Nachrichtendienste einerseits und die Verlagerung wirtschaftsstrafrechtlicher Sozialkontrolle vom Staat hin zu den Unternehmen in Form der Compliance an- dererseits. Schließlich stellt auch der Staat selbst keinen einheitlichen Block dar, sondern ist eine Institution bzw. ein Feld, innerhalb dessen sehr unterschiedliche Interessen bestehen und Akteure in einem ständigen Prozess agieren (Singelnstein und Stolle 2012, S. 45ff.). Der Sammelband beleuchtet verschiedene Facetten dieses Verhältnisses von Staat und Sicherheitsgesellschaft anhand von Veränderungen in den zurückliegen- den zwei bis drei Jahrzehnten. Ziel dessen ist es, die skizzierte Widersprüchlich- keit nicht zu übertünchen, sondern sie sichtbar zu machen und zu analysieren. Manche Beiträge wählen hierfür eine grundlegende Herangehensweise und ar- beiten bestimmte grundsätzliche Entwicklungen oder Veränderungen der Sicher- heitsproduktion heraus. Dies erfolgt teilweise in einer theoretisch-analytischen Perspektive, in weiteren Beiträgen empirisch. Andere Beiträge nehmen einzelne Entwicklungen oder Aspekte staatlicher Sicherheitsproduktion detailliert in den Blick und ordnen sie in die Gesamtentwicklung ein. Zusammenfassend können die Beiträge in drei Gruppen eingeteilt werden. Die erste Gruppe verfolgt eine grund- legende analytische Perspektive und stellt die Frage nach der Rolle des Staates angesichts der jüngeren Veränderungen im Bereich der Sicherheitsproduktion. Hieran schließt eine zweite Gruppe von Beiträgen an, die konkrete Aspekte dieser Entwicklungen in den Blick nimmt. Die dritte Gruppe von Beiträgen schließlich befasst sich mit Strafrecht und Kriminalisierung als einem spezifi schen Teil- bereich staatlicher Sicherheitsproduktion. Der Band eröffnet mit zwei grundlegenden Beiträgen, die das Feld Staat und Sicherheitsgesellschaft abstecken. Reinhard Kreissl fragt, was der Staat in der Sicherheitsgesellschaft verloren habe und nimmt Verbindungen und Trennendes zwischen Staat, Politik und gesellschaftlichen Prozessen in den Blick. Er zeichnet die grundlegenden Veränderungen der zurückliegenden Jahrzehnte nach und zeigt die vielfältigen Herausforderungen auf, vor denen sich Staat und Politik sehen und wie sie hierauf reagieren. Pile und Fisahn richten den Fokus demgegenüber auf verschiedene Entwicklun- gen in Europa in den zurückliegenden Jahren – Rechtspopulismus, Wirtschafts- politik und Krise, Demokratieabbau. Sie zeichnen nach, auf welche unterschied- lichen Weisen Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechte in der EU und anderen europäischen Ländern unter Druck geraten und ausgehöhlt werden. Vor diesem Vorwort IX Hintergrund wagen sie sich an eine begriffl iche Annäherung und stellen die Frage, was eigentlich einen Sicherheitsstaat konkret ausmache, welche Gesichter er haben und in welcher Form er auftreten könne. Hierfür analysieren sie die Situation in verschiedenen europäischen Ländern. Der Beitrag von Benno Zabel beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen zum Verhältnis von Prävention, Sicherheit und Freiheit. Ausgangpunkt ist, dass der de- mokratische Rechtsstaat auf die Selbstverwirklichungsinteressen von Individuum und Gesellschaft mit einer funktionalen Kopplung von Freiheit, Sicherheit und Prävention reagiere. Der Aspekt des Schutzes vor „lebensweltlichen Verunsiche- rungen“ erfolge danach durch ein umfassendes Sicherheitsmanagement als zen- trales Element moderner Rechtesicherung und beruhe auf der sozialen Grammatik oder Logik der Prävention. Das Paradox der Prävention besteht nach Zabel darin, dass die Sicherheitserwartungen gerade dadurch stabilisiert werden (sollen), dass das immer mögliche Gefahren- und Verlustszenario mobilisiert, gleichzeitig aber dessen Einhegung oder sogar Abwehr in Aussicht gestellt werde. An diese drei grundlegenden Beiträge schließt die zweite Gruppe von Abhand- lungen an, die sich mit konkreten Aspekten der beschriebenen Entwicklung aus- einandersetzt. Der empirisch geprägte Beitrag von Sylvia Kühne und Christina Schlepper zeigt am Beispiel der Biometrie, wie staatliche Sicherheitsversprechen an technologische Verfahren geknüpft werden. Hierzu wurde das biometrische „Diskursfeld“ von staatlichen und privaten Akteuren mit dem Ziel untersucht, den Prozess zu rekonstruieren, in dem Visionen der Technologie nicht nur konstruiert, sondern das mittlerweile heterogene Feld der Biometrie immer wieder neu aus- gelotet und vorangetrieben wird. Entscheidend für die Durchsetzungsfähigkeit technologischer Verfahren seien danach Visionen, was eine Technologie zu leisten im Stande sei. Die Biometrie habe zunächst auf dem Versprechen der „Annehm- lichkeit“ und seit 2001 auf dem der „Sicherheit“ basiert. Seit 2007 integriere der Diskurs sowohl Annehmlichkeits- als auch Sicherheitsaspekte. Obwohl die Pass- genauigkeit der Biometrie als Schlüsseltechnologie dem Bereich der Inneren Si- cherheit nicht innewohne, führe die interpretative Flexibilität zur Normalisierung vormals „außergewöhnlicher“ Kontrolle. Der Beitrag von Lars Ostermeier behandelt Prognosetechnologien zur Vor- hersage von Straftaten, Rückfallwahrscheinlichkeiten und gefährlichen Ereig- nissen. Dabei wird eine soziotechnische Perspektive eingenommen, durch die die Trennung zwischen Technologien und Gesellschaft aufgehoben werden soll. So könne rekonstruiert werden, wie der Eindruck, dass Technologien wünschens- werte Effekte erzeugen, gesellschaftlich hergestellt werde. Mit den Begriffen der Wissenschafts- und Technikforschung könnten die Beziehungen vom Staat zur Sicherheitsgesellschaft als eine Frage nach der wechselseitigen Konstitution von

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