Werner Holly · Ulrich Püschel Jörg Bergmann Der sprechende Zuschauer Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen Werner Holly · Ulrich Püschel Jörg Bergmann (Hrsg.) Der sprechende Zuschauer Werner Holly . Ulrich Püschel Jörg Bergmann (Hrsg.) Der sprechende Zuschauer Wir wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich 1. Auflage Oktober 2001 Alle Rechte vorbehalten © Springer Fachmedien Wiesbaden 2001 Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden 2001. www.westdeutschervlg.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jeder mann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier ISBN 978-3-531-13696-7 ISBN 978-3-322-89599-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-89599-8 Marita Steffen (1971 - 1999) gewidmet Inhalt Vorwort 9 Der sprechende Zuschauer 11 Werner Holly 1.1 Fernsehen als soziale Orientierungsressource 11 1.2 Die kommunikative Aneignung von Fernsehen 13 1.3 Forschungslinien 17 1.4 Die Analyse fernsehbegleitenden Sprechens: Fragen, Ziele, Übersicht 19 1.5 Material und Methoden 21 2 Medienrezeption als Aneignung 25 Marlene Faber 2.1 Rezeption -Nutzung-Aneignung 25 2.2 Die Bedeutung von aneignen 28 2.3 Fernsehtext und Rezipient 31 2.4 Modalitäten der Fernsehtextaneignung 34 2.5 Aneignung: Die Konzeptualisierung der kreativen Begegnung von Rezipient und Medienprodukt 37 3 Grundlagen des fernsehbegleitenden Sprechens 41 Werner Holly und Heike Baldauf 3.1 Mögliche Konstellationen 41 3.2 Fernsehbegleitendes Sprechen und seine Einbettungsstruktur 44 3.3 Zusammenfassung 60 4 Strukturen und Formen des Fernsehbegleitenden Sprechens 61 Heike Baldauf 4.1 Fernsehbegleitendes Sprechen als ernpraktische Kommunikation 61 4.2 Elemente der Organisation im Open state of talk 63 4.3 Zur Kommunikationsstruktur von Sprechhandlungen 68 4.4 Mitsprechen I Mitsingen -der Doppelcharakter des fernsehbegleitenden Sprechens 75 4.5 Von Stöhnen bis "ich hasse Werbung"-evaluative Ausdrucksformen 78 4.6 Zusammenfassung 81 5 Sprachhandlungsmuster 83 Michael Klemm 5.1 Handlungsfelder und Aneignungsmuster der Zuschauerkommunikation 83 5.2 Handlungsverkettungen, Handlungssequenzen, kommunikative Gattungen in der Zuschauerkommunikation 108 5.3 Makrofunktionen der Zuschauerkommunikation 111 8 Inhalt 6 Themenbehandlung 115 Michael Klemm 6.1 Ein angemessener Themenbegriff für die Zuschauerkommunikation 115 6.2 Die Themenbehandlung beim fernsehbegleitenden Sprechen 118 6.3 Zusammenfassung: Zur Funktionalität der fernsehbegleitenden ,Jläppchenkommunikation'' 141 7 Gattungsspezifik 143 7.1 Fernsehgattungen in der Aneignung 143 Ruth Ayaß 7.2 Nachrichten 153 Michael Klemm 7.3 Ratgebersendungen: Gesundheitsmagazine 173 Stephan Habscheid 7.4 Krankenhausserien 187 Marlene Faber 7.5 Werbespots 201 Ruth Ayaß 8 Interpretationsgemeinschaften 227 8.1 Gruppen und Stile 227 Ulrich Püschel 8.2 Paare und Alte 235 Werner Holly I Marita Steffen t und Ruth Ayaß 8.3 Erwachsene und Kinder 262 Michael Klemm I Dirk Schulte 9 Zur Konstruktion von Wirklichkeit in der Aneignung 287 Angela Leister 9.1 Zum Umgang mit der Fernsehwirklichkeit 287 9.2 Medien und Wirklichkeit 289 9.3 Grenzen der Wirklichkeit 290 9.4 Fazit 307 Literatur 309 Anhang: Liste der Rezeptionsgemeinschaften, Transkriptionssymbole 329 Am Forschungsprojekt "Über Fernsehen Sprechen", das in Chemnitz, Trier und Gießen durchgeführt wurde, waren viele beteiligt, denen hier zu danken ist. Zu nennen ist vor allem Rainer Winter, der an der Konzeption und Antragstellung maßgeblich mitgewirkt hat. Vorbereitend und begleitend haben in Trier, Saarbrücken und Chemnitz Seminare stattgefun den, in denen uns viele Studierende mit zahlreichen Tonbandaufnahmen geholfen haben, besser zu verstehen, wie fernsehbegleitendes Sprechen eigentlich geht. Dies gilt noch mehr für die (anonym bleibenden) studentischen Hilfskräfte, die als teilnehmende Beobachter unser reichhaltiges Material erhoben und transkribiert haben, und natürlich besonders für ihre Rezeptionsgemeinschaften. Außer den Projektmitarbeitern Heike Baldauf, Andreas Hepp und Angela Leister waren auch Ruth Ayaß, Marlene Faber, Stephan Habscheid und Michael Klemm Mitglieder der Arbeits gruppe, was auch aus ihren Kapiteln und Abschnitten in diesem Band hervorgeht, außerdem als studentische Hilfskräfte Dirk Schulte und Marita Steffen, deren tragischer Unfalltod uns immer noch mit Schmerz und Trauer erfüllt. Die Druckvorlage hat Holm Krieger hergestellt. Nicht zuletzt danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Projekt zwei Jahre gefördert und einen Druckkostenzuschuß gewährt hat. Chemnitz, Trier, Gießen Im Juli 2001 W.H., U.P., J.B. 1 Der sprechende Zuschauer Wemer Holly 1.1 Fernsehen als soziale Orientierungsressource Was macht Fernsehen so erfolgreich? - Es ist noch immer, trotz des neuerdings aufgekommenen Internetbooms, das Leitmedium, das als meistbeachtetes Forum der Öffentlichkeit zur Verfügung steht und das die Freizeit einer sehr großen An zahl von Menschen strukturiert. Fernsehen ist aufgrund einer Reihe von Faktoren ein hochmodernes und immer noch expansives Medium: nicht nur durch seine mul timodale Verarbeitungskapazität, mit der es uns wie der Kino-Tonfilm und die Vi deotechnik bewegte und statische Bilder mit Ton und Sprache präsentiert, dies aber in Programmform frei Haus, in immer besserer Bild- und Tonqualität und auf im mer mehr Kanälen. Es hat auch mächtige staatliche bzw. öffentlich-rechtliche oder eben privat-kommerzielle Institutionen hervorgebracht, die mit ihren Angeboten den öffentlichen Diskurs, ja die gesamte Öffentlichkeit unserer Gesellschaften ebenso weitreichend strukturieren wie das Alltagsleben vieler, ja der meisten Ge sellschaftsmitglieder. So ist es kein Wunder, daß Revolutionäre als erstes die Fernsehstationen beset zen; es erstaunt auch nicht, daß die ersten Jahrzehnte der öffentlichen und wissen schaftlichen Diskussion um Fernsehen sich besonders mit seinem tatsächlichen oder vermeintlichen Manipulationspotential beschäftigt haben. Fernsehinhalte scheinen die Zuschauer in ihrer Weitsicht, besonders in ihrem politischen Verhalten zu beein flussen, darüber hinaus in ihrem Konsum- und Freizeitverhalten. Fernsehen - so der Argwohn der Kritiker und die Hoffnung der Mächtigen - kann lenken und be schwichtigen, verdummen und verkaufen, bilden und deformieren. Bei solcherlei Dämonisierungen wie euphorischen Erwartungen ist Vorsicht ge boten. Die Wissenschaft muß an die Stelle der Mythenbildungen, die auf Seiten der Macher, der Kritiker und des Publikums betrieben werden, nüchterne Beobachtun gen und Analysen setzen. Es ist erstaunlich, wie wenig man noch immer über den gesamten Verlauf des Fernsehkommunikationsprozesses weiß. Die Kritik hat sich meist kaum um die Vorgänge bei der Produktion und noch weniger um die wirkli chen Details bei der Rezeption von Fernsehen gekümmert. Quantifizierbares wie Einschaltquoten und Umfrageergebnisse, die aber wenig über tatsächliche Verste hensprozesse aussagen, dominieren ebenso wie Produktanalysen, die idealisierte Rezeptionen unterstellen und damit die Rechnung ohne den Wirt machen: erst der Rezipient konstituiert "den Text" endgültig. Gängige institutionalisierte (Selbst) definitionen von Aufgaben (oder sogar "Aufträgen") des Fernsehens wie Bildung, Information, Unterhaltung verdecken den Blick auf die alltäglichen Rezeptionsver haltensweisen, für deren scheinbare Selbstverständlichkeiten unsere Wahrnehmung unempfindlich ist. 12 Werner Holly In der herkömmlichen Sicht ist Fernsehen in erster Linie ein Unterhaltungs- und Informationsmedium. Hier in diesem Buch wird aus der Perspektive einer empiri schen Untersuchung ein etwas anderes Verständnis des Mediums Fernsehen ent wickelt, nämlich daß Fernsehen in erster Linie eine soziale Orientierungsressource ist, in diesem Sinn also ein "Orientierungsmedium" ist. Damit ist aber nicht ge meint, daß die Fernsehmacher die Zuschauer orientieren oder eben - wie die Kriti sche Theorie der 70er Jahre und seither manche Teile der Medienkritik und Medi enpädagogik vermutet haben - manipulieren. In unserer Sicht sind es über weite Strecken die Zuschauer selbst, die sich untereinander wechselseitig orientieren, aber eben anhand des symbolischen Materials, das ihnen das Fernsehen ständig und in großer thematischer und stilistischer Vielfalt liefert. Diese Sicht auf Fernsehen als eine Orientierungsressource, ein Orientierungsme dium, das z.T. im Dienst und in der Hand der Zuschauer selbst liegt, ist das Ergeb nis eines rezeptionsbezogenen Untersuchungsansatzes, der an eine Reihe von medi enwissenschaftlichen, aber auch soziologischen, sprach- und literaturwissenschaftli chen, semiotischen und philosophischen Forschungslinien anknüpft (s. auch 1.3). Hier ist vor allem der Gedanke zu nennen, daß Medienrezeption, besonders aber Fernsehrezeption, kein passives Geschehen ist, sondern daß der Zuschauer ein "ak tiver" Zuschauer ist, wie schon der "Uses- and gratifications"-Ansatz annahm. Über dessen Konzeption eines Zuschauers, der von Nutzungsinteressen geleitet ist, hin aus haben die Cultural Studies', zumindest einige ihrer späteren Arbeiten, auch die Rezeption der Inhalte als einen semantischen Konstruktionsprozeß beschrieben, bei dem die prinzipielle Offenheit der Fernsehtexte von den Zuschauern nach ihren jeweiligen Deutungsinteressen ausgedehnt werden kann, bis hin zu einer nahezu subversiven "semiologischen Guerilla"-Tätigkeit, die den produktionsseitigen Sinn des Textes auf den Kopf zu stellen und vollständig umzudeuten vermag, im Sinne einer höchst eigenständigen Aneignung. In dieser Sicht wirken Ideen der Iiteraturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik nach, das Konzept der "Offenheit" von Texten (z.B. Eco 1973), die erst vom Rezi pienten "geschlossen" werden, d.h. eine Deutung und damit überhaupt Bedeutung bekommen, und schließlich das Konzept des "impliziten Lesers" (Iser 1984), das davon ausgeht, daß die Leerstellen für die eigenständige Rezeption vom Textprodu zenten schon vorgesehen sein können. Allen solchen Vorstellungen liegt der Ge danke zugrunde, daß Kommunikation, auch Massenkommunikation, nicht einweg haft nach dem berühmten "Containermodell" - oder gar einem "Geschoßprinzip" ("bullet"-Theorie) - verläuft, wobei ein Inhalt von einem Sender verpackt über ei nen Kanal bei einem Empfänger landet, der spiegelbildlich die Botschaft auspackt und entsprechend versteht, so daß eine gewissermaßen unausweichliche, jedenfalls aber kalkulierbare Wirkung eintritt, wie bis heute die Werbewirtschaft glauben ma chen möchte. Stattdessen wird das Wechselseitige im Kommunikationsprozeß her vorgehoben: Wie schon der Produzent in einem "recipient design" auf einen ge dachten Adressaten hin kommuniziert und wie der Rezipient zwar möglichst genau rekonstruieren kann, was der Produzent wohl gemeint haben könnte, aber auch gar nicht anders als sehr eigenständig konstruieren kann, als was er den Text verstehen