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Der Schleier der Angst: Sie lebte in der Hölle bis die Angst vor dem Leben größer war als die Angst vor dem Tod PDF

388 Pages·2009·0.79 MB·German
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Preview Der Schleier der Angst: Sie lebte in der Hölle bis die Angst vor dem Leben größer war als die Angst vor dem Tod

1 Samia Shariff Der Schleier der Angst Übersetzung aus dem Französischen von Monika Buchgeister luebbe digital 2 luebbe digital März 2009 Vollständige eBook-Ausgabe der bei Ehrenwirth erschienenen Hardcoverausgabe luebbe digital und Ehrenwirth in der Verlagsgruppe Lübbe Titel der französischen Originalausgabe: »Le Voile de la Peur« Für die Originalausgabe: Copyright © 2006 by Les Éditions jcl inc., Québec Published by arrangement with Éditions JCL Für die deutsche Ausgabe: Copyright © 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Textredaktion: Boris Heczko Lektorat: Daniela Thiele Datenkonvertierung eBook: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-8387-0014-4 Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de 3 Für meine Kinder Für all jene Frauen, die im Stillen davon träumen, einmal ein anderes Leben führen zu können. 4 Inhalt Vorwort 6 1. Meine Kindheit 08 2. Meine Jugend 16 3. Meine Hochzeit 64 4. Was für eine Hochzeitsnacht! 84 5. Wieder in Paris 97 6. Die Entführung 111 7. Das Leben ohne meinen Sohn 134 8. Das dritte Kind 149 9. Meine Rückkehr nach Algerien 167 10. Die Begegnung 196 11. Die Flucht 214 12. Die ersehnte Scheidung 236 13. Ausnahmezustand 276 14. Irrwege durch Paris 304 15. Neue Hoffnung 314 16. Barcelona 338 17. Der Weg in die Freiheit 345 18. Willkommen in Kanada 355 19. Meine zweite Geburt 371 Danksagung 388 5 Vorwort Es war ein strahlender, eiskalter Januartag, an dem ich das Manuskript von Samia Shariff erhielt. Man erklärte mir in aller Kürze, dass eine Frau algerischer Her- kunft, Mutter von sechs Kindern und heute in Kanada lebend, darin ihr dramatisches Leben und ihre gewagte Flucht aus ihrem Land be- schreibt. Von Anfang an zog mich Samias aufwühlende Geschichte in ihren Bann. Sie enthielt viele verstörende Einzelheiten, aber ich musste diese bewegenden Seiten einfach zu Ende lesen. Und schließlich wusste ich ja, dass es der Erzählerin gelungen war, ihrem bedrückenden Schicksal zu entkommen. Ich brauchte länger als erwartet, um die Flut von Frauenbildern zu bewältigen, die mir durch Samias Geschichte vor Augen getreten waren … Zu viele eigene Erinnerungen kamen an die Oberfläche wie bei ei- nem aufgewühlten Fluss. Ich konnte mir Samias Empfindungen sehr gut vorstellen – als kleines ungeliebtes Mädchen; als Heranwachsende, die ihre weiblichen Formen verbergen musste; als Fehlleistung ihrer Mutter, die am besten niemals geboren worden wäre. Als einen Men- schen, den man daran hindern wollte, zu sehen, zu wünschen, zu träu- men. Schlimmer noch: Man versuchte sie davon abzuhalten, sich nach einem anderen Leben zu sehnen, in dem es kein Fluch war, als Frau ge- boren worden zu sein, in dem eine Frau nicht die »Versuchung«, der »Teufel« oder einfach ein Nichts ist. 6 Mit der Niederschrift dieses Berichts macht sich Samia zum Sprachrohr von Tausenden von Frauen dieser Welt, die unter ihrem Schleier oder auf andere Weise eine schreckliche Geschichte verbergen. Aber »Schleier der Angst« ist weit mehr als eine Schilderung von Leid und Unterdrückung. Es ist vor allem eine Geschichte außerordentlichen Mu- tes. Samia Shariff überwindet mit ihren beiden beeindruckenden Töch- tern Norah und Melissa, ihren liebevoll »Champions« genannten Zwil- lingen Elias und Ryan und dem kleinen Zacharias alle Grenzen und Hindernisse, die sich ihnen entgegenstellen. Nach erschütternden Erfah- rungen finden sie schließlich in Montréal ihre Heimat, wo sie die höch- sten aller Güter erlangen: die Freiheit und den Frieden. Ein schönes Happy End, das uns bewegt und befreit aus einer fesseln- den Geschichte entlässt. Lynda Thalie Schriftstellerin – Lektorin – Übersetzerin www.lyndathalie.com 7 1. Meine Kindheit Soweit ich mich zurückerinnern kann, höre ich meine Mutter bei jeder Gelegenheit sagen: »Was habe ich nur getan, dass Gott mich mit einem Mädchen gestraft hat?« Diese Worte waren ihre liebste Klage. Es schmerzte mich, sie zu vernehmen. Ich hatte mein Los nicht selbst gewählt und konnte nichts daran ändern, dass ich ein Mädchen war. Heute hat sich ihre bösartige Leier zu einem fernen Murmeln verflüchtigt, und ich bin stolz darauf, die zerstörerische Kraft dieser kränkenden Worte gebannt zu haben. Seit dem ersten Augenblick meines Lebens bestimmte es mein Schicksal, dass ich als weibliches Wesen in eine muslimische Familie, noch dazu eine algerische, hineingeboren worden war. Es hat viel Zeit und Energie gekostet, um meine Identität und meine Freiheit zu erlan- gen. Heute aber bin ich stolz auf die Frau, die ich geworden bin! Schon als ganz kleines Kind wusste ich, dass es nicht wünschenswert war, ein Mädchen zu sein, doch ich wusste nicht, warum. Als ich etwa fünf Jahre alt war, wollte ich mehr darüber erfahren. »Warum liebst du mich nicht, Mama?«, fragte ich. Meine Mutter warf mir einen verächtlichen Blick zu. »Wie kannst du es wagen, mir diese Frage zu stellen! Als wüsstest du nicht, warum alle Mütter lieber Jungen als Mädchen haben«, ant- wortete sie, als sei das sonnenklar. Sie sagte, ich solle mich neben sie setzen. Diese Gunst wurde mir nur sehr selten zuteil, also schien dies ein wichtiger Augenblick zu sein. 8 »Siehst du, Samia, Mütter möchten keine Mädchen haben, weil sie ihrer Familie nur Unehre und Schande bringen. Die Mütter müssen sie ernähren und darauf aufpassen, dass sie bis zu dem Tag ihre Ehre be- wahren, an dem der Ehemann sie in seine Obhut nimmt. Mädchen be- reiten einem ständig Sorgen.« »Was ist das, Mama, die Unehre?« »Scht! Sprich nicht vom Unglück! In deinem Alter geht dich das gar nichts an; du hast nur deiner Mutter zuzuhören und ihr zu gehor- chen. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich es dir erklären. Sei ein braves Mädchen bis zum Tag deiner Hochzeit!« »Meiner Hochzeit? Aber ich will nicht heiraten, Mama. Ich will euch nicht verlassen. Wenn ich erwachsen bin, will ich für dich und Papa sorgen.« »Nein, das ist unmöglich. Wir haben schon vier Jungen, die sich um uns kümmern werden, wenn wir alt sind. Und mit Gottes Hilfe werden noch weitere hinzukommen. Deine Aufgabe wird es sein, für deinen Ehemann zu sorgen, wie es sich für ein Mädchen gehört.« In den muslimischen Ländern und auf sehr ausgeprägte Weise in meiner Familie gilt es als ein Segen, einen Jungen zu bekommen, wäh- rend die Geburt eines Mädchens offenbar ein Fluch ist. Ein Mädchen erhält hier niemals eine Vorstellung davon, was Selbstständigkeit ist. Ihr ganzes Leben lang untersteht sie der Verantwortung eines Mannes. Zunächst ist sie abhängig von ihrem Vater und danach von ihrem Ehe- mann. Deshalb stellt sie für ihre Eltern eine Last dar. Diese Auffassung wird von einer Generation an die nächste weitergegeben, und so nimmt sich bereits ein kleines Mädchen als Fluch wahr. Ich war also ein Fluch für die Familie, in der ich zwischen zwei älteren und zwei jüngeren Brüdern genau die Mitte einnahm. 9 Meine Eltern waren Ende der fünfziger Jahre als algerische Emigranten nach Frankreich gekommen. Sie hatten sich in einem der besseren Pari- ser Vororte niedergelassen, wo ich geboren wurde und die ersten Jahre meines Lebens verbrachte. Mein Vater war ein wohlhabender Indust- rieller, der in der Textilbranche zu Geld gekommen war und nun auch im Restaurantgewerbe tätig war. Meine einzige Freundin war Amina. Ihre Familie war ebenfalls aus Algerien emigriert, aber sie war arm. Ihr Vater war Müllmann. Meine Mutter hasste es, wenn ich meine Freundin besuchte, denn sie hielt den Umgang mit deren Familie nicht für standesgemäß. Doch schon mit sechs Jahren war Amina für mich der Inbegriff eines glücklichen Kin- des, denn ihre Eltern überhäuften sie mit Liebe und Aufmerksamkeit. Als wir einmal mit unseren Puppen spielten, begann Amina eine lebhafte Debatte über die Bedeutung unserer Vornamen. »Mein Name ist viel hübscher als deiner!« »Nein, meiner ist viel schöner«, hielt ich sofort dagegen. Eigentlich mochte ich meinen Vornamen nicht, denn er erschien mir altmodisch und unpassend. Doch ich hütete mich davor, dies zuzu- geben, denn keinesfalls wollte ich ihr den Sieg überlassen. »Meiner ist hübscher. Mama hat ihn gewählt, weil es der Vorname ihrer besten Freundin in Tunesien ist. Sie wollte, dass ich genauso schön und intelligent wie sie werde. Und ich bin es geworden, das hat meine Mutter mir gesagt!«, erklärte Amina triumphierend. »Genau das Gleiche hat meine Mutter auch beschlossen«, erwiderte ich, von der Logik meiner Antwort überzeugt. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, erfand ich eine wunderschö- ne Geschichte über die Herkunft meines Vornamens. Ich war überzeugt, dass Amina mir die Wahrheit gesagt hatte, doch nun war auch meine Neugier geweckt. 10

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