Die Entstehung der Vorträge, Aufsätze und Predigten, die wir aufgenommen haben, umspannt einen Zeitraum von gut zehn Jahren. Wir haben die Beiträge weitgehend chronologischabgedruckt, so daß beim aufmerksamen Lesen Akzentverschiebungen undEntwicklungen deutlich werden. Dennoch bleibt Rohr seinemGrundanliegen treu. Das fundamentale „Dogma“ seines Lebens undseines Denkens ist die Inkarnation,die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. In Jesus werden Fleischund Geisteins. Diese alte christliche Glaubenswahrheit hat für Rohrweitreichende Konsequenzen für die Selbstwerdung jedes Menschen undfür das Leben der Kirche. Was sich in Christus ereignet hat, dassoll sich auch in jedem und jeder von uns ereignen. Die Kirche, dieschon in den Briefen des Paulus ausdrücklich als Leib Christi verstanden wird, ist der Ort,an dem sich dieser Ganzwerdungs-Prozeß, der mit Christus begonnenhat, fortsetzt. Rohr sieht sehr scharf, daß die leibfeindlichen Tendenzen innerhalb des Christentums, die sich schon im NeuenTestament zeigen und dann die gesamte Kirchengeschichte durchziehen,im krassen Widerspruch zu dem stehen, was Gott in Christus wurde: nacktes Fleisch! Vom Kind in der Krippe bis zumGekreuzigten auf Golgatha begegnet uns dieser nackte, verwundbare Gott aus Fleisch und Blut. Die Kirche dagegen hat immer wieder versucht, dieser Nacktheit und Verwundbarkeit auszuweichen und sich statt dessen mit geistigen Prinzipien, Moral, geordnetenInstitutionen, Gesetzen und Machtpositionen begnügt. Die Kirchenkritik Rohrs berührt sich eng mit den Gedanken Dietrich Bonhoeffers, der schon in seiner frühen Doktorarbeit Sanctorum Communio („Gemeinschaft der Heiligen“) von der Existenz Christi als Gemeinde ausgeht. Die Gemeinde ist die reale Fortsetzung des Lebens und Wirkens Jesu „im Fleisch“, das heißt: unter den konkreten Bedingungen dieser Welt. Zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungen kommt die lateinamerikanische Theologie der Befreiung, die nicht zufällig in Richard Rohrs Ordensbruder Leonardo Boff einen ihrer markantesten Vertreter hat. Auch den lateinamerikanischen Basisgemeinden und ihren Theologen geht es um die „Fleischwerdung“ des Christentums inmitten der sozialen, politischen und zwischenmenschlichen Konflikte und Krisen unserer Zeit. So könnte man Rohrs Ansatz als eine Befreiungstheologie für den Westen bezeichnen.
Überraschende Verbindungslinien lassen sich auch zu vielem von dem ziehen, was seit einiger Zeit unter dem Namen New Age die Gemüter vieler Zeitgenossen
und -genossinnen bewegt. Vordenker dieser Bewegung sprechen davon, daß wir in einer epochalen Zeitenwende leben, wo alte Denkraster immer weniger greifen und ein grundlegend neuer Denkansatz erforderlich wird, in dem sich westliche Rationalität und östliche Weisheit vereinigen. Holismus, in etwa zu übersetzen mit „Ganzheitlichkeit“, ist ein wichtiges Stichwort aus dem New-Age-Vokabular. Richard Rohr hat in seinem
Denken und vor allem in der Praxis der Lebensgemeinschaft „New Jerusalem“ in Cincinnati/Ohio (gegründet 1971) ähnliche Schlüsse gezogen und im Lebensvollzug erprobt, ohne dabei freilich der christlich-jüdischen Tradition den Rücken zu kehren, die von der
New-Age-Bewegung weitgehend als überholt oder wenig relevant angesehen wird. Das Festhalten daran, daß es trotz aller notwendigen menschlichen Selbstfindungs- und Reifungsprozesse Gott ist, der den Menschen erlöst, und nicht der autonome Mensch selbst, bewahrt Richard Rohr vor der Gefahr des Größenwahns und des
Erfolgszwangs.