Die folgenden Seiten handeln von einem Sinn für das Ab- surde, wie er in unserem Jahrhundert weit verbreitet ist – nicht von einer Philosophie des Absurden, die unsere Zeit, genaugenommen, nicht kennt. Es ist also eine An- standspflicht, gleich zu Beginn festzustellen, was diese Sei- ten gewissen zeitgenössischen Geistern verdanken – ich möchte das keineswegs leugnen, man wird sie vielmehr überall in meinem Buche zitiert und kommentiert finden. Gleichzeitig aber ist die Bemerkung angebracht, daß das Absurde bisher als Ergebnis verstanden wurde, in diesem Versuch aber als Ausgangspunkt betrachtet wird. In diesem Sinne hat meine Auslegung wohl etwas Vorläufiges: man soll- te über den Standort, den sie bezieht, nicht voreilig urteilen. Man wird es hier nur mit der Beschreibung eines geistigen Übels im Reinzustande zu tun haben. Keine Metaphysik, kein Glaube werden zunächst damit verbunden. Das sind die Ab- grenzungen dieses Buches und seine einzige Stellungnahme. Persönliche Erfahrungen veranlassen mich zu dieser aus- drücklichen Feststellung. 1 I. EINE ABSURDE ÜBERLEGUNG DAS ABSURDE UND DER SELBSTMORD Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien habe – kommt erst später. Das sind Spielereien; zunächst heißt es Antwort geben. Und wenn es wahr ist, daß – nach NIETZSCHE – ein Philosoph, der ernst genommen werden will, mit gutem Beispiel vorangehen müs- se, dann begreift man die Wichtigkeit dieser Antwort, da ihr dann die endgültige Tat folgen muß. Für das Herz sind das unmittelbare Gewißheiten, man muß sie aber gründlich un- tersuchen, um sie dem Geiste deutlich zu machen. Wenn ich mich frage, weswegen diese Frage dringlicher als irgendeine andere ist, dann antworte ich: der Handlungen wegen, zu denen sie verpflichtet. Ich kenne niemanden, der für den ontologischen Beweis gestorben wäre. GALILEI, der eine schwerwiegende wissenschaftliche Wahrheit besaß, leugnete sie mit der größten Leichhhtttiiigggkkkeeeiiittt aaabbb,,, aaalllsss sssiiieee ssseeeiiinnn LLLeee--- 2 bbbeeennn gefährdete. In gewissem Sinne tat er recht daran1. Diese Wahrheit war den Scheiterhaufen nicht wert. Ob die Erde sich um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde – das ist im Grunde gleichgültig. Um es genau zu sagen: das ist eine nichtige Frage. Dagegen sehe ich viele Leute sterben, weil sie das Leben nicht für lebenswert halten. Andere wieder lassen sich paradoxerweise, für die Ideen oder Illusionen umbringen, die ihnen einen Grund zum Leben bedeuten (was man einen Grund zum Leben nennt, das ist gleichzeitig ein ausgezeichneter Grund zum Sterben). Also schließe ich, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens die dringlichste aller Fragen ist. Wie sie beantworten? Über alle wesentlichen Pro- bleme (darunter verstehe ich Probleme, die möglicherweise das Leben kosten, oder solche, die den Lebenswillen stei- gern) gibt es wahrscheinlich nur zwei Denkweisen: die von LA PALISSE2 und die von Don Quijote. Nur das Gleichgewicht von 1 Vom relativen Wert der Wahrheit aus gesehen. Freilich – vom Standpunkt einer männlichen Haltung aus kann man die Schwächlichkeit dieses Gele- hrten belächeln. 2 Ein französischer Hauptmann, der 1525 in der Schlacht bei Pavia fiel und zu dessen Ehren seine Soldaten ein berühmtes Lied dichteten; darin heißt es: <Ein Viertelstund vor seinem Tod / Da war er noch am Leben.> Anm. d. Ü. 3 Evidenz und Schwärmerei kann uns gleichzeitig Erregung und Klarheit verschaffen. Bei einem so bescheidenen und zugleich derart mit Pathos belasteten Thema sollte also an die Stelle der gelehrten, klassischen Dialektik eine bescheidenere Gei- steshaltung treten, die ebenso vom gesunden Menschenver- stand wie vom Mitgefühl ausgeht. Man hat den Selbstmord immer nur als soziales Phänomen dargestellt. Hier dagegen geht es darum, zunächst nach der Beziehung zwischen individuellem Denken und Selbstmord zu fragen. Eine solche Tat bereitet sich in der Stille des Herzens mit demselben Anspruch vor wie ein bedeutendes Werk. Der Mensch selber weiß nichts davon. Eines Abends schießt er oder geht ins Wasser. Von einem Immobilienhändler, der sich umgebracht hatte, erzählte man mir einmal, er habe vor fünf Jahren seine Tochter verloren und habe sich seitdem sehr verändert, die Geschichte <habe ihn untergraben>. Einen treffenderen Ausdruck kann man sich nicht wünschen. Wenn man zu denken anfängt, beginnt man untergraben zu wer- den. Die Gesellschaft hat mit diesen Anfängen nicht viel zu tun. Der Wurm sitzt im Herzen des Menschen. Dort muß er auch gesucht werden. Diesem tödlichen Spiel, das von der Erhellung der Existenz zur Flucht aus dem Leben fährt, muß man nachgehen, und man muß es begreifen. 4 Ein Selbstmord kann vielerlei Ursachen haben, und im all- gemeine n sind die sichtbarsten nicht eben die wirksamsten gewesen. Ein Selbstmord wird selten aus Überlegung began- gen (obwohl diese Hypothese nicht ausgeschlossen ist). Meist löst etwas Unkontrollierbares die Krise aus. Die Zeitungen sprechen dann oft von <heimlichem Kummer> oder von <un- heilbarer Krankheit>. Diese Erklärungen haben ihre Geltung. Man müßte aber wissen, ob nicht am selben Tage ein Freund mit dem Verzweifelten in einem gleichgültigen Ton gespro- chen hat. Das ist der Schuldige. Dergleichen kann nämlich Genügen, um allen Ekel und allen latenten Überdruß auszulö- sen3 Wenn es jedoch schmierig ist, den genauen Zeitpunkt, den winzigen Schritt anzugeben, mit dem der Geist sich für den Tod entschieden hat, so ist es leichter, aus der Tat an sich ihre Voraussetzungen zu erschließen. Sich in bestimmter Absicht, wie im Melodrama, umbringen heißt: ein Geständnis ablegen. Es heißt gestehen, daß man vom Leben überwältigt 3Bei dieser Gelegenheit sei auf den relativen Charakter dieses Versuchs hingewiesen. Der Selbstmord kann tatsächlich auch auf viel ehrenwertere Beweggründe zurückgehen. Beispiel: die politischen, als Protest gemeinten Selbstmorde während der chinesischen Revolution. 5 wird oder das Leben nicht begreift. Wir wollen aber in diesen Analogien nicht zu weit gehen und zur alltäglichen Aus- drucksweise zurückkehren. Es handelt sich einfach um das Geständnis, daß es <nicht lohnt>. Leben ist naturgemäß nie- mals leicht. Aus vielerlei Gründen, vor allem aus Gewohn- heit, tut man fortgesetzt Dinge, die das Dasein verlangt. Freiwilliges Sterben hat zur Voraussetzung, daß man wenig- stens instinktiv das Lächerliche dieser Gewohnheit erkannt hat, das Fehlen jedes tieferen Grundes zum Leben, die Sinn- losigkeit dieser täglichen Betätigung, die Nutzlosigkeit des Leidens. Was für ein unberechenbares Gefühl raubt nun dem Geist den lebensnotwendigen Schlaf? Eine Welt, die sich – wenn auch mit schlechten Gründen – deuten und rechtfertigen läßt, ist immer noch eine vertraute Welt. Aber in einem Uni- versum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Verstoßen-sein gibt es für ihn kein Entrinnen, weil er der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist. Dieser Zwiespalt zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Schauspieler und seinem Hintergrund ist eigentlich das Gefühl der Absurdität. Da alle normalen Menschen an Selbstmord gedacht haben, wird es 6 ohne weiteres klar, daß zwischen diesem Gefühl und der Sehnsucht nach dem Nichts eine direkte Beziehung besteht. Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Selbstmord Gegenstand dieses Versuchs ist eben dieser Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Selbstmord, die genaue Feststellung, in welchem Maße der Selbstmord für das Absur- de eine Lösung ist. Man kann den Grundsatz aufstellen: die Handlungsweise eines aufrichtigen Menschen müsse von dem bestimmt werden, was er für wahr hält. Der Glaube an die Absurdität des Daseins sollte demnach die Richtschnur seines Verhaltens sein. Mit berechtigter Neugier fragt man sich of- fen und ohne falsches Pathos, ob eine derartige Erkenntnis verlangt, daß man einen unbegreiflichen Zustand so rasch wie möglich aufgebe. Wohlgemerkt: ich spreche hier von Menschen, die fähig sind, mit sich selbst ins reine zu kom- men. Klar formuliert mag dieses Problem ebenso einfach wie unlösbar erscheinen. Aber man vermutet zu Unrecht, daß einfache Fragen ebenso einfache Antworten nach sich ziehen und daß daß Evidente nur Evidentes umschließt. Auch wenn man umgekehrt die Frage stellt, ob man sich umbringen soll 7 oder nicht, scheint es a priori nur zwei philosophische Lösun- gen zu geben: ein Ja und ein Nein. Das wäre jedoch zu schön. Wir müssen von den Menschen ausgehen, die fortge- setzt Fragen stellen und keine Schlüsse ziehen. Ich sage das fast ohne Ironie: es handelt sich um die Mehrzahl. Ebenso sehe ich, daß die Neinsager so handeln, als dächten sie ja. Wenn ich mir NIETZSCHEs Kriterium zu eigen mache, dann denken sie tatsächlich auf die eine oder andere Weise ja. Bei Selbstmördern dagegen kommt es oft vor, daß sie vom Sinn des Lebens überzeugt waren. Diese Widersprüche sind kon- stant. Man kann sogar sagen, daß sie immer dort besonders lebendig gewesen sind, wo ganz im Gegenteil Logik höchst- begehrenswert gewesen wäre. Es ist ein Gemeinplatz, die philosophischen Theorien mit dem Verhalten derer zu ver- gleichen, die sich zu ihnen bekennen. Es muß aber betont werden, daß keiner von jenen Denkern, die dem Leben jeden Sinn absprachen, seine Logik so weit getrieben hat, das Le- ben selber auszuschlagen – außer Kirilow4, der der Literatur angehört, außer PEREGRINOS5, der der Legende entstammt, 4 Figur aus DOSTOJEWSKIJS <Dämonen>, s. unter S. 87ff. (Anm. d. Red.) 5 Ich habe von einem Nachfolger PEREGRINOS gehört, von einem Nach- kriegs-Schriftsteller, der sich nach Vollendung seines ersten Buches das 8 und außer JULES LEQUIER6, der das Geschöpf einer Hypothe- se ist. Man zitiert oft SCHOPENHAUER, der an seiner gutge- deckten Tafel den Selbstmord pries, und lacht über ihn. Das ist aber keineswegs zum Lachen. Diese Art, das Tragische nicht ernst zu nehmen, ist nicht so wichtig; sie beleuchtet nur den Mann selber. Muß nun angesichts dieser Widersprüche und Unklarheiten angenommen werden, daß zwischen der Meinung, die man vom Leben haben kann, und dem Schritt, mit dem man es verläßt, keinerlei Beziehung herrscht? Wir wollen hier nichts übertreiben. In der Bindung des Menschen an sein Leben gibt es etwas, das stärker ist als alles Elend der Welt. Die Ent- scheidung des Körpers gilt ebensoviel wie eine geistige Ent- scheidung, und der Körper scheut die Vernichtung. Wir ge- wöhnen uns ans Leben, ehe wir uns ans Denken gewöhnen. Bei dem Wettlauf, der uns dem Tode täglich etwas näher Leben nahm, um die Aufmerksamkeit auf sein Werk zu lenken. Die Aufmerksamkeit wurde tatsächlich erregt, das Buch aber vurde verrissen. – Anm. d. Ü.: LUCIAN berichtet, daß der Kyniker PEREGRINOS PROTEUS (Anfang des 2. Jahrh. n. Chr.) sich selbst vor allem Volk verbrannt habe. 6 JULIUS LEQUIER (geb. 1814, französischer Philosoph) schwamm 1862 bei Plérin ins offene Meer und kehrte nicht zurück; man vermutet, daß er freiwillig den Tod suchte. 9