LMU München Historisches Seminar – Abteilung für Alte Geschichte Hauptseminar Nero Dozentin: Prof. Maria Dettenhofer Wintersemester 2007/08 Referent: Wolfgang Melchior 22.11.2007 Seneca hat den Versuch gemacht, dem Die anmutige Form seiner Schriften erregt heute schrankenlosen Despotismus den Charakter einer noch Vergnügen, auch wenn sie ohne Inhalt sind. Monarchie zu geben. (Th. Mommsen: Römische Kaisergeschichte, (Leopold von Ranke: Weltgeschichte, 1883) 1882/83) In Seneca ist mehr Brast und Bombast moralischer Reflexion als wahrhafte Gediegenheit. (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 1818) Der Lebensweg des Lucius Annaeus Seneca (Seneca Philosophus) - Erzieher, Berater, Philosoph - Fragen: 1.) Ad personam: Seneca – ein Heuchler? In Wort und Schrift ein bescheidener Stoiker, in seinen Taten ein den Genüssen und dem Vermögen nicht abgeneigter Mensch. 2.) Wie groß und welcher Art war sein Einfluss auf Nero? Quellenlage: 1.) Fremdquellen: Recht reichhaltig - Sueton: De vita Caesarum, liber VI: Nero (Caesarenleben) - Tacitus: Annales (Annalen), Historiae (Historien) - Cassius Dio : Römische Geschichte 2.) Autobiografische Quellen: Recht mager, oft muss auf ein konkretes Ereignis geschlossen werden. - Seneca: De consolatione ad Helviam matrem (Trostschrift an seine Mutter; geschrieben aus dem Korsischen Exil) - Seneca: Epistulae morales ad Lucilium - Sammlung von 124 Briefen an Lucilius - Seneca: De clementia (Über die Milde; programmatische Schrift für Neros Politik der frühen Jahre) I. Kindheit, Jugend und Lehrjahre unter Tiberius: Von der Provinz nach Rom (4 v.Chr.-31 n. Chr.) 4. v./1 n./2 n. Chr. Corduba geboren als Sohn Lucius Annaeus Seneca (Seneca Maior, auch Seneca Rhetor genannt (cid:206) RE, Annaeus, Nr. 16) und Helvia Geburtsort Corduba (heutiges Córdoba in Andalusien): - Hauptstadt der Provinz Baetica ((cid:206) siehe Karte) - als Zentrum der iberischen Romanisierung nicht unbedeutend - erst 152 v. Chr. als römische Stadt gegründet HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ Gens der Annaei: - unbekannter Ursprung: iberisch, etruskisch (Schulz) oder römische Siedler - erst im 1 Jh. v. Chr. in Erscheinung tretend, also ein sehr junges Geschlecht - gehört zum ordo equester - umfangreiches Vermögen durch Landbesitz und Pachterträge Vater Lucius Annaeus Seneca (Seneca Rhetor, Seneca Maior, Seneca d. Ältere), 54 v. Chr. – 39 n. Chr.) : - war nie selbst Rhetoriklehrer - Studienaufenthalte in Rom (Cicero als Vorbild) - Werk: Controversiae (Kontroversen oder Rechtsfälle; gewidmet seinen drei Söhnen, Mela , Lucius und Novatus; 74 fiktive Rechtsfälle) und Suasoriae (Ratschläge; exemplarische Argumentationen) Mutter Helvia: - umfassend gebildet - führte die Geschäfte nach dem Tod ihres Mannes weiter - nutzte nicht die Machtpositionen der Söhne aus (cid:206) Vorbereitung auf eine Anwaltskarriere 13 n. Chr. Umsiedlung nach Rom zu einer Tante bis 19 n. Chr. Elementarausbildung in Rhetorik und den bonae artes (Dichtung) Philosophische Ausbildung: - beim Stoiker Attalus Haec nobis praecipere Attalum memini, cum scholam eius obsideremus/et primi veniremus et novissimi exiremus, ambulantem quoque illum ad aliquas/disputationes evocaremus, non tantum paratum discentibus sed obvium. 'Idem'inquit 'et docenti et discenti debet esse propositum, ut ille prodesse/velit, hic proficere.' Ich erinnere mich daran, dass uns Attalus unterichtete, wie wir dessen Schule belagerten, sowohl als Erste kamen als auch sie als Letzte verließen. Wir luden jenen beim Spaziergang zu einigen Streitgesprächen ein, der nicht nur offen, sondern auch den Schülern gegenüber entgegenkommend war. „Derselbe Vorsatz“, sagte er, „muss sowohl für den Lehrer wie den Schüler existieren, damit jener fördern, dieser aber Fortschritte machen kann. (Sen. epist., 108, 3; Übers. v. W.M.) - beim Pythagoreer Sotion: Übernahme der Pythagoreischen Gepflogenheit täglicher Gewissensprüfung - Studien des Q. Sextius: Seelenwanderungslehre, Vegetarismus um 20 n. Chr. Schwere Krankheit mit 20 Jahren: Bronchialasthma oder Tuberkulose (Rozelaar, 1976) und Depressionen 25-31 n. Chr. Kuraufenthalt in Ägypten bei seiner Tante, der Frau von C. Galerius (Präfekt) Philosophie als Zuflucht und Heilung: Zusammenhang zwischen Philosophie und Gesundheit (Topos des Mitsichtragens seit Sokrates) Qui ad philosophum venit cotidie aliquid secum/boni ferat: aut sanior domum redeat aut sanabilior. Wer zu einem Philosophen kommt, nimmt täglich etwas [Gutes] mit: Entweder kehrt er gesünder nach Hause zurück oder zur Heilung bereiter. (Sen. epist., 108, 4; Übers. u. Herv. v. W.M.) 2 HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ II. Etablierung: Senecas Karriere unter Caligula Cursus Honorum (31 n. Chr.-40 n. Chr.) mit Angabe des Mindestalters Aufgabe des Vegetarismus auf Druck seines Vaters, der (nach lex Villia annalis, 180 wohl die Nähe zu Sekten und dem Judentum sah, das unter v. Chr.): Tiberius verstärkter Verfolgung ausgesetzt war (Suet. Tib., Ämter ohne imperium 36 und Tac., ann., II, 85). Quaestor: 31 (25) Jahre Volkstribun Mitglied im Centumviral-Gericht (Zivilgericht in der Aedil: 37 Jahre Basilica Julia) Ämter mit imperium: Praetor: 40 (30) Jahre ca. 34 n. Chr. Quästur Konsul: 43 Jahre Karriere im Senat, in dem er sich durch sein rhetorisches Talent und seine weisen Beiträge hervortut Seneca fällt unter Caligulas Caesarenwahn in Ungnade: facere docet philosophia, non dicere, et hoc exigit, ut ad legem suam quisque vivat, ne orationi vita dissentiat vel ipsa inter se vita. Die Philosophie lehrt zu handeln, nicht zu reden, und sie fordert dazu auf, dass jeder seiner Natur gemäß lebe, damit nicht das Leben von der Rede abweiche oder jenes Leben von sich selbst. (Sen. epist., 108, 4; Übers. u. Herv. v. W.M.) Lucius Annaeus Seneca, der alle Römer seiner Zeit und auch viele andere an Weisheit überragte, wäre um ein Haar zu Tode gekommen, ohne dass er irgendetwas Unrechtes getan oder auch nur den Anschein erweckt dazu erweckt hätte. Er hatte lediglich im Senat im Beisein des Kaisers eine treffliche Rede gehalten. Caligula befahl, ihn töten zu lassen, stand jedoch davon ab, als eine der Frauen, die er um sich hatte, ihm versicherte, Seneca habe Schwindsucht in fortgeschrittenem Stadium und werde sowieso bald sterben. (Cass. Dio, 59, 19, 7f) Verbindungen mit drei Schwestern Caligulas (Agrippina, der Mutter Neros, Drusilla und Iulia), die von Caligula der Verschwörung bezichtigt und verbannt werden. III. Korsisches Exil unter Claudius (41 n. Chr.-49 n. Chr.) 41 n. Chr. Messalina, Frau des Claudius, betreibt die Verbannung Senecas nach Korsika Vorwurf: Ehebruch mit Julia Livilla Messalina hatte Zorn auf ihre Nichte Julia, weil diese ihr weder Ehrenbezeugungen noch Schmeicheleien erwies, und sie war eifersüchtig auf sie, denn sie war sehr schön und hielt sich des öfteren allein bei Claudius auf. Daher setzte sie ihre Verbannung durch, indem sie verschiedene Anklagen gegen sie erhob, darunter auch Ehebruch, weshalb auch Annaeus Seneca in die Verbannung gehen musste. (Cass. Dio, 60, 8, 5) Claudius erbittet vor dem Senat um sein Leben (nach Senecas eigenem Bekunden in Sen. Polyb., 13, 2) Abmilderung der Verbannung auf Relegation: Seneca behält das Bürgerrecht und die Hälfte seines Vermögens. 3 HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ Schuld oder Unschuld? 1.) Seneca an Claudius: sive innocentem me scierit esse, sive voluerit möge er wissen, dass ich unschuldig bin, möge er es wollen. (Sen., Ad Polybium, 13,3; Bittschrift) 2.) Seneca räumt jedoch ein, Verbindungen mit Leuten zu unterhalten, „deren Freundschaft kein Glück brachte“ (Seneca: Quaestiones Naturales) 41-49 n. Chr. Verbannung auf Korsika: Schriften De ira, De consolatione ad Helviam, De consolatione ad Polybium Festigung stoischen Denkens: Ataraxia (Gelassenheit) und Apathia (Ausgeglichenheit) Glück ist Leben gemäß der (vernünftigen) Natur (cid:206) Akzeptanz der Unvermeidlichen und Veränderung des Machbaren Entwurf eines pädagogischen Programms zur Affektkontrolle Non est quod de me aliis credas: ipse tibi [….] indico me non esse miserum. Adiciam, quo securior sis, ne fieri quidem me posse miserum. Mögest du über mich nicht anderen glauben: Ich selbst erkläre dir, dass ich nicht unglücklich bin. Ich füge hinzu, damit du sicherer bist, dass ich gar nicht unglücklich werden kann. (Sen., De Consolatione ad Helviam, IV, 3) IV. Vom Erzieher zum Berater Neros (49 n. Chr.-54 n. Chr.) 49 n. Chr. Ende des Exils auf Betreiben Agrippinas d. Jüngeren at Agrippina ne malis tantum facinoribus notesceret veniam exilii pro Annaeo Seneca, simul praeturam impetrat, laetum in publicum rata ob claritudinem studiorum eius, utque Domitii pueritia tali magistro adolesceret et consiliis eiusdem ad spem dominationis uterentur, quia Seneca fidus in Agrippinam memoria beneficii et infensus Claudio dolore iniuriae credebatur. Um jedoch nicht nur durch Übeltaten sich einen Namen zu machen, erbat Agrippina für Annaeus Seneca um die Aufhebung der Verbannung und zugleich die Prätur, wobei sie glaubte, dies mache in der Öffentlichkeit einen erfreulichen Eindruck, weil dessen Gelehrsamkeit berühmt war; auch sollte der Knabe Domitius (Nero) unter einem solchen Lehrer heranwachsen und sie sollten dessen Ratschläge für die erhoffte Herrschermacht benützen können. Denn man glaubte von Seneca, er sei Agrippina im Gedenken an ihre Wohltat treu und auf Claudius wegen des kränkenden Unrechts erbittert. (Tac. ann., XII, 8) sch Böse Vorahnungen Senecas bezüglich Neros grausamer Art (Traum; Suet., Nero, 6) 50 n. Chr. Prätur Senecas 54 n. Chr. Tod des Claudius: Die von Seneca verfasste und vom sechszehnjährigen Nero vorgetragenen Totenrede gerät zur Farce und Satire. 4 HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ Die funeris laudationem eius princeps exorsus est, dum antiquitatem generis, consulatus ac triumphos maiorum enumerabat, intentus ipse et ceteri; liberalium quoque artium commemoratio et nihil regente eo triste rei publicae ab externis accidisse pronis animis audita: postquam ad providentiam sapientiamque flexit, nemo risui temperare, quamquam oratio a Seneca composita multum cultus praeferret, ut fuit illi viro ingenium amoenum et temporis eius auribus accommodatum. Am Tag des Leichenbegräbnisses hielt der Princeps die Lobrede auf ihn (Claudius). Solange er das Alter des Geschlechts, die Konsulate und Triumphe seiner Vorfahren aufzählte, war es ihm selbst und auch den anderen offensichtlich Ernst. Auch als er auf die wissenschaftliche Tätigkeit zu sprechen kam und darauf, dass unter seiner Regierungszeit von außen dem Gemeinwesen nichts Betrübliches zugestoßen sei, fand er geneigtes Gehör. Als er aber dann seine Umsicht und Weisheit erwähnte, konnte sich niemand des Lachens enthalten, obgleich die von Seneca aufgesetzte Rede kunstvoll aufgemacht war, wie es der den Ohren der angepaßten Begabung jenes Mannes entsprach. (Tac. ann., XIII, 3) Später: Satire auf Claudius: Ludus de morte Claudii (Apocolocyntosis = Verkürbissung, d.h. Veräppelung) V. Die Beratertätigkeit des Quinquenniums (54 n. Chr.-58 n. Chr.) Seneca schreibt nicht nur Neros Reden, er greift auch pädagogisch und handelnd in der Öffentlichkeit ein, um Peinlichkeiten zu verhindern. Als Beispiel ein Vorfall mit Agrippina: quin et legatis Armeniorum causam gentis apud Neronem orantibus escendere suggestum imperatoris et praesidere simul parabat, nisi ceteris pavore defixis Seneca admonuisset venienti matri occurreret. ita specie pietatis obviam itum dedecori. Ja, als Abgeordnete der Armenier ein Anliegen ihres Volkes vor Nero vortrugen, war sie (Agrippina) schon im Begriff auf die Estrade des Kaisers zu treten und mit ihm den Vorsitz zu führen, wenn nicht, während alles vor Schrecken starr war, Seneca ihm einen Wink gegeben hätte, der kommenden Mutter entgegen zu gehen. So blieb unter dem Schein kindlicher Ehrerbietung der Schimpf verhütet. (Taci. ann., XIII, 5) 1. Das zwiespältige Verhältnis zu Agrippina Die Situation zeigt auch, dass er sich in Agrippina einem neuen Typ von Frau gegenübersieht. Viderint illae matres quae potentiam liberorum muliebri in/potentia exercent, quae, quia feminis honores non licet gerere, per illos ambitiosae sunt, quae patrimonia filiorum et exhauriunt et captant, quae eloquentiam commodando aliis fatigant: Sie [die homines novi] sehen jene Mütter, die in weiblicher Macht die Stellung ihrer Söhne ausnutzen, die, weil Frauen keine Ämter bekleiden dürfen, durch jene ehrgeizig sind, die das Vermögen der Söhne durchbringen und in Besitz nehmen, die durch Anpassung ihrer Beredsamkeit an andere ermüden. (Sen., De consolatio ad Helviam, 14, 2) (cid:206) Zweispalt: zwischen Verpflichtung gegenüber Agrippina und der Ablehnung ihres Verhaltens 5 HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ (cid:206) Koalition mit Burrus gegen Agrippina certamen utrique unum erat contra ferociam Agrippinae, quae cunctis malae dominationis cupidinibus flagrans habebat in partibus Pallantem, quo auctore Claudius nuptiis incestis et adoptione exitiosa semet perverterat. Beide hatten ein und denselben Kampf gegen den wilden Trotz Agrippinas zu führen, die von allen Leidenschaften einer heillosen Willkürherrschaft entbrannt war und den Pallas auf ihrer Seite hatte, auf dessen Rat hin Claudius sich durch blutschänderische Ehe und verderbliche Adoption den Untergang bereitet hatte. (Tac. ann., XIII, 2, übers. v. W.M.) 56 n. Chr. Seneca Konsul 2. Der Einfluss auf Nero a) Pädagogisch: hi rectores imperatoriae iuventae et, rarum in societate potentiae, concordes, diversa arte ex aequo pollebant, Burrus militaribus curis et severitate morum, Seneca praeceptis eloquentiae et comitate honesta, iuvantes in vicem, quo facilius lubricam principis aetatem, si virtutem aspernaretur, voluptatibus concessis retinerent. Diese, die Lenker des jungen Herrschers, und - was bei Machtgemeinschaften selten ist - einig untereinander, vermochten durch verschiedene Mittel gleich viel über ihn, Burrus durch die Beschäftigung mit dem Militärwesen und seine Sittenstrenge, Seneca durch seinen Unterricht in der Redekunst und seinen edlen Umgang, um die schlüpfrige Jugend des Fürsten, wenn er schon nicht der Tugend folge, wenigstens bei erlaubten Genüssen auf der Bahn der Tugend zu halten. (Tac. ann., XIII, 2, übers. v. W.M.) Fürstenspiegel De clementia(Über die Milde) Milde ist sittlich ehrenhaft und politisch nützlich: Tantum enim necesse est timeat, quantum timeri voluit. Man muss sich nämlich so sehr fürchten, wie man gefürchtet werden will. (Sen. clem., I, 19, 5; übers. v. W.M.) Das steht in diametralem Gegensatz zu Caligulas Motto, das einer Tragödie entstammt, und diesem von Sueton nahegelegt wird: „Mögen sie [mich] hassen, solange sie [mich] nur fürchten.“ („Oderint, dum metuant.“) b) Rhetorisch: Redenschreiber c) Politisch: Konsulat, Mitglied des Rates (consilium Caesaris) Jedoch als „Premier Minister“ war er informell tätig. Faktisch war mit Burrus und Seneca ein neues Machtzentrum entstanden. In der Außenpolitik lassen sich Einflüsse Seneca vermuten: Die Politik der Grenzsicherung, die Augustus empfohlen hatte, könnte auf Seneca zurückgehen, dessen Vorbild Augustus war. 6 HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ VI. Neider oder Kritiker – die Zeit bis zum Rückzug (59 n. Chr.-62 n. Chr.) 1.) Kritik an Senecas Lebenswandel und großem Reichtum Vorwuf des Publius Sullius vor dem Senat: qua sapientia, quibus philosophorum praeceptis intra quadriennium regiae amicitiae ter milies sestertium paravisset? Romae testamenta et orbos velut indagine eius capi, Italiam et provincias immenso faenore hauriri. Welche Weisheit, welchen philosophischen Lehren habe er es zu verdanken, daß er innerhalb von vier Jahren königlicher Freundschaft drei Millionen Sesterzen erworben habe? In Rom würden Testamente kinderloser Personen wie bei einer Treibjagd erbeutet, Italien und die Provinzen durch ungeheuren Wucher ausgebeutet. (Tac.ann.,XIII,42,übers.v.W.M.) Auch wenn Tacitus P. Sullius für nicht glaubwürdig und ehrenhaft hält, so gibt Seneca beim Rückzug von den Regierungsgeschäften im Jahr 62 seinen Reichtum zu und reicht dabei sehr dürftige Entschuldigungen nach: quartus decimus annus est, Caesar, ex quo spei tuae admotus sum, octavus, ut imperium obtines: medio temporis tantum honorum atque opum in me cumulasti, ut nihil felicitati meae desit nisi moderatio eius, utar magnis exemplis, ne[c] meae fortunae, sed tuae. [...] ego quid aliud munificentiae [tuae] adhibere potui quam studia, ut sic dixerim, in umbra educata, et quibus claritudo venit, quod iuventae tuae rudimentis adfuisse videor, grande huius rei pretium. at tu gratiam immensam innumeram pecuniam circumdedisti, adeo ut plerumque intra me ipse volvam: egone, equestri et provinciali loco ortus, proceribus civitatis adnumeror? inter nobiles et longa [de]cora praeferentes novitas mea enituit? ubi est animus ille modicis contentus? tales hortos exstruit et per haec suburbana incedit et tantis agrorum spatiis, tam lato faenore exuberat? una defensio occurrit, quod muneribus tuis obniti non debui. Es ist nun vierzehn Jahre her, dass ich dir, dem hoffnungsvollen jungen Mann, zugeteilt wurde, acht Jahre, dass du die Regierung in Händen hast. In der Zwischenzeit hast du so viele Ehren und so großen Reichtum auf mich gehäuft, dass mir an meinem Glück nichts mehr fehlt, als es mit Maß zu genießen. Ich will mich auf bedeutende Vorbilder, die ich nicht meinem, sondern deinem Stande entnehme, berufen. [...] Welche andere Gegenleistung konnte ich für deine Freigebigkeit erbringen als meine wissenschaftliche Tätigkeit, die, wie ich sagen möchte, im Schatten gereift ist und auf die nur deshalb Glanz fällt, weil ich, wie man von mir glaubt, dir in deiner Jugend behilflich gewesen bin, die Grundlagen der Bildung zu legen, womit ich ja reichlich belohnt bin. Aber du hast mich mit unermesslichem Reichtum überschüttet, in einem Maße, dass ich selbst oft mit mir zu Rate gehe: Wie, ich, ein Mann aus dem Ritterstand, aus einer Provinzstadt stammend, werde zu den ersten Männern der Bürgerschaft gezählt? Unter lauten Adeligen, die mit langen Reihen ruhmvoller Ahnen aufwarten können, ist mir, einem Emporkömmling, solcher Glanz zuteil geworden? Wo ist jener Sinn geblieben, der sich mit bescheidenen Verhältnissen begnügt? Ist er es noch, der solche Gärten anleget, der durch diese Landhäuser und durch so weit sich erstreckenden Landbesitz wandelt, der in einem so weit fundierten Zinseinkommen schwelgt? Eine einzige Entschuldigung bietet sich an: ich durfte deine Geschenke nicht ausschlagen. (Tac. ann., XIV, 53) 7 HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ 2.) Die Ermordung Agrippinas und die Vorwürfe gegen Seneca im Jahr 59 n. Chr. Frage: Wie groß ist die Mittäter- oder Mitwisserschaft Senecas bei der Ermordung? Gerüchte kursieren über einen Mordanschlag Agrippinas auf Nero. Nero lässt seine beiden Berater kommen: quos statim acciverat, incertum an et ante ignaros. igitur longum utriusque silentium, ne inriti dissuaderent, an eo descensum credebant, [ut], nisi praeveniretur Agrippina, pereundum Neroni esset. post Seneca hactenus promptius, [ut] respiceret Burrum ac s[c]iscitaretur, an militi imperanda caedes esset. ille praetorianos toti Caesarum domui obstrictos memoresque Germanici nihil adversus progeniem eius atrox ausuros respondit [...] Diese hatte er sofort kommen lassen. Es ist nicht sicher, ob sie schon vorher etwas gewusst hatten. Daher redeten beide lange kein Wort, um nicht erfolglos zu widerraten. Vielleicht glaubten sie auch, es sei schon so weit gekommen, dass Nero sterben müsse, wenn man nicht Agrippina zuvorkomme. Darauf zeigte Seneca größere Entschlossenheit: er sah Burrus an und wollte von ihm wissen, ob man den Soldaten ihre Ermordung befehlen könne. Burrus entgegnete: „Die Prätorianer sind dem ganzen Haus der Caesaren verpflichtet und werden im Gedenken an Germanicus sich nicht zu einer Untat gegen dessen Sproß verführen lassen. [...].“ (Tac. ann., XIV, 7) Cassius Dio ergeht sich in allgemeinen Vorwürfen gegen die Beratertätigkeit der beiden (Cass. Dio 61, 4, 2-5), ohne konkrete Vorwürfe. (cid:206) Seneca wusste von dem Vorhaben Neros, sich seiner Mutter zu entledigen. Er versuchte solange zu vermitteln wie möglich. In einer Situation der akuten Gefahr für das Leben Neros entschied er sich, den Mord gewähren zu lassen. Das Rechtfertigungsschreiben Neros an den Senat stammt sicher von Seneca. 3.) Der Tod des Burrus im Jahr 62 n. Chr. Mors Burri infregit Senecae potentiam, quia nec bonis artibus idem virium erat altero velut duce amoto, et Nero ad deteriores inclinabat. hi variis criminationibus Senecam adoriuntur. [...] quem ad finem nihil in re publica clarum fore, quod non ab illo reperiri credatur? certe finitam Neronis pueritiam et robur iuventae adesse: exueret magistrum, satis amplis doctoribus instructus maioribus suis. Der Tod des Burrus brach den Einfluß Senecas, weil die guten Eigenschaften sich nach der Beseitigung des einen Mannes, der als Führer gedient hatte, nicht mehr in gleicher Weise auswirken konnten und Nero selbst sich zu den minderwertigen Elementen hingezogen fühlte. Diese griffen Seneca mit allerlei Beschuldigungen an[es folgen die Vorwürfe, die wir bereits kennen]. Wie lange dauere es noch, bis in dem Gemeinwesen nur noch das rühmlich sein werde, was man als von Seneca erfunden betrachte. Seine Kindheit habe Nero doch nun hinter sich und stehe in der Vollkraft seiner Jugend. Er solle sich seines Schulmeisters entledigen, da ihm in seinen Vorfahren genug tüchtige Lehrer zur Verfügung stünden. (Tac. ann., XIV, 52) 8 HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ VII. Der Rückzug aus den Regierungsgeschäften – De otio (62 n. Chr.-65 n. Chr.) Reaktion Seneca: Er „reicht seinen Rücktritt ein“ (siehe Quelle Tac. ann., XIV, 53) Vorgeblicher Grund: „Ich habe genug getan.“ Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich (cid:206) Wassersucht. Die Angriffe aus dem Umfeld Neros gegen ihn nehmen zu. Ganz offensichtlich ist er in Ungnade gefallen. Ein Giftmordanschlag kann vereitelt werden (Tac. ann., XV, 45) (cid:206) er kehrt deswegen wieder zu vegetarischer Ernährung (Rohkost) zurück Werke in dieser Zeit: - Epistulae morales ad Lucilium (Die Briefe an Lucilius) - De otio (Über die Muße): Grenze zwischen vita activa und vita contemplativa wird aufgegeben - Quaestiones Naturales (Untersuchungen über die Natur) VIII. Ruhestörung: Pisonische Verschwörung (65 n. Chr.) Gesichert: C. Calpurnius Piso, ein beliebter Senator, gehörte zum Freundeskreis Senecas Zwei Versionen: Romanus secretis criminationibus incusaverat Senecam ut C. Pisonis socium, sed validius a Seneca eodem crimine perculsus est. unde Pisoni timor, et orta insidiarum in Neronem magna moles et improspera. Romanus hatte in heimlichen Verleumdungen Seneca beschuldigt, mit C. Piso im Bunde zu stehen. Allein Seneca erhob gegen ihn seinerseits die gleiche Beschuldigung, einen wirkungsvollen Gegenschlag. Dies versetzte Piso in Furcht , und damit nahm das großangelegte, aber gescheiterte Unternehmen des Anschlags auf Nero seinen Lauf. (Tac. ann., XIV, 65) 1.) Tacitus: Seneca vielleicht Mitwisser, aber Gegner der Verschwörung 2.) Cassius Dio: Seneca ist Hauptverschwörer Seneca aber, der Praefekt Rufus und einige andere angesehen Männer zettelten eine Verschwörung gegen Nero an; sie konnten nämlich sein unwürdiges Betragen, seine Zuchtlosigkeit und Grausamkeit nicht länger ertragen und wollten daher selbst von diesen Übeln loskommen und gleichzeitig auch den Kaiser davon befreien, wie denn der Centurio Sulpicius Asper und der Militärtribun Subrius Flavius, beide Angehörige der Leibgarde, Nero ins Gesicht bekannte. (Cass. Dio, 62, 24, 1) (cid:206) Cassius Dio nimmt die Gerüchte und Vorwürfe gegen Seneca allzu ernst. Eine aktive Teilnahme an der Verschwörung ist eher unwahrscheinlich. Auch hätte der Tod Neros Senecas nicht viel genutzt, da es hauptsächlich das Umfeld Neros war, das gegen Seneca wetterte. 9 HS Nero: Seneca, WS 2007/08, Wolfgang Melchior ________________________________________ VIII. Senecas Tod – eine bühnenreife Inszenierung (April 65 n. Chr.) Quomodo fabula, sic vita: non quam diu, sed quam bene acta sit, refert. Nihil ad rem pertinet quo loco desinas. Quocumque voles desine: tantum bonam clausulam inpone. Wie bei einem Theaterstück, so kommt es auch im Leben nicht auf die Länge an, sondern wie gut es es gespielt wird. Es tut nichts zur Sache, wo du aufhörst: gib nur dem Ganzen einen guten Schluss. (Sen. epist., 77, 20) 1. Akt: Die Verschwörung wird aufgedeckt. Seneca fällt dem folgenden politischen „Großreinemachen“ zum Opfer: Sequitur caedes Annaei Senecae, laetissima principi, non quia coniurationis manifestum compererat, sed ut ferro grassaretur, quando venenum non processerat. Es folgte die Ermordung des Annaeus Seneca, die von dem Princeps mit besonderer Freude begrüßt wurde, nicht etwa, weil er von dessen unleugbarer (sic!) Beteiligung an der Verschwörung erfahren hatte, sondern weil er mit dem Schwerte wüten wollte, wo das Gift keinen Erfolg gehabt hatte (Tac. ann., XV, 60 ; Herv. v. W.M.) 2. Akt: Zu Seneca werden Soldaten geschickt, die ihm die mortis abitrium (Freitod) als principale Gnade anbieten. 3. Akt : Nur zusammen mit seiner Frau geht Seneca in den Freitod It would be no small task to speak of all the others that perished, but the fate of Seneca calls for a few words. It was his wish to end the life of his wife Paulina at the same time with his own, for he declared that he had taught her both to despise death and to desire to leave the world in company with him. So he opened her veins as well as his own. 2 But as he died hard, his end was hastened by the soldiers; and she was still alive when he passed away, and thus survived. He did not lay hands upon himself, however, until he had revised the book which he was writing and had deposited his other books with some friends, fearing that they would otherwise fall into Nero's hands and be destroyed. (Cass.Dio,12,15,1f) 4. Akt:: Das Schicksal erfüllt sich. Noch im Tod denkt Seneca an andere: Seneca verlangte unerschrocken, die Niederschrift seines Testaments zu bringen. Als dies der Centurio ablehnte, wandte er sich an seine Freunde mit den Worten, daß er ihnen, da er ja gehindert werde, ihnen für ihre Verdienste den schuldigen Dank abzustatten, das nunmehr einzige, jedoch auch das Schönste, hinterlasse, das er besitze, das Bild seines Lebens. [...] Wem sei die Grausamkeit Neros nicht bekannt gewesen? Es sei Nero ja nach der Ermordung seiner Mutter und seines Bruders nichts anderes übriggeblieben, als auch seinen Erzieher und Lehrer umzubringen. (Tac. ann., XV, 60) 5. Akt: Das Ableben zieht sich – filmreif – in die Länge: Indessen bat Seneca, da bei ihm das Verbluten nur langsam vor sich ging und das Sterben sich verzögerte, seinen lange bewährten und treuen Freund und Arzt Statius Annaeus, das schon lange vorgesehenen Gift zu holen, mit dem in Athen die von einem staatlichen Gericht Verurteilten hingerichtet wurden. Man brachte es, und er trank es, doch ohne daß es wirkte. [..] Dann ließ er sich ins Dampfbad bringen, wo er erstickte. (Tac. ann., XV, 60) 10
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