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Der grammatische Aufbau der Kindersprache: 204. Sitzung am 28. Mai 1975 in Düsseldorf PDF

31 Pages·1977·1.241 MB·German
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Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften Geisteswissenschaften Vorträge· G 218 Herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften ROMAN JAKOBSON Der grammatische Aufbau der Kindersprache Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 204. Sitzung am 28. Mai 1975 in Düsseldorf © 1977 by Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH Opladen 1964 ISBN 978-3-322-98784-6 ISBN 978-3-322-98783-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-98783-9 Inhalt Roman ]akobson, Cambridge, Mass. Der grammatische Aufbau der Kindersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Diskussionsbeiträge Ursula Stephany; Roman ]akobson; Heinrich Lausberg; Bernd Spill ner; Kar! Horst Schmidt; Helmut Gipper; Harald Weinrich; Hans- jakob Seiler; Ludwig Landgrebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Es ist für mich eine große Ehre, in der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften zu sprechen. Ich warte mit Ungeduld auf die Diskussion, da die Probleme, die mein Vortrag berührt, mit meiner ganzen linguistischen Arbeit einiger Jahrzehnte eng verbunden sind. Ich möchte hier gerne auf die Kernfragen der Kindersprache zurückkommen. Am Ende der 30er Jahre hat auf mich besonders das Werk des französisch belgiseben Linguisten Antoine Gregoire einen fruchtbaren Eindruck gemacht, seine Monographie L'apprentissage du langage, die eigentlich ein Tagebuch ist und ein ausführliches, sorgfältiges Bild des Sprachlebens seiner beiden kleinen Söhne darbietet. Ich verstehe gar nicht, wie dieser hervorragende Forscher jeden Augenblick der sprachlichen Entwicklung seiner Kinder so tadellos aufmerksam beobachten und aufzeichnen konnte. Man möchte solche Arbeiten wie die Bücher von Gregoire oder vom eifri gen und scharfsichtigen Untersucher des russischen kindlichen Spracherwerbs, Aleksandr Nikolaevic Gvozdev, am liebsten mit ununterbrochenen Kino aufführungen vergleichen und sie gemäß ihrem Reichtum an linguistischen und psychologischen Daten und ihren genauen Ergebnissen als besonders er giebig und erschöpfend hervorheben - gegenüber den sich heutzutage ver mehrenden Momentaufnahmen des sprachlichen Benehmens und des zeitwei ligen Sprachvermögens, die vom Kinde ein paarmal wöchentlich oder sogar monatlich durch den gelehrten Besucher gemacht werden und das ganzheit liche Bild zerstückeln und zerstören, da sie die einzelnen Triebfedern der Veränderungen und ihre Reihenfolge verbergen und uns somit keine Mög lichkeit geben, über die dynamischen Gesetze des Sprachaufbaus unsere Schlüsse zu ziehen. Es wurden zwar wichtige neue Beobachtungen gemacht über die anfäng lichen Versuche und Anstrengungen der Kinder zum Erlernen der Kommu nikation im vorsprachliehen Alter und an der Schwelle des Sprachverkehrs mit dem Erzieher und besonders mit der Mutter. Auch in der Abfolge der lautlichen Errungenschaften der Kleinen wurde manches Neue bemerkt und klargelegt, aber der grammatische Aufbau der Kindersprache bleibt noch in vielen, sogar vielleicht den meisten Hinsichten unerklärt. 8 Roman Jakobson Die Frage, die mich von Anfang an besonders interessierte, war die nach der verhältnismäßigen Rolle der Nachahmung und der kreativen Gabe des Kindes in der Aneignung seiner ersten Sprache. Gewisse Forscher legen den Nachdruck auf die Nachbildung, andere hingegen auf die schöpferische Gabe. Es scheint, daß eine Synthese vorzuziehen wäre. Was hier stattfindet, ist we der eine mechanische Übernahme noch eine wunderbare Schöpfung aus dem Nichts. Das Nachahmen öffnet den schöpferischen Kräften des Anfängers weite Möglichkeiten. Das vorhandene Muster gestattet eine Auslese der voll brachten Entlehnungen und deren gesetzmäßige Reihenfolge, der zudanken das Kind anfangs das eine und dann erst das nächste sich anzueignen weiß. Hier wirken universale Gesetze der einseitigen Implikation (oder Fundie rung): Ein "B" könnte nicht entstehen, soweit "A" nicht entstanden ist, wo gegen "A" unabhängig von "B" im Sprachsystem bestehen kann. Die Erforschung und Erklärung der strengen Gesetzmäßigkeit, welche man in der Entwicklung der Kindersprache beobachtet, geht nur langsam voran. Die junggrammatische, einseitig diachronische Tradition, die noch vor kur zem in der Sprachwissenschaft hervortrat, zeigte weder für die reine Be schreibung des Sprachbaus noch für das Suchen der allgemeinen Aufbau- und Umbaugesetze Verständnis. Andererseits verdeckte die von der Genfe r Schule und ihren zahlreichen Epigonen gepredigte, streng und eng statische Abart der Synchronie und eigentlich der ganzen Sprachanalyse den Weg zum Be greifen der Kindersprache, deren Wesen und Aufbau den Gesetzen einer dynamisch angelegten Synchronie unterworfen sind. Wenn man endlich heutzutage, trotz der Überbleibsel der langwierigen Zweifelsucht, die Fülle und Bedeutsamkeit der Universalien im Bau der Völkersprachen und im Aufbau der Kindersprache beobachtet, offenbaren sich besonders im Fortschritt des lautlichen Bestandes viele und auffallend dynamische Gesetze, welche entweder eine allgemeine Geltung oder wenig stens eine beinahe universale Probabilität aufweisen. Es gibt zweierlei mono polistische Erklärungsversuche dieser weitgehenden Einheitlichkeit in den Grundzügen der menschlichen Sprache. Auf der einen Seite entstehen und vermehren sich Schlagwörter des schwärmerischen Nativismus, andererseits versucht uns ein beharrlicher Soziologismus zu überzeugen, alle sprachlichen Einheitstriebe und Gesetze seien durch den unentwegt sozialen Gebrauch und Charakter der Sprache bestimmt. Als ein Beweis für die "Angeborenheit" der Grundgesetze der Sprache wird von den Nativisten die verhältnismäßige Leichtigkeit und Schnelligkeit des Spracherwerbs bei den Kleinkindem der ganzen Welt angeführt; aber tatsächlich erlernen die Kinder mit derselben Natürlichkeit, Genauigkeit und Muße auch alle äußerlichen lokalen Besonderheiten desjenigen Sprachmilieus, Der grammatische Aufbau der Kindersprache 9 welchem sie ihre erste Sprachkenntnis verdanken. Auch die angebliche Rasch heit der vollkommenen Sprachaneignung erweist sich als eine übertriebene Verallgemeinerung. Aber die allmenschliche und einzig menschliche Lust und Gabe, sich von früher Kindheit an einer Sprache passiv und aktiv zu bemäch tigen, ist ein beim biologischen Menschwerden einverleibtes Vermögen, denn, wie Goethe sagt: "Jeder lernt nur, was er lernen kann." Doch darf man dabei nicht vergessen - und seltsamerweise vergißt man es allzuoft -, daß eigentlich dasjenige, was man erlernt, eine Zwiesprache ist, so daß zur Sprache und Rede des Kindes zwei Gesprächspartner notwendig sind, einerseits der minderjährige Neuling, andererseits ein älterer, erfahre ner Gesellschafter, des Kindes Mutter im besonderen. Deshalb kann man nicht die Entwicklung der Sprache begreifen, ohne daß man von Anfang an an zwei Beteiligte denkt, zwei Teilnehmer, von denen der eine lernt und der andere tatsächlich lehrt. Nun hören wir jetzt öfters leichtsinnige Behaup tungen, nach denen das Kind keinen Sprachunterricht braucht und vollkom men selbständig dasjenige im Gehörten auffängt, was es zu selbständigem Schaffen benutzen kann. Beurteiler, die die Rolle des Lernens bzw. Lebrens im kindlichen Spracherwerb leugnen oder auf das kleinste Maß zurückführen, stehen entweder unter der bürokratischen Vorstellung einer amtlichen Er ziehungsanstalt oder unter der Hypnose des einst modischen Gedankens einer Spaltung zwischen Eltern und Nachwuchs. Das enge gegenseitige An passen bleibt eine wesentliche Begleiterscheinung des Sprachlernens. Nun ist man schon imstande festzustellen, daß es in den Sprachen viele gemeinsame Baugesetze gibt, universale oder beinahe universal wirkende Gesetze, wobei letztere - räumlich und zeitlich weit verbreitet - zur Aus nahmslosigkeit tendieren, ohne sie allerdings zu erreichen. Selbstverständlich spielt die biologische Grundlage eine gewisse, wenn auch stets unbestimm bare Rolle. Andererseits darf man nie vergessen, daß die Sprache eine we sentlich soziale Ganzheit darbietet, und daß dieses dynamische Ganze, mit den deutschen Philosophen gesprochen, eine ständige Selbstbewegung auf weist- Selfstirring, laut der kybernetischen Terminologie. Die dynamischen Gesetze der Sprache sind durch die Tatsache gefördert, daß es sich um ein allumfassendes kollektives Gebilde handelt, welches für seine Gehraucher an der Scheide des Bewußten und Unbewußten erlebt wird. Zum Gebiet des Subliminalen gehört das Streben nach den geeigneten Strukturen, denen von der Sprachgemeinschaft unbewußt und teilweise - unter metasprachlicher Leitung-auch bewußt gefolgt wird. Die Sprache ist zu allererst durch ihren wesentlich universalen Schichten bau gekennzeichnet. Sie ist einem grundsätzlich einheitlichen Prinzip der Übereinanderlagerung unterworfen. Jede Schicht besteht aus inneren und ihr 10 Roman Jakobson allein eigenen Relationen und aus Relationen, die jede Schicht mit den ande ren verbinden. Die Untersuchung dieser Relationen, sowohl der inneren als auch der zwischengelagerten, ist für die Erkenntnis des Sprachsystems und seines Aufbaus unentbehrlich. Unter den Relationen, die der Sprachwissenschaftler behandelt, erscheint der echte Gegensatz, die binäre Opposition, als der typischste und lehrreich ste. Nun wissen wir aus vielfachen Erwägungen, worin die Leistung derar tiger Relationen eigentlich besteht. Ich möchte wieder und wieder den her vorragenden holländischen Sprachtheoretiker und Phänomenotogen Henrik Pos zitieren, um die Eigenart der binären Oppositionen zu erörtern. Es ist, laut seiner Bezeichnung, die einfachste logische Operation; und von allen übri gen Verbindungen und Beziehungen unterscheidet sie sich dadurch, daß wir bei jedem Verfahren mit einer binären Opposition notwendigerweise ihre beiden Glieder im Sinne haben und zum Vergleich heranziehen. So zum Beispiel ist es unmöglich, die Größe zu beurteilen, ohne dabei die Idee des Kleinen in Betracht zu ziehen, der Begriff des Billigen ist undenkbar ohne den des Kost baren usw. Darin liegt der wirksame Wert derartiger Oppositionen. Wie es die Kindheitspsychologen, besonders Henri Wallon, festgestellt haben, wird die anfängliche geistige Entwicklung der Kleinkinder gerade auf solchen bi nären Gegensätzen aufgebaut. Meine Monographie Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, in Schweden Anfang 1941 veröffentlicht, war ein Versuch, den allmählichen, stufenartigen Aufbau der phonologischen Schicht in der Anfangssprache der Kinder zu verfolgen und nach Möglichkeit zu deuten. Schritt für Schritt be griff ich dabei, wie ungemein wichtig es ist, nicht nur im Gebiet des kindlichen Spracherwerbs, sondern auch in den gesamten Fragen des linguistischen Vor gehens, die verwickelte Wechselbeziehung zwischen den Teilen und dem Gan zen ständig im Auge zu halten. Es wurde klar, wie sich für so eine Untersu chung der Begriff des Teilganzen bewährt, den die Psychologen (insbesondere Felix Krueger) eingebracht und entwickelt haben. Wenn wir die Lautphäno mene der Kindersprache, die verschiedenen Oppositionen und deren Bezie hungen zueinander festzustellen und zu erörtern suchen, sind wir offenbar genötigt, den Weg der Integration anzutreten. Ich muß gestehen, am Anfang war es für mich überraschend, den Entwick lungsprozeß des Kindes durch die Analyse seines steigenden Lautvermögens aufzufassen. Was mir dabei besonders geholfen hat, war die Vorarbeitzweier prominenter Gelehrter, deren Untersuchungen mit dem Fortschritt der Ge staltpsychologie verbunden sind, Wolfgang Köhler und Carl Stumpf. In ihrer Betrachtung der Sprachlaute gelang es den beiden Forschern, ohne sich auf Einzelheiten zu beschränken, die psychophysische Grundlage der ganzen

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