ANTONIUS LIEDHEGENER Der deutsche Katholizismus um die Jahrhundertwende (1890-1914). Ein Literaturbericht. 1. EINLEITUNG Der vorliegende Literaturbericht dokumentiert die historische Forschung der achtziger Jahre zum Katholizismus imWilhelminischen Kaiserreich. Er möchte so den Zugang zur Jahrhundertwende als einem zeitlich zwar begrenzten, in politischer, sozialer und gesell- schaftlicher Hinsicht aber facettenreichen, vielfach entscheidenden Abschnitt der Geschichte des deutschen Katholizismus erleichtern; nicht zuletzt hat jenes historisch- soziale Umfeld der Jahre 1890 bis 1914auch die Entstehung und Entwicklung der katholischenSoziallehreund Sozialethik nachhaltig geprägt. »Werschon einen Blick in die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts getan hat,« so klagte Franz Schnabel allerdings bereits 1937, »weiß, daß diemonographische Literatur endlos ist.«' In Abwandlung trifft dies erst recht auf die neueren Forschungen zum Katholizismus und zur katholi- schen Kirche im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zu. Insbe- sondere in den letzten Jahren hat sich einneu erwachtes Interesse an der Geschichte von Religion und Glaube und an deren politischen wie sozialen Auswirkungen in der Moderne in einer Fülle neuer Publikatio- nenniedergeschlagen. Insofern siedie Geschichte desdeutschen Katholi- zismus um die Jahrhundertwende (1890-1914) betreffen, sollen die im vergangenen Jahrzehnts erschienenen Arbeiten möglichst vollständig zusammengestellt werden.2 Zwar waren einige der im folgenden ange- führten Publikationen bereits Gegenstand wichtiger Sammelrezensio- Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd.4: Die religiö- I senKräfte,München 1987,578(Unveränderter Nachdruck derAusgabevon1937). 2 Der BerichterfaßtdieindenJahren 1981-1990erschienen Quelleneditionen, Monogra- phien und Aufsätze inSammelbänden und Festschriften. Nur inbegründeten Ausnah- mefällen wird auf ältere Literatur oder Aufsätze in Zeitschriften verwiesen. Aus Platzgründen wurde in den bibliographischen Angaben davon abgesehen, Übersetzer, Verlage,Seitennummern oder Preisezu nennen. Der Berichtwurde imSeptember 1990 abgeschlossen. 361 nen\ aber umfassendere bibliographische Hilfsmittel zur Erforschung des Katholizismus im Kaiserreich nach 1890- vergleichbar mit jenen für die Zeit des Nationalsozialismus' oder der Bundesrepublik Deutschland5 -liegen derzeit nicht vor.6 Bei weitem günstiger stellt sich die Situation bei Handbüchern und Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Katholizismus dar,in denen die Zeit der Jahrhundertwende in die größeren Entwicklungslinien des politischen und sozialen Katholizismus7 sowie der Kirchengeschichte nach 1789 eingeordnet wird.8 Stärker als manch anderer Bereich der gegenwärtigen historischen Forschung war die Katholizismusforschung in den achtziger Jahren darum bemüht, den erreichten Forschungsstand zu bündeln und damit zugleich dem interessierten Leser zugänglich zu machen.9 3 Michael Klöcker, Katholizismus und Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 28 (1988) 469--488; Rudolf Lill,Der deutsche Katholizismus in der neueren historischen Forschung, in: Vlrich v.HehllKonrad Repgen (Hg.), Der deutsche Katholizismus in der zeitgeschichtlichen Forschung, Mainz 1988, 41--63; Michael Schneider, Die christlich-nationale Gewerkschaftsbewegung zwischen natio- naler Ordnungsmacht und sozialer Reformkraft: Zu drei Neuerscheinungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 27 (1987) 655--662; ders.,Kirche und soziale Frage im 19.und 20. Jahrhundert, unter besonderer Berücksichtigung des Katholizismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 21(1981) 533-553. 4 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Kirche und demokratisches Ethos. Mit einem historiographischen Rückblick von Karl-EgonLönne (= Schriften zu Staat - Gesellschaft - Kirche, Bd.l) Freiburg 1988, 121-156; Vlrieh v. Hehl, Kirche und Nationalsozialismus. Ein Forschungsbericht, in: Kirche im Natio- nalsozialismus, hg. vom Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Sigmarin- gen 1984, 11-29; Victor Conzemius, Katholische und evangelische Kirchenkampfge- schichtsschreibung im Vergleich: Phasen, Schwerpunkte, Defizite, in: Ders.(Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Referate der internationalen Tagung in Hünningen/Bern (Schweiz), Göttingen 1988,35-57. 5 Vlrich v. HehliHeinz Hürten (Hg.), Der Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980. Eine Bibliographie (=Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd.40) Mainz 1983. 6 Hilfreich für die Literatur vor 1983, aber für seine Zwecke bewußt auswählend ist Werner HarthlHubert Stuntebeck, Kirchliche Sozialverkündigung und christliche Sozialbewegung. Eine Literaturauswahl für Schule, Studium und außerschulische Bildung (=aksb Dokumente - Manuskripte - Protokolle, Bd.l0) Bonn 1984. 7 Grundlegend die teils chronologisch, teils thematisch orientierten Einzelbeiträge in: Anton Rauscher(Hg.), Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, 2 Bde. (= Geschichte und Staat, Bd.247-252) München 1981 und 1982. 8 Einen faszinierenden Überblick aus dieser Perspektive bietet jüngst Klaus Schatz, Kirchengeschichte der Neuzeit II ('" Leitfaden Theologie, Bd. 20) Düsseldorf 1989.Als Paperback mit aktualisiertem Literaturverzeichnis neu aufgelegt wurde das Standard- werk Hubert ]edin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte. Bd 61II: Die Kirche zwischen Anpassung und Widerstand (1878 bis 1914),Freiburg/Br. 1985. 9 In die stattliche Reihe neuerer Überblicksdarstellungen gehören neben den bereits 362 Gleichzeitigentstanden in denJahren nach 1981 eine Reihe von wertvol- lenNachschlagewerken und Hilfsmitteln, allen voran eine weitere Neu- auflage des Staatslexikons der Görresgesellschaft. Georg Schoelens 10 bibliographisch-historisches Handbuch informiert umfassend über das vornVolksvereinfür daskatholische Deutschland - dessen Gründungsju- biläumimHerbst 1990inMönchengladbach gefeiertwurde - herausgege- bene Schrifttum, über Biographien und Veröffentlichungen seiner füh- renden Mitarbeiter sowie über die Sekundärliteratur zum Volksverein 11 nach seinergewaltsamen Auflösung 1933. Eine wichtige Lücke füllt das 1983 von Erwin Gatz herausgegebene biographische Lexikon »Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder«. Neben ausführlicheren 12 Lebensbildern der einzelnen Diözesanbischöfe finden sich dort auch biographische Skizzen der Weihbischöfe und führenden Diözesanbeam- ten, sodaß einKompendium der »Führungsschicht der amtlich verfaßten Kircheindendeutschsprachigen Ländern«13entstand. Knappe biographi- sche Angaben der Mitarbeiter der Historisch-politischen Blätter14 und eine rekonstruierte Zuordnung der Autoren zu den im Original meist anonym abgedruckten Artikelnl5 bietet das von Dieter Albrecht und genannten: Heinz Hürten, Kurze Geschichte desdeutschen Katholizismus 1800--1960, Mainz 1986;KarlEgan Lönne, Politischer Katholizismus im 19.und 20.Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1986;Günther Rüther (Hg.), Geschichte derchristlich-demokratischen und christlich-sozialen Bewegung in Deutschland, 2 Bde. (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 216)Bonn 1984;Klaus Schatz, Zwischen Säkularisation und ZweitemVatikanum. Der Wegdes deutschen Katholizismus im 19. und 20.Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1986;Aus evangelischerSicht: Leif Grane, Die Kircheim19.Jahrhundert. Europäische Perspektiven, Göttingen 1987. 10 Staatslexikon.Recht- Wirtschaft - Gesellschaft, hg.vonderGörresgesellschaft, 5Bde., 7.,völligneubearb. Auflage,Freiburg/Br. 1985-1989. 11 Gearg Schaelen, Bibliographisch-historisches Handbuch des Volksvereins für das katholische Deutschland. Mit einer Einleitung von Harstwalter Heitzer und einer Quellenkunde von WalfgangLöhr (=Veröffentlichungen der Kommission für Zeitge- schichte,ReiheB,Bd.36)Mainz 1982. Erwin Gatz (Hg'.),Die Bischöfederdeutschsprachigen Länder 1785/1803bis 1945.Ein 12 biographisches Lexikon,Berlin1983. 13 Ebd., Vorwort. Ein nach Diözesen gegliedertesVerzeichnisder Amtsträger erleichtert denÜberblick über denKreisderaufgenommenen Personen; ebd., 845-882. Dieter AlbrechtlBemhard Weber(Bearb.), Die Mitarbeiter der Historisch-Politischen 14 Blätter für das katholische Deutschland '1838-1923. Ein Verzeichnis (= Veröffent- lichungenderKommission fürZeitgeschichte, ReiheB,Bd.52)Mainz 1990. DieseZuordnung wurde indenmeistenFällendurch Nachforschungen imRedaktions- 15 archiv der Historisch-politischen Blätter (HPB) erstmals möglich und steigert so den Quellenwert dieser zwischen 1838und 1923erschienenen, ursprünglich wichtigsten publizistischen Plattform des deutschen Katholizismus erheblich. Vgl. ebd., 12-13. Spätestens seit der Jahrhundertwende hatten die HPB allerdings mit schrumpfenden Auflagenzahlen und sinkendem Einfluß zu kämpfen. Zu diesen Schwierigkeiten vgl. auch den edierten Briefwechsel Joseph Edmund Jörgs, der bis zu seinem Tod 1901 363 Bernhard Weber bearbeitete Verzeichnis. Ein Interesse, vor allemPerso- nen und Personengruppen der Forschung systematisch zu erschließenl \ tritt deutlich hervor. Hilfsmittel oder Nachschlagewerke zu den wirt- schafts- und sozialgeschichtlichen Grundlagen des Katholizismus im Kaiserreich fehlen dagegenfastvollständig.17 In den achtziger Jahren erschienen ebenfalls einige neue Quelleneditionen. Im Rahmen zweiergrößerer Editionsvorhaben wurde jeweilseinBand vorgelegt,derzentraleVorgänge im Spannungsfeld von Kirche und Politik um dieJahrhundertwende imdeutschen Kaiser- reich erhellt. In der Quellenreihe der Veröffentlichungen der Kommission für Zeitge- schichteerschien 1985derletztederdreivonErwin Gatz herausgegebenenBändederAkten der Fuldaer Bischofskonferenz.18Wiedergegeben werden im wesentlichen die Protokolle der jährlich in Fulda tagenden Bischofskonferenz für die Jahre 1900-1919,ergänzt um Niederschriften einzelner Teilnehmer und Anlagen zum Protokoll.19 Eine Fülle von Dokumenten, nicht nur zum Verhältnis von "Staat und Kirche von der Beilegung des Kulturkampfs bis zum Ende des Ersten Weltkriegs«, sondern auch zum politischen und sozialen Katholizismus sowie zu innerkirchlichen Entwicklungen bietet der von Emst Rudo/f und Wo/fgang Huber vorgelegte dritte Band ihrer Quellensammlung »Staat und Kirche im 19.und 20.Jahrhundert«.20 Spezieller,nämlich zur Geschichte der badischen Zentrumspartei 1888-1914bzw. zum Verhältnis von Seelsorgeund der katholisch-polni- schen Bevölkerung des Ruhrgebiets im Kaiserreich infomieren zwei regionalgeschichtlich orientierte Quellensammlungen.21 Gleich mehrere, jeweils erweiterte Neuauflagen erfuhr neunundvierzig Jahre lang die Redaktion der HPB leitete; Dieter Albrecht (Bearb.), Joseph Edmund Jörg. Briefwechsel 1846-1901(= Veröffentlichungen der Kommission fürZeitgeschichte, ReiheA, Bd.41)Mainz 1988. 16Für die Geschichte des politischen Katholizismus interessant sind auch die in Klaus Schwabe (Hg.), Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten 1815-1933. Bündinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1980(= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Bd.4) Boppard a.R. 1983,219-338 abgedruckten Listen der Minister der süddeutschen Staaten, derThüringischen Staatenund Sachsens,diedieKonfessionszu- gehörigkeit der einzelnen Regierungsvertreter mitaufführen und so Untersuchungen zum konfessionellen Proporz indenjeweiligenKabinetten erlauben. 17Vgl.dazu Abschnitt V.desBerichts. 18 Erwin Gatz (Bearb.), Akten der Fuldaer Bischofskonferenz, Bd. 3: 1900-1919(= Veröffentlichungen derKommission für Zeitgeschichte, ReiheA,Bd.39)Mainz 1985. 19Diese Ergänzungen werden den Protokollen oft in Auszügen oder als Regesten mit knapper Inhaltsangabe beigefügt. In ihnen wird in innerhalb der Bischofskonferenz strittigen Fragen wie beispielsweise in der Frage der christlichen Gewerkschaften erkennbar, »wiehart dieDiskussion verlaufenkonnte«. Ebd., XIX. Emst Rudolf HuberlWo/fgang Huber (Hg.), Staatund Kirche im 19.und 20.Jahrhun- 20 dert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd 3: Staatund KirchevonderBeilegungdesKulturkampfs biszum EndedesErstenWeltkriegs,Berlin 1983.WeitereDokumente in Emst Heinen (Hg.), StaatlicheMacht und Katholizismus inDeutschland. Bd.2:Dokumente despolitischen Katholizismus von 1867bis 1914(= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart) Paderborn 1979. JörgSchadt(Hg.),MitGott fürWahrheit, Freiheitund Recht.Quellen zurOrganisation 21 und Politik derZentrumspartei und despolitischen Katholizismus inBaden 1888-1914. Ausgewählt und eingeleitet von Hans-Jürgen Kremer (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim, Bd.ll) Stuttgart 1983.Hans Jürgen Brandt (Hg.), Die Polen und die Kirche im Ruhrgebiet 1871-1919.Ausgewählte Dokumente zur Pastoral und kirchlichen Integration sprachlicher Minderheiten imdeutschen Kaiserreich(= Quellen 364 diebewährteTextsammlungzurkatholischen SoziallehrederKAB.Siedürfte imJubiläums- jahrdererstenSozialenzyklika »Rerumnovarum«vonbesonderem Interesse sein,dasieden vollständigenTextderEnzyklika wiedergibt.22 Vonentscheidender Bedeutung fürdieVerbreitungderErträge derKatholizismusforschung zum Kaiserreich ist, wie die bisher schon häufig angeführten Veröffentlichungen in der »Blauen Reihe« eindrucksvoll beiegen2J, auch im letzten Jahrzehnt die Kommission für ZeitgeschichtemitSitzinBonn gewesen,die1988aufihrfünfundzwanzigjähriges Bestehen zurückblicken konnte.24 Ein wichtiges Forum wissenschaftlichen Austausches sind die Jahrestagungen desseit 1970 bestehenden Arbeitskreises »Deutscher Katholizismus im 19. und20. Jahrhundert«, derenReferatezusammen mit einemDiskussionsprotokoll jeweilsin der Reihe »Beiträge zur Katholizismusforschung« veröffentlicht wurden.25 Auf dem 35. Deutschen Historikertag 1984 in Berlin war eine Sektion der Rolle des Zentrums in der deutschenInnenpolitik inKaiserreichund Republik gewidmet.26 Einenbeachtlichen Beitrag zurErforschung despolitischen und sozialenKatholizismus leistenauchdiewissenschaftli- chenTagungeneinzelner katholischer Akademien, deren Ergebnisse oftmals veröffentlicht werden.27 und Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschungen des Bis- tumsEssen,Bd.l) Münster 1987. 22 Zuletzt: Textezurkatholischen Soziallehre.DiesozialenRundschreiben derPäpste und andere kirchliche Dokumente, hg. v. Bundesvorstand der KAB, 7.überarb. u. erw. Auf!., Kevelaer1989. DieTextsammlung bringt die von Oswald v.Nell-Breuning erst später vorgelegte, sachlich korrekte Übersetzung von »Rerum novarum«. Zu den teilweise gravierenden, da historisch relevanten Abweichungen der als »autorisiert« bezeichneten, zeitgenössischen Übersetzung für den deutschen Sprachraum vg!.ebd., 69-70 und den auszugsweisen Abdruck der Erstübersetzung inHuber, Staat,284-306 (s.Anm. 20). ImVariantenapparat werden dort dieUnterschiede zur Übersetzung der Textsammlungangezeigt.- Zu den römischen Verhältnissen um dieJahrhundertwende vg!. Paul M. Baumgarten, Die römische Kurie um 1900. Ausgewählte Aufsätze. Eingeleitet und mit einem Werkverzeichnis hg. v.Christoph Weber(= Kölner Veröf- fentlichungenzur Religionsgeschichte,Bd. 10),Köln 1989. Zu weiteren Neuerscheinungen in der Reihe B, Darstellungen vg!. im folgenden 23 Abschnitt II. ZurArbeit derKommission und zukünftigen Aufgabenvg!.denanläßlichdesJubiläums 24 veröffentlichten Tagungsband Vlrich v. HehllKonrad Repgen (Hg.), Der deutsche Katholizismus inderzeitgeschichtlichen Forschung, Mainz 1988. 25 Inchronologischer Reihenfolgeerschienen indieserungezählten ReiheB(Abhandlun- gen)alsTagungsbände seit 1981: Albrecht Langner (Hg.), Katholizismus und philoso- phischeStrömungen inDeutschland, Paderborn 1982;Anton Rauscher(Hg.), Probleme des Konfessionalismus in Deutschland seit 1800, Paderborn 1984; Albrecht Langner (Hg.), Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985; Anton Rauscher (Hg.), Religiös-kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit1800,Paderborn 1986; ders.(Hg.), Katholizismus, Bildung und Wissenschaftim 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1987; - SeitEnde derachtzigerJahre wird dieseReihe durch eine ReiheA (Quellen) ergänzt. Die Jahrhundertwende betrifft Rudo/f Morsey (Hg.), Katholizismus, Verfassungsstaat und Demokratie. VomVormärz bis 1933 (= Beiträgezur Katholizismusforschung, ReiheA,Bd.l) Paderborn 1988. 26 Winfried Becker(Hg.), Die Minderheit alsMitte. Die Deutsche Zentrumspartei inder Innenpolitik des Reiches1871-1933 (= Beiträgezur Katholizismusforschung, ReiheB) Paderborn 1986. 27 ]ohannes Horstmann (Hg.), Die Verschränkung von Innen-, Konfessions- und Kolo- nialpolitik im Deutschen Reich vor 1914 (= Veröffentlichungen der Katholischen Akademie Schwerte, Akademie-Vorträge 29) Schwerte 1987; Winfried BeckeriRudolf 365 II. DER POLITISCHE KATHOLIZISMUS: DAS ZENTRUM ZWISCHEN POLITIK FÜR KATHOLISCHE INTERESSEN UND ANSÄTZEN ZU EINER MODERNEN, INTERKONFESSIONELLEN VOLKSPARTEI Mit dem Abklingen des Kulturkampfs wandelten sichfür den deutschen politischen Katholizismus und damit für die Zentrumspartei die politi- schen Rahmen- und Handlungsbedingungen nachhaltig. Insbesondere der Rücktritt Bismarcks 1890 und das in den Februarerlassen Kaiser Wilhelms II. angekündigte neue sozialpolitische Engagement »bildeten eine Zäsur auch in der Geschichte despolitischen Katholizismus.«28Die Erben Windthorsts29 standen vor der Herausforderung, ihren in der kirchenpolitischen Konfrontation entwickelten politischen Grundsätzen von Rechtsstaatlichkeit, Föderalismus und Eintreten für die Freiheit der katholischen Kirche treu zu bleiben. Zugleich mußten sie als Partei mit einer parlamentarischen Schlüsselstellung im Deutschen Reichstag Vor- stellungen für eine gesellschaftsgestaltende Politik formulieren und diese - mit oder gegendie kaiserliche Regierung - umzusetzen versuchen. Um dieJahrhundertwende hineingestellt in die Phase des endgültigen Über- gangs des Deutschen Reichsvom Agrar- zum Industriestaat sah sich das Zentrum dabei mit einer zunehmenden Differenzierung der sozialenund wirtschaftlichen Interessen seiner Wählerschaft konfrontiert. Diese fan- den innerparteilich »ihren Ausdruck in verschiedenen Führungsgrup- pen«, die ebenso um den verfassungspolitischen Kurs des Zentrums insgesamt wie um »den Einfluß auf die Gesamtpartei kämpften.«3o Morsey(Hg.), Christliche Demokratie inEuropa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, Köln 1988; Karl Heinz Grenner, Die Katholikentage als politisches Forum des organisierten Katholizismus (= Texte und Thesen) Schwerte 1989. Rudolf Morsey,Der politische Katholizismus 1890-1933,in: Rauscher, Katholizismus, 28 Bd. 1,114(s.Anm. 7).DieBedeutung derfrühen neunzigerJahre alsZäsurbetont auch David Blackboum, Class, Religion, and local Policy in Wilhelmine Germany. The Centre Party of Württemberg before 1914(= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Bd.9)Wiesbaden 1980,bes. 8-18. Für das Zentrum und seinePolitiker war der Rückbezug auf diesen 'großen-kleinen< 29 Gegenspieler Bismarcks bis zum Untergang 1933wichtiger Bestandteil der eigenen Identität und Einigkeit. - Zu Windthorst vg!. Margaret L. Anderson, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 14)Düsseldorf 1988(eng!. Orig. u. d. T.Windthorst. A political Biography,Oxford 1981);Hans-Georg Aschoff, Rechtsstaatlichkeit und Emanzipation. Das politische Wirken Ludwig Windthorsts (= Emsland/Bentheim. Beiträge zur neueren Geschichte, Bd.5)Sögel1988. 30 Lönne, Katholizismus, 176--177(s.Anm. 9). 366 Die grundlegende Studie für den Weg des politischen Katholizismus im Wilhelminischen Kaiserreich hat Wilfried Loth mit seiner 1984erschiene- 31 nen Saarbrückener Habilitationsschrift vorgelegt. Die Tatsache, daß »sich im Bereich des politischen Katholizismus ein größeres Maß an sozialen und politischen Problemen wiederfand als im Einzugsbereich jeder anderen politischen Formation im Kaiserreich«31,macht für Loth das Zentrum mit seinen inneren und äußerenKonflikten sowieseinerzentralen Bedeutung fürdiePolitik imKaiserreichzu »einemhervorragenden Studienobjekt«33sowohlfür diemit den gesellschaftlichenUmwäl- zungen tendenziell verbundene »Ausweitung der bürgerlich geprägten politischen Öffent- lichkeitzumpolitischen Massenmarkt«34parlamentarisch-demokratischer Prägung alsauch für »verläßliche Aussagen über Spannungsgefüge und Entwicklungspotential im späten Kaiserreich.«35 Auf breiter archivalischer Grundlage arbeitet Loth deutlich den wechselnden Einfluß unterschiedlicher politischer Gruppen in der Willensbildung des Zentrums und entspre- chende Phasen der Entwicklung des politischen Katholizismus auf Reichsebene heraus: Zunächst gelangeszu Beginnder 90erJahre bürgerlichen Zentrumsabgeordneten, die bis dahin tonangebende aristokratische Führungsschicht abzulösen. In der Ablehnung der HeeresvorlageCaprivis 1893durch eineMehrheit derZentrumsabgeordneten siehtLoth den entscheidenden, imBündnis mit einerweitereRüstungsausgaben bekämpfenden, populisti- schen Bewegungerrungenen Erfolg des bürgerlichen Lagers. Die darauf folgenden Neu- wahlen »gerietenzu einem Plebiszit gegendie Zentrumsaristokratie«36. In denJahren vor 1900näherte sichdasZentrum unter der(informellen)Führung desnassauischen Zentrums- abgeordneten Ernst Lieber stärker an die Politik der Reichsleitung an, verfolgte aber gleichzeitigeinen Ausbau der Stellung des Reichstags und damit des eigenenpolitischen Einflusses.37DieinderBismarckzeit alsReichsfeindeBeschimpften erstrebten dieAussöh- nung mit und den Anschluß an die Reichsnation durch eine Politik der nationalen 31WilfriedLoth, KatholikenimKaiserreich.Derpolitische Katholizismus inderKrisedes wilhelminischen Deutschlands (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd.75) Düsseldorf 1984.Weiterhin zum Zentrum erschienen Ellen Lovell Evans, The German Centre Party, 1870-1933. A Study in Political Catholicism, Carbondale/Edwardsville 1981.Aus marxistischer Sicht Herbert Gott- waldlGünter Wirth, Zentrum 1870-1933,in: DieterFricke(Hg.), Lexikonzur Parteien- geschichte.Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien undVerbändeinDeutsch- land (1789-1945),Bd. 4, Köln/Leipzig 1986,552--{'35.Einen neueren Überblick bietet Vlrieh v.Hehl, Die Zentrumspartei - Ihr Wegvom Reichsfeind zur parlamentarischen Schlüsselstellung in Kaiserreich und Republik, in: Hermann W.von der DunklHorst Lademacher (Hg.), Auf dem Weg zum modernen Parteienstaat. Zur Entstehung, Organisation und Struktur politischer Parteien in Deutschland und den Niederlanden (=KasselerForschungen zur Zeitgeschichte, Bd.4)Melsungen 1986,97-120. 32 Loth, Katholiken,22(s.Anm. 31). 33Ebd.,21. 34Ebd., 14. 35Ebd., 25. 36Ebd.,50. 37Vgl.ebd.,bes.74-78.Zur Mitarbeit andenzentralen politischen FragenderZollpolitik, Finanzierung desHeeresund deraufwendigenFlottenbaupläne sowiederKolonialpoli- tik unter Lieber vgl. Friedrich Klein, Reichsfinanzpolitik und Nationalisierung des Zentrums unter Ernst Lieber 1891-1900,in: HJb 108(1988)114-156. 367 Verantwortung38, allerdings ohne daß im Gegenzug spezifisch katholische Interessen wie die Aufhebung desJesuitengesetzes durch die Reichsleitung erfüllt worden wären. Vielmehr gerieten die bürgerlichen Führungskreise des Zentrums nach 1900 zusehends selbst unter innerparteilichen Druck. Nach Loth erstrebte eine erstarkende katholische Arbeiterbewegung - nun im Bündnis mit den Populisten - eine größere Berücksichtigung ihrer Interessen und demokratische Veränderungen in der eigenen Partei und im Reich.39 Unter der Führung Erzbergers erzwangen die Demokraten 1906sogar den Bruch mit der Reichsregierung unter von Bülow. Nach 1907 gelang es allerdings' den Abgeordneten bürgerlicher Prägung nach und nach, die Tendenz des Zentrums zur demokratischen Massenpartei zurückzudrängen40, nicht zuletzt weil die politischen Ziele von katholischer Industriearbeiterschaft und vorindustriellem, altem Mittelstand auseinanderliefen:1 In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg »entwickelte sich das Zentrum somit mehr und mehr zu einer bürgerlich dominierten Integrationspartei mit stark mittelständischer Akzentuierung, die eindeutiger als bisher die Parlamentarisierung des Reiches betrieb und sich zugleich ebenso eindeutig seiner weiteren Demokratisierung widersetzte.«42 In seiner Skizze zur Forschungslage mußte Loth noch feststellen, daß abgesehen von Matthias Erzberger43 und einer Teilbiographie Georg v. Hertlings44 andere »führende Persönlichkeiten des wilhelminischen Katholizismus (... ) bis jetzt noch nicht Gegenstand biographischer Darstellungen, die modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genü- gen</s, waren. Mittlerweile hat sich die Erforschung der politischen Biographien führender Zentrumspolitiker zu einem der fruchtbarsten Felder der Katholizismusforschung der achtziger Jahre entwickelt. Ein- gehende Studien zu Wilhelm Marx, Kar! Bachern und Felix Porsch wurden jeweils auf der Grundlage einer umfassenden Erschließung der verfügbaren Nachlässe vorgelegt46 ein knapperes Lebensbild erschien zu ; 38 Letztlich blieb das Zentrum im Kaiserreich aber immer im »Vorhof der Macht«; so Rudolf Morsey,Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, in: HJb 90 (1970) 31-64, hier 53. 39 Vgl. Loth, Katholiken, 98-113, bes. 110-112 (s. Anm. 31). 40Vgl. ebd., 213-223. 41Vgl. ebd., 154-166. 42Ebd., 225. - Loths »Unterscheidung von Phasen und sozialen Kräften überzeugt im ganzen, auch wenn sie eine Tendenz nährt, die Zäsuren und Alternativen der Zentrums- politik überscharf herauszuarbeiten, den Begriff populistisch inflationär zu gebrauchen und Überlappungen zwischen den einzelnen Gruppen zu übersehen.« 50 GerhardA. Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionel- len Regierungssystem (= Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1507) Göttingen 1985, 54. Zur kritischen Würdigung der Ergebnisse Loths vgl. auch ebd., 100Anm. 69. 43 KlausEpstein,Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin 1976;TheodorEsehenburg,Matthias Erzberger, München 1973. 44 Winfried Beeker, Georg von Hertling 1843-1919. Bd. I: Jugend und 5elbstfindung zwischen Romantik und Kulturkampf (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 31) Mainz 1981. 45 Loth, Katholiken, 29 (s. Anm. 31). 46 Ulrieh v. Hehl, Wilhe1m Marx 1863-1946. Eine politische Biographie (= Veröffent- lichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd.47) Mainz 1987; RolfKiefer, 368 Ernst Lieber.47 Mit dem 1986 abgeschlossenen, von Rudo/f Morsey initiierten »verdienstvollen Sammelwerk« »Zeitgeschichte in Lebensbil- 48 dern« stehen zudem für vielePersönlichkeiten des deutschen Katholizis- mus Porträts zur Verfügung.49 Obschon der Schwerpunkt der von Ulrichvon Hehl verfaßten Biographie Wilhelm Marx' entsprechend dessen späterem langjährigem Wirken als Reichskanzler der Weimarer Republik auf der Zeit nach 1918liegt, erfährt der Leser vieles über die politische Sozialisation Marx' im Wilhelminischen Deutschland. Fest verankert im rheinischen Verbandskatholizismus der Vorkriegszeit wurde er 1899 in den preußischen Landtag gewähltund schaffte 1910den Sprung in den Reichstag.Hehl zeichnet einlebendigesBild derpolitischen Arbeit eines»Hinterbänklers« und »Parlamentsneulings ohne ausgeprägten Profilierungsdrang«5o,der sich, getragen von einer »religiös bestimmte(n) Pflichtauffas- sung« seines »Dienst(es) für die Allgemeinheit«51,besonders um die Vermitdung der BerlinerZentrumspolitik in den katholischen Vereinenund Verbänden und somit um den Zusammenhalt derWählerschaftbemühte. Mit Marx teilte Karl Bachern, dessen politische Biographie Rolf Kiefer in seiner Kölner Dissertation vorgelegthat,seineHerkunft ausdemrheinischen Katholizismus. AlsSohndes renommierten katholischen VerlegersJosef Bachern erhielt er einejuristische Ausbildung, fandschnelldenWegindieZentrumspolitik und erhielt 1899seinerstesReichstagsmandat. Dort gehörte er bald zum bürgerlichen Führungskreis innerhalb der Zentrumsfraktion. Kiefer zeigt amreichhaltigen Material des Bachern-Nachlasses dessen politische Maximen auf - »Wir müssen den Katholizismus gesellschaftsfähig machen.«52- und stellt seinen Einsatz für dieParität, d.h.dievolleGleichberechtigung der Katholiken improtestantisch dominierten Deutschen Reichdar.Ebenso hebt erBachems Bemühungen um den inneren InteressenausgleichimZentrum zugunsten derPolitikfähigkeit desZentrums imParlament hervorY Konsequent vertrat Bachern das Selbstverständnis des Zentrums als politischer, unabhängiger Partei gegenüber einem integralistischen Standpunkt. Daher unterstützte er KarlBachern1858-1945.Politiker und Historiker des Zentrums (=Veröffendichungen der Kommission für Zeitgeschichte, .ReiheB, Bd.49) Mainz 1989;August Hermann Leugers-Scherzberg, Felix Porsch 1853-1930. Politik für katholische Interessen in Kaiserreich und Republik (= Veröffendichungen der Kommission für Zeitgeschichte, ReiheB,Bd.54)Mainz 1990. 47 Mit lokalem Kolorit: Michael Traut, Der Reichsregent. Ernst Liebers Weg vom Männer-Casino Camberg andasRuder kaiserlicherGroßmachtpolitik (= Schriftenfolge Goldener Grund, Bd. 23) Bad Camberg 1984(überarbeitete, ältere Staatsexamensar- beit).- DasHeftehen Helmut Neubach, Franz Graf vonBallestrern.Ein Reichstagsprä- sident aus Oberschlesien (= Oberschlesische Schriftenreihe, H.12) Dülmen 1984,ist ehereineHommage denneinbiographischer Beitrag. Loth, Katholiken,29(s.Anm. 31). 48 49 Jeweils mit ausführlichen Literatur- und Quellenhinweisen. Im Berichtszeitraum erschienen Jürgen AretzlRudolf MorseylAnton Rauscher (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19.und 20.Jahrhunderts, Bd.5 .mdBd.6,Mainz 1982und 1984.Vgl.auchMartin Greschat(Hg.), Dieneueste ZeitI-IV (= Gestalten derKirchengeschichte, Bd.9,1.2-10,1.2) Stuttgart 1985-1986. Hehl, Marx,70(s.Anm. 46). 50 Ebd.,45. 51 52 Kiefer,Bachern,89(s.Anm. 46). 53Vgl.ebd.,64-65 und öfter. 369 dieBestrebungen, den Zentrumsturm zuverlassenund dasZentrum zur interkonfessionel- lenVolksparteizuerweitern.5i Dem politischen WirkenliesschlesischenAbgeordneten und langjährigenVorsitzendender Zentrumsfraktion im Preußischen Landtag, Felix Porsch, ist August Hermann Leugers- Scherzberg in seiner Münsteraner Dissertation nachgegangen. In dieser streng politisch ausgerichteten Biographie wird nicht nur der Wandel der politischen Ansichten Porschs insbesondere in den Auseinandersetzungen vor 1914deutlich, sondern zugleicherfährt der Leser manches über die Zentrumspolitik im Bundesstaat Preußen sowie über die bisher kaum bekannte Entwicklung des politischen Katholizismus in Schlesien.'5Als Politiker vertrat Porsch vor allem zu Beginn seiner politischen Laufbahn einen »Konservatismus unverkennbar katholischer Prägung«56.In Porschs Denken schloß dasZielder »Erhaltung einer christlichen Gesellschaftsordnung« notwendig ein, »die Freiheit der katholischen Kirche zu gewährleisten.« Politik war mit Porschs eigenenWorten zunächst Mittel »zur Verteidigungunserer heiligstenInteressen«57,dieesindenkonkreten Fragendesstaatlichen Einflusses auf Personalentscheidungen in der katholischen Kirche, der finanziellen Unab- hängigkeit derKirche und derkonfessionellenVolksschuleinPreußen zuverteidigengalt.58 Trotz seiner anfänglichen Verbindungen zum »katholischen Sozialkonservatismus«59war Porsch doch zu sehr Realpolitiker, um die Undurchführbarkeit seiner ursprünglichen ordnungspolitischen Vorstellungen in einer modernen, notwendig sich pluralisierenden Gesellschaft nicht zu erkennen. Als nach 1907im Zentrumsstreit die Diskussion um den Charakter desZentrums alskatholischer oderpolitischer Parteizunehmend indieKonfron- tation zweier Richtungen führte, bezog Porsch letztlich die zweite Position und vollzog damit eine»Wendezur Kölner Richtung«60,dieüber das Kaiserreichhinaus biszu seinem Tod 1930politisch bestimmend bleiben sollte. In Porschs politischer Biographie spiegelt sichdaher inhohem Maße jenerpolitische Weg,dervornZentrum unter schwereninneren Konflikten imWilhelminischen Kaiserreicheingeschlagenwurde." Erstaunlich wenige Studien befassen sich mit der Geschichte des politi- schen Katholizismus in den einzelnen katholischen Regionen des Deut- schen Reichs. Dabei sind die oft auch regional zumindest mitbedingten unterschiedlichen Interessenlagen geradein politischen Sachfrageninner- halb des Zentrums auf Reichsebene unübersehbar. Am besten ist der 54Ebd., 131-141und 150-156. - Bachern selbs! hat seine politischen Erfahrungen und Erlebnisse später in seiner neunbändigen, zum Klassiker der Katholizismusforschung gewordenen Zentrumsgeschichte niedergeschrieben. Vgl. zu diesem Geschichtswerk ebd., 197-219. 55So bestanden beispielsweise in der Polenfrage zwischen dem schlesischen und rheini- schen Zentrum, das für eine stärkere Berücksichtigung der polnischen Minderheit eintrat, erhebliche Differenzen. Ebenso prallten amVorabenddesErstenWeltkriegsdas Festhalten der Reichstagsfraktion an der Forderung nach einer Demokratisierung des Drei-Klassen-Wahlrechts in Preußen mit der Obstruktionspolitik einerWahlrechtsre- form durch die Zentrumsfraktion im Preußischen Landtag zusammen, die um ihre Machtposition fürchtete. Vgl. Leugers-Scherzberg, Porsch, 100-107, 130-139 und 184--186(s.Anm. 46). 56Ebd.,48. 57Ebd., 51-60 und 107-116. 58SoPorsch aufdemKatholikentag 1892,ebd.,49. 59Ebd., 3.Vgl.auchebd., 37-46. 60Ebd., 158. 61Vgl.ebd., 286-287. 370
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