DER ARME HEINRICH von HARTMANN VON AUE Herausgegeben von HEINZ METTRE VEB MAX NIEMEYER VERLAG · HALLE (SAALE) 1966 Lizenz-Nr.: 315/141/66 · ES 7 D Lichtsatz: Il 1/9/1 Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden VORWORT Mit dem Armen Heinrich hat Hartmann von Aue die klas- sische Novelle des Hochfeudalismus geschaffen. Wer den Geist des Mittelalters in der Dichtung erfassen will, muß diese meisterhaft gestaltete kleine Verserzählung gelesen haben. Die geglättete, immer leicht dahinfließende Sprache, die sorgfältige Wortwahl, der ruhige, abgewogene Stil in Verbindung mit Klarheit des Aufbaus und innerer Ge- schlossenheit des behandelten Stoffes können kaum besser als mit Gotfrids Lob, das er Hartmann spendet, gekenn- zeichnet werden : „... wie lûter und wie reine sin kristallîniu wortelin beidiu sind und iemer miiezen sin! si koment den man mit siten an, si tuont sich nähe zuo dem man und liebent rehtem muote.. (Tristan V. 4626 ff., Ausgabe Golther) Freilich gibt es auch Legendenhaftes im Armen Heinrich, so die sich als Wunder vollziehende Heilung, aber wer wird das einem Werk des Mittelalters verdenken. Seltsam können uns auch die altklugen, weitabgewandten Reden des jungen Mädchens anmuten wie auch die Bereitschaft der Eltern, ihr Kind in den Tod ziehen zu lassen; zu dieser Weltfeind- schaft des Kindes aber bemerkt Hermann Schneider in seiner Literaturgeschichte treffend: „Das ist ein Wirklich- keitsbild: so mußte eine Jugend gesinnt sein, die es bald darauf zum Wahnsinn des Kinderkreuzzugs drängte" (Heldendichtung usw. S. 290). Doch auch sonst blickt uns aus dieser so bescheiden wirkenden Dichtung überall mittel- alterliches Leben entgegen, und es bleibt nur zu wünschen, III daß sich auch weiterhin viele an dieser neben dem Meier Helmbrecht wohl bedeutendsten Novelle des Mittelalters erfreuen, sich von ihr belehren lassen und nicht zuletzt durch sie ihre Kenntnisse in der mittelhochdeutschen Sprache erwerben und erweitern. So schön und leicht der Arme Heinrich zu lesen ist, un- gleich schwerer ist die Herstellung des Textes: Der Α.H. ist um 1195 entstanden, überliefert aber ist er in zwei aus dem 14.Jh. stammenden Fassungen A (= Straßburger Hs.) und Β (= Heidelberger [= Ba] und Cálocsaer [= Bb] Hs.). (Zur Verwandtschaft der Hss. s. S. Χ.) A und Β gehen auf zwei überarbeitete Vorlagen zurück, ihr Text weicht zum Teil sehr stark voneinander ab. Allgemein wird den Aus- gaben die Α-Fassung zugrunde gelegt, sie gilt als besser. Außerdem werden insgesamt noch 178 Verse in zwei Bruch- stücken überliefert: in C (aus St.Florian) und D (aus Indersdorf), aber D gibt für die Textkritik kaum etwas her. Die 61 Verse von C, der wohl besten Hs. des Α. H. (Anf. des 13.Jhs.), lassen erkennen, daß A wohl etwas besser als Β ist, daß vielfach aber auch A geändert hat, vor allem hat es viele Formwörter {und, ouch, wan u. a.) hinzugefügt; Β aber bringt ζ. T. ganze Versreihen anders als A, und oft ist nicht zu entscheiden, welcher Fassung zu folgen ist; deshalb müssen die aus den anderen Werken Hartmanns gewonnenen Ergebnisse sprachlicher Untersuchungen für den Α. H. herangezogen werden. Resignierend aber stellen die beiden Herausgeber der Paulschen Ausgabe, Albert Leitzmann und Ludwig Wolff, mit Erich Gierach fest: „...bestenfalls könne man den armen Heinrich so her- stellen, wie ihn Hartmann gedichtet haben könnte" (Vor- wort zur 10—12.Aufl.). Von dem unsicheren Boden, auf dem der Text steht, ist jedoch in der Paul-Leitzmann- Wolffschen Ausgabe außer in der Einleitung so gut wie nichts zu spüren. Es wird auf Gierach verwiesen, und an Stelle der Lesarten werden nur die Abweichungen von dem von Gierach hergestellten Text angegeben. Die Aus- IV gäbe von Erich Gierach ist in der l.Aufl. 1913, in der 2. 1925 erschienen. Er druckt zum ersten Male nebenein- ander die beiden Handschriften A und Ba ab und — unterm Strich — die beiden Fragmente C und D, den von ihm her- gestellten Text stellt er daneben; dann folgen die Lesarten von Bb und die Varianten der bisherigen Ausgaben. Damit ist diese Ausgabe die Grundlage für alle Arbeit am Α. H., zumal A verbrannt und Bb verschollen ist. Der von Gierach hergestellte Text beruht auf umfangreichen Forschungen, die in der Zs.f. d. A. Bd. 54 u. 55 erschienen sind. Albert Leitzmann hat jedoch in der Besprechung der Gierachschen Ausgabe (Zs.f.d.Ph. 53, S. 109 f.) gefordert, die Flick- wörter, bes. und, noch konsequenter zu streichen, als es bei Gierach bereits geschehen ist. Als Leitzmann von der 7. Aufl. an (Halle 1930) dann die Paulsche Ausgabe übernahm (l.Aufl. Halle 1882), hat er diese Streichungen unterlassen, weil ihm die Unsicherheit zu groß sei ; er hat die Ausgabe nach Gierachs Text und Vorschlägen bis auf einige Ab- weichungen, die er besonders vermerkte, überarbeitet. Nach Leitzmanns Tod ist Ludwig Wolff seit der 10. Aufl. (Halle 1953) der Herausgeber (11. Aufl. Tübingen 1958, 12.1961). Er hat sich größtenteils Leitzmann angeschlossen, etliche Elisionspunkte Leitzmanns jedoch getilgt, sie hätten zu „unnatürlicher und unschöner Rhythmisierung" geführt. Wer von diesem Text abweicht, muß auf Kritik gefaßt sein; ich bin jedoch in manchem anderer Auffassung als Leitzmann und Wolff und begründe im folgenden einige Änderungen : 1. Mit dem Faksimile-Druck der Iwein-B-Handschrift (herausgegeben von H. M. Heinrichs, Köln/Graz 1964) ist die wohl beste Iwein-Handschrift veröffentlicht. Sie ist noch zu Lebzeiten Hartmanns entstanden, und sie zeigt m. E. eindeutig, daß die jüngeren und überarbeiteten Hss. des Α. H. und zum Teil auch neuere Textausgaben zu konservativ sind. In Übereinstimmung mit dieser Hs. und V zum Teil auch mit Gierach habe ich daher öfter apokopiert und synkopiert, als es bei Leitzmann-Wolff der Fall ist. Ζ. B. hat Iwein Β durchweg sagt, magt, auch im Versinnern; am Versende habe ich stets diese Formen eingesetzt. Am Versende hat Iwein Β immer -ebtt, -esn, -ehrt, also: leim: gebn, genesn: gewesn, sehn: geschehn usw., hier habe ich, um die Aussprache offen zu lassen, Elisionspunkte gesetzt (leben). In der Iwein-Ausgabe von Lachmann-Benecke und im Reimwörterbuch von Emma Bürck (München 1922) ist am Versende immer synkopiert. M. E. hatte Hartmann viel öfter beschwerte Hebungen durch synkopierte Formen, als es in den Ausgaben — auch dieser - zum Ausdruck kommt. In der Enklise stehende Pronomen habe ich vielfach mit dem vorangehenden Wort verbunden. Die Negationspartikel en, ne verbinde ich meist mit dem vorangehenden Pronomen wie Iwein-B und auch andere Herausgeber. Die Adjektivendung -ic gebe ich in unflektierten Formen wie Iwein-B als -ec, sonst als -ig-. Bei oder habe ich das r gestrichen. 2. Zirkumflexe habe ich vor allem beim Pronomen anders gesetzt als Leitzmann und Wolff: si durchweg mit Zirkum- flex (es reimt auf bt), und du ist je nach der Betonung mit Zirkumflex versehen. 3. Es steht fest, daß A viele Flickwörter hinzugefügt hat; das ergeben der Vergleich mit C und Β und die sparsamere Verwendung dieser Wörter in den anderen Werken Hart- manns. Daher gibt es m. E. keine Rechtfertigung dafür, sie beizubehalten, wenn sie in Β fehlen, der betreffende Vers aber sonst mit A übereinstimmt oder nur wenig ab- weicht. Das gilt schon für die beiden ersten von mir gestrichenen und in V. 14 und 22 ; sie stehen in allen Aus- gaben, nur Leitzmann hatte ihre Tilgung (wie auch in VI V. 12) a.a.O. gefordert. Ohne und ergeben diese Verse jedoch einen neuen, von Nagels Interpretation (Der Α. H. Hartmanns von Aue, Tübingen 1952, S.23ÍF.) abweichen- den Sinn: V. 14/15 sind ohne und nicht mehr dritter Grund (I.V. 10, 2.V. 12), sondern Begründung des Vorangehenden, und V. 22 ff. geben ohne und den erhofften Lohn an, anders bleibt die Lohnforderung ohne Inhalt. Auch sonst habe ich mich öfter für Β entschieden, z.B. V. 191-193, 324, 728, 1059 (vrœlîchen A paßt nicht, schon Gierach hat darauf hingewiesen — Zs. f. d. A. 55, S. 552 —, er setzt vrîlkhen ein; aber werlkhen Β entspricht dem Sinn sehr gut. Auch V.391 folge ich B, s. dazu H. de Boor (Beitr. Tüb. Bd. 84, 474 f.) u. Fr. Neumann (ebda. Bd. 85, S. 315 ff.). 4. In einigen Fällen werden von den Herausgebern gegea A und Β Wörter des Rhythmus oder des Inhalts wegen ein- gefügt, hier halte ich mich ζ. T. wieder an die Überlieferung; ζ. Β. V. 33 : nie hat Gierach ergänzt, Leitzmann und Wolff haben es übernommen. Wenn bei Hartmann eine Entwick- lung festzustellen ist, daß er die im allgemeinen unbetont bleibenden Wörter beschwert (Zwierzina, Zs. f. d. A. 45, 5. 280 und jetzt K. Schacks, Pretzel-Festgabe, S. 72 ff.), kann auch hier der, das dann vom Relativpronomen aufge- nommen wird, betont sein (Schacks bringt genügend Belege dafür). Ich lese also mit A: dehetnèr der túgent, aber auch Β entspricht dieser Betonung: állér dér túgent. Den Hss. folge ich auch V. 265 (vremeden ohne Hs.), V. 283 ze dem gebären (in A und Β fehlt gebären); für diese Verse gilt dasselbe wie für V. 33 : der Artikel allein genügt. 5. Mit dem Streben Hartmanns, die Wörter dem Satzsinn entsprechend zu betonen, hängt auch die Behandlung der Kadenz zusammen. Schon bei ihm finden wir die für den Stricker typische Kadenz |x A|X oder \—|x, also zweifacher Hauptton ohne Senkung in der Paenultima (der letzte Takt kann durch Länge oder Kürze oder zwei Kürzen gefüllt VII sein), und m. E. war Hartmann das Vorbild für den Stricker. Drei Beispiele aus dem Iwein: wip ist 3128, man slúoc 3134, Ion nach 3164 (3 X in 27 Versen!), im A.H. z.B. lieht bin 104, verstúont sich 134, kúnt túo 197, iúch lite 227, sucht gúot 232, zoch sich 283, diu guote maget in liez 342 (Heusler, Verslehre II, S. 104 u. 115, verlangt hier eine Innenpause!), ferner: 449, 508, 527, 580, 793, 917, 960, 1041, 1081, 1143, 1150, 1206, 1262, 1264, 1274, 1277, 1289, 1292. Eindeutig ist daher auch vil bréit 40 (statt bereit), s tat da 91 (statt stete), rat sin 915 (statt gesîn) zu lesen (so auch Gie- rach, Leitzmann, Wolff; aber E. Schröder sprach sich noch gegen diese Kadenz aus [A. f. d. A. 45, S. 39 f.]); ich lese aber auch anders als Wolff sin glich 281 (statt gelidi), an sách 401, 1197, 1491 (statt ane), zu erwägen wären Fälle wie léb(e)n sòl 707, séh(e)n liez 1062, geschéh(e)n sòl 1159, séh(e)n lân 1185. Die Verse 800, 836, 923, 979 u.a. sind m. E. entsprechend zu betonen. 6. Die Lesarten: Durch den Paralleldruck der Hand- schriften bei Gierach erübrigt sich eine vollständige Angabe der Lesarten (Leitzmann und Wolff verzichten daher über- haupt auf sie und geben nur ihre Abweichungen von dem von Gierach hergestellten Text an). Die Ausgabe von Gierach ist den meisten Lesern aber nur durch Bibliotheken zugänglich, und viele werden keine Vorstellung von den Abweichungen in Β bekommen, auch ein Hinweis im Vor- wort ersetzt sie nicht. Allzu leicht kann daher bei einem Leser, der nur den hergestellten Text vor Augen hat, der Eindruck entstehen, als sei alles in Ordnung. (Zu V. 980 a b heißt es z.B. bei Leitzmann und Wolff, daß sie nur in Β stehen, aber 980 a ist von Gierach vollständig geändert worden.) M. E. hat es noch keinen Herausgeber des Α. H. gegeben, der sich nicht darüber im klaren wäre, daß viele Stellen auch anders gelesen werden könnten. Um einen Ein- druck dieser Möglichkeit zu vermitteln, gebe ich die Les- VIII arten für die ersten 500 Verse vollständig, soweit es sich nicht um rein Lautliches handelt. Von Vers 500 bis zum Schluß folgt nur noch eine Auswahl (s. S. XXI, Vorbe- merkung zu V. 501). Kursivdruck im Text gibt an, daß es sich um Sinnände- rungen oder Wortabweichungen gegen die Hss. handelt. Ich stimme Fr. Neumann zu : „Wie wir uns auch vor einem solchen Dichterwort entscheiden, wir sollten das Er- schlossene immer kursiv setzen, um an die Grenzen philo- logischen Erkennens zu erinnern" (Beitr. Tüb. 85, S. 324). Da diese Ausgabe mit der früheren von Paul kaum mehr etwas zu tun hat, aber auch — trotz vieler Übereinstim- mungen — in einigen grundsätzlichen Fragen (im Lautlichen und in der· Beurteilung der B-Fassung) von Leitzmanns und Wolffs Text abweicht, die Einleitung und die Lesarten dazu ganz verändert sind, erscheint Hermann Paul nicht mehr auf dem Titel. Ich habe die Angaben und Vorschläge zur Textherstellung von Zwierzina, Gierach u.a. heran- gezogen und mich immer wieder von neuem entschieden, auch wo ich mit Gierach und Leitzmann übereinstimme; mir wird aber auch, so hoffe ich, Ludwig Wolff nicht ver- denken, daß ich oft seinen Vorschlägen gefolgt bin, ohne es besonders zu vermerken. Jena, 1. Oktober 1965 Heinz Mettke IX DIE ÜBERLIEFERUNG A = Straßburger Hs. Es war eine Pergament-Sammelhs. des 14.Jhs., die dem Johanniterkloster unter der Signatur A 94 gehörte. Sie enthielt außer dem Α. H. noch ein Bruch- stück aus dem Barlaam von Rudolf von Ems und 26 Ge- dichte und Lieder. Der Α. H. stand auf Bl. 23va—35vb, insgesamt hatte die Hs. 80 Blätter. Beschreibung und wei- tere Hinweise bei Gierach S. IX. Bei der Beschießung Straß- burgs 1870 verbrannte die Hs. Ba = Heidelberg UB Cod. Pal. germ. 341, herausgegeben von G. Rosenhagen DTM 17, Berlin 1909. Die Hs. ist wohl Anfang des 14.Jhs. in Böhmen geschrieben, es ist eine der wichtigsten Sammelhandschriften des Mittelalters. Sie ent- hält vor allem kleine Texte, insgesamt 213 Nummern, davon allein 108 Gedichte des Strickers. Der Α. H. steht auf Bl. 249ra-258va. Ich habe neben Gierach einen Mikro- film der Hs. benutzt. Bb = Cálocsa Cod. 1. Die Hs. enthält bis auf ein Stück das- selbe wie die Heidelberger, sie dürfte großenteils von Ba abgeschrieben sein. Die Abweichungen sind geringfügig, auch im A. H., wie die Lesarten bei Gierach S. 88 ff. er- kennen lassen, aber die Lesart zu V. 898, wo Bb mit A (V. 926) übereinstimmt, zeigt m. E., daß zumindest noch die Vorlage Β greifbar war. Zur Geschichte der Hs. usw. s. Gierach S. X. Nach 1945 war die Hs. noch in Cálocsa, sie ist dann verschollen. Meine Bemühungen um sie in Ungarn waren bisher erfolglos. C = Bruchstücke aus St. Florian in Österreich. Die Hs. ist wohl im Anfang des 13.Jhs. entstanden, sie enthielt den X