Klassiker der Politik Klassiker der Politik Band 4 Begründet von Friedrich Meinecke und Hermann Oncken Neue Folge Herausgegeben von Otto Heinrich von der Gablentz, Siegfried Landshut und Dolf Sternberger Redaktion Adrian Braunbehrens Alexis de Tocqueville Das Zeitalter der Gleichheit Auswahl aus Werken und Briefen Zweite, neubearbeitete und erweiterte Auflage Übersetzt und herausgegeben von Siegfried Landshut Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1967 ISBN 978-3-322-97896-7 ISBN 978-3-322-98419-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-98419-7 Verlagsnummer 053204 © 1967 by Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag Köln und Opladen 1967 Grafische Gestaltung: Herbert W. Kapitzki, Stuttgart Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................ IX I. Über die Demokratie in Amerika Einleitung zur "Demokratie in Amerika" ...................... 3 Elemente der amerikanischen Gesellschaft und ihre Herkunft ...... 16 Vom Prinzip der Volkssouveränität in Amerika ................ 35 Zwei Arten des Zentralismus ................................ 39 Die Allmacht der Mehrheit .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 46 Rußland und Amerika 50 Die Vorliebe für die Gleichheit ............................. . 51 Isolierung der Einzelnen als Folge der Gleichheit ............... . 58 Wirtschaftlicher Wohlstand und politische Freiheit ............. . 63 Wie die Demokratie die Beziehungen zwischen Diener und Herrn wandelt ..................................... . 66 Gleichheit und Konzentration der Macht ..................... . 71 Was die Konzentration der Macht fördert oder hemmt 78 Die souveräne Gewalt in Europa, Verlust an Stabilität, Gewinn an Macht ..................................... . 85 Welche Art von Despotismus die demokratischen Nationen zu befürchten haben ................................... . 97 Möglichkeiten der Demokratie, ihre despotischen Gefahren einzuschränken ....................................... . 103 Zusammenfassende Betrachtung ............................. . 112 VI I nhalts'lJerzeichnis ß. Die gesellschaftlichen und politischen Zustände in Frankreich vor und nach 1789 117 ill. Das Ancien Regime und die Revolution Vorwort ................................................ 143 Steigerung der öffentlichen Gewalt durch die Revolution .......... 145 Religiöser Charakter der französischen Revolution .............. 147 Dieselben politischen Institutionen in Europa und ihr Verfall ...... 149 Was hat die französische Revolution eigentlich bewirkt? .......... 153 Der Prozeß der Zentralisation inmitten der alten Gewalten ...... 155 Ober die Gepflogenheit der Verwaltung im Ancien Regime ........ 158 Vorherrschaft von Paris über die Provinzen .................... 159 Absolutismus, Gleichheit und die Isolierung des Einzelnen ........ 167 Die politische Bedeutung der Literatur im Ancien Regime ........ 180 Stärkerer Wunsch nach Reformen als nach Freiheit .............. 190 Die Erziehung des Volkes zur Revolution durch die Regierung des Ancien Regime ...................... 200 Anhang zum Ancien Regime: Das allgemeine Landrecht Friedrichs des Großen .............. 211 Aus den Fragmenten zur Fortsetzung des "Ancien Regime und die Revolution" ...................... 216 IV. Notizen - Reden - Briefe Allgemeiner Charakter der Epoche vor der Revolution von 1848 223 Die neue Welt der Industrie ................................ 228 Vom Mittelstand und vom Volk ............................ 231 Kammerrede vom 27. Januar 1848 .......................... 234 Aus der Rede vor der Nationalversammlung in der Diskussion über den Verfassungsentwurf (12. September 1848) zur Frage des Ar- beitsrechtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 239 Inhaltsverzeichnis VII Kritik der Verfassung von 1848 .............................. 246 Aus einem Brief an Louis de Kergorlay Nicht datiert (Ende Juni oder Anfang Juli 1831) .............. 247 Aus einem Brief an M. de Corcelle, 12. April 1835 .............. 249 Aus einem Brief an Eugene Stoffels Tocqueville, 5. Oktober 1836 250 Aus einem Brief an Louis de Kergorlay, Paris, 26. Dezember 1836 .. 251 Aus einem Brief an Henry Reeve, Esq. Paris, 3. Februar 1840 ...... 251 Aus einem Brief an Henry Reeve, Esq. Paris, 7. November 1840 .... 252 Aus einem Brief an A. M. W. Senior, Esq. Paris, 10. April 1848 252 Aus einem Brief an A. W. R. Greg, Esq. Saint-Cyr, 27. Juli 1853 .. 254 Bibliographie 259 Einleitung Alexis de Tocqueville, 1805 geboren, war ein um dreizehn Jahre älterer Zeitgenosse von Karl Marx. Beide beherrschte vom ersten Erwachen ihrer geistigen Regsamkeit an das Bewußtsein, in einer Zeit unerhörter Umwäl zungen aller Prinzipien und aller Bedingungen zu leben, die bis dahin für die Ordnung und den Geist des täglichen Lebens in der menschlichen Ge sellschaft maßgebend gewesen waren. Was die geistige Leidenschaft beider - so ver~chiedenartiger, so entgegengesetzter Menschen - von vornherein fesselte, war die Frage nach der Bedeutung, nach dem Wo-Hinaus dieser Entwicklung und ihr Verlangen, die entscheidenden Momente dieser Ver änderung bestimmen zu können. In der Unmittelbarkeit und Eindringlich keit der Beobachtung, in der Kraft und Schärfe der Analyse und was die grundsätzliche Bedeutung des Aspektes anbetrifft, unter dem sie die Er eignisse ihrer Zeit begriffen, konnte wohl einer dem anderen die Waage halten. Ja, in einer Hinsicht mindestens mochte Tocqueville sogar Marx übertreffen: in dem aufrichtigen Bemühen um vollständige Vorurteils losigkeit und in dem ernsten Bewußtsein der Verantwortung als Mitleben der seiner Zeit. Beide, Marx wie Tocqueville, konstatieren übereinstimmend - wenn auch aus sehr verschiedener Perspektive - zwei entscheidende Merkmale ihrer Zeit: einmal die Tendenz zu einer vollständigen Aufhebung aller gesell schaftlichen Unterscheidung, den Zug zu einer fortschreitenden Gleichheit der Vielen. Und ferner: den zwangsläufigen Charakter dieser Entwick lung, die ihre Antriebe aus der gesamten Vergangenheit und Geistesart des Abendlandes erhält. Ebenso ist beiden gemeinsam die tiefe Abneigung und Verurteilung der mit dieser Entwicklung verbundenen Orientierung des allgemeinen Lebens am wirtschaftlichen Erfolg. So bei Tocqueville die Be schränktheit und saturierte Selbstgerechtigkeit der im Parlament repräsen tierten Bourgeoisie, zusammen mit ihrem Bürgerkönig Louis Philippe, die x Einleitung bei Marx jener Klasse entspricht, deren scheinheilige Gesinnung er mit beißender Ironie gegeißelt hat. Beiden bedeutet die fortschreitende Tendenz zur Einebnung aller gesell schaftlichen Unterschiede (Marx: die Vertauschung von Herr und Knecht durch das Geld) ein Verhängnis für die wahre Bestimmung des Menschen. Und beider Gedanke sucht nach einer Möglichkeit des Auswegs. Hier aber hört das Gemeinsame auf. Marx, der sich ganz außerhalb der bestehenden Verhältnisse stellt, sieht den "Ausweg" in der totalen "Aufhebung", d. h. Vernichtung der in der "bisherigen" Geschichte gewordenen Welt. Das entstehende Nichts füllt er mit der Phantasmagorie einer klassenlosen Gesellschaft der widerspruchslosen Vollkommenheit. Auch Tocquevilles Gemüt ist verdüstert angesichts der vorwärtsdrängenden "Demokratie" mit all den unvermeidlichen Erscheinungen, die er im zweiten Teil der Demokratie in Amerika und im Ancien Regime darstellt. Aber diese Ein sichten rufen bei ihm eine sehr andere Haltung hervor als bei Marx. Es ließe sich hier auch noch an einen dritten Zeitgenossen denken, an Jacob Burckhardt und seine Reaktion auf die gleichen Erkenntnisse. Sie ist mit ihrem Ausweichen in die Betrachtung Alt-Europas eher derjenigen von Marx zu vergleichen, während ein späterer Epigone, Max Weber, der in der tiefen Bedrückung inmitten der Entfremdung des Menschen in seinem industriellen und administrativen "Gehäuse" doch ähnlich wie Tocqueville sich der "Forderung des Tages" nicht entzieht. Wenn man jedoch die Wirkung bedenkt, die die Gedanken der beiden Analytiker der Gesellschaft ihrer Zeit auf ihre Mit- und Nachwelt aus geübt haben, so tritt das Werk Tocquevilles gegenüber der weltbewegen den Elementarkraft, mit der bis in unsere Tage die Marxschen Ideen die Welt selbst verändert haben, völlig in den Schatten. Nirgendwo aber zeigt sich dieser Unterschied so kraß wie in Deutschland. Von den Schriften Tocquevilles erschien der erste Teil von "über die Demokratie in Amerika" ein Jahr nach dem französischen Original in Deutscher Sprache (1836) und das "Ancien Regime und die Revolution", unter dem Titel "Das alte Staatswesen und die Revolution", sogar im glei chen Jahr mit der ersten französischen Ausgabe (1856). Der zweite Teil der "Demokratie", der in Frankreich 1840 herauskam, ist nie ins Deutsche übersetzt worden; und da diese beiden Ausgaben schon seit langem vom Büchermarkt verschwunden sind, ist das Werk Tocquevilles in deutscher Einleitung XI Sprache keinem Leser mehr zugänglich gewesen. Selbst in den meisten Universitätsbibliotheken ist keines der bei den Hauptwerke in deutscher Sprache zu finden und häufig selbst nicht einmal die französische Ausgabe. Es hieße einen längeren Kommentar zur Verkümmerung der politischen Wissenschaft, eine Art geistiger Erblindung gegenüber dem ganzen Bereich des Politischen in Deutschland nach der Mitte des 19. Jahrhunderts schrei ben, wollte man die Gründe dieser eigenartigen Interesselosigkeit darzu legen versuchen. Jedenfalls steht sie in einem auffallenden Gegensatz zu der Bewegung und dem Eifer, mit dem das Werk Tocquevilles in den anderen Ländern, vor allem in Frankreich, in England und auch in den Vereinigten Staaten aufgenommen wurde. Der Freund Tocquevilles, Gustave de Beaumont, meint im Vorwort zu den gesammelten Werken und der Korrespondenz, die er 1860, ein Jahr nach dem Tode Tocque villes, herausgab, man könne den Erfolg seines Werkes wohl kaum mit dem irgendeines anderen der damaligen Zeit vergleichen. Der erste Teil der "Demokratie" und ebenso das zwanzig Jahre später erschienene "Ancien Regime" erreichten bis zur Herausgabe der eben erwähnten ge sammelten Werke je 12 Auflagen. Die gleiche Zahl in englischer über setzung. Dem erst Dreißigjährigen erteilte die Academie Fran~aise ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Teils der "Demokratie" einen Preis, zwei Jahre später wählte ihn die Academie des Sciences Morales et Politi ques zu ihrem Mitglied (1838) und 1841, ein Jahr nach dem Erscheinen des zweiten Teils der "Demokratie", wurde er in die Academie Fran~aise als Mitglied aufgenommen. Seine Analyse der gesellschaftlichen Voraussetzun gen politischer Institutionen hatte ihm sogleich den Ruf einer solchen Autorität erworben, daß ein Ausschuß des britischen Parlaments ihn bei seinem Besuch in England im Jahre 1835 um seine Beratung in Fragen des Stimmrechts bat. Zahlreiche Ehrungen und Huldigungen wurden ihm während seines Aufenthalts im Lande zuteil. Neben einer Reihe anderer bedeutender Persönlichkeiten des politischen und geistigen Lebens traf Tocqueville auch mit J. St. Mill zusammen, mit dem ihn auch später eine Korrespondenz verband und der seinen Aufsatz über "Die gesellschaft lichen und politischen Zustände Frankreichs vor und nach 1789" ins Eng lische übersetzte und veröffentlichte (1836). überblickt man die große Zahl von Kommentaren, Würdigungen und Kritiken, in denen Tocquevilles Werk in Frankreich, England und den
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