DAS MATHEMATISCHE INSTITUT der Universit¨at G¨ottingen 1929 – 1950 Alte Langfassung von 1983 ∗ Norbert Schappacher VORBEMERKUNG Das folgende Manuskript ist im Wesentlichen eine mit TEX hergestellte, computergerechte Version eines alten Typoskripts aus dem Jahre 1983, das seinerseits eine fru¨he Fassung des folgenden Buchbeitrags darstellt: Norbert Schappacher: Das Mathematische Institut der Universit¨at G¨ottingen 1929 – 1950; in: Becker, Dahms, Wegeler (Hrsg.), Die Universit¨at G¨ottingen unter dem Nationalsozialismus, Mu¨nchen (K.G. Saur) 1987, 345–373 — zweite erweiterte Ausgabe: Mu¨nchen (K.G. Saur) 1998, 523–551. Der hier nach 17 Jahren reproduzierte Text ist einerseits deutlich detail- und zitatenreicher als das, was 1987 zum ersten Mal in dem von Becker, Dahms und Wegeler herausgegebenen Buch erschien. Wegen dieser vielen Details erhalte ich immer noch ab und zu Anfragen nach dieser alten, unver¨offentlichten Version. Daher habe ich mich jetzt entschlossen, sie elektronisch zuga¨nglich zu machen. ¨ Allerdings ist das Typoskript — wenn es auch bereits die Uberarbeitung einer aller- ersten Fassung vom Anfang 1983 war, auf die ich zahlreiche Reaktionen eines kleinen Leserkreises erhalten hatte — zeitlich und stilistisch sehr nahe an meiner urspru¨nglichen Lektu¨re der Institutsakten, und es markiert meine erste eigene Besch¨aftigung mit der Nazi- zeit. Es ist daher keineswegs ausgereift. Einige Stellen habe ich deshalb jetzt gea¨ndert. Das gilt auch fu¨r faktische Fehler des Typoskripts, die mir seit 1983 mitgeteilt wurden ¨ oder aufgefallen sind. Es gibt aber insgesamt nicht viele solche Anderungen, und so ist ¨ der Text hier keine Uberarbeitung des alten Manuskripts. Ich gebe auch nur gelegentlich neuere Literatur an — vgl. dazu in der zweiten Auflage (1998) des Buches die Seiten 12 bis 18. Das Typoskript von 1983 hat keine Fußnoten, tr¨agt aber in meinem Handexemplar zahlreiche handschriftliche Erga¨nzungen, die fast alle aus der Mitte der achtziger Jahre stammen und hier in den Text eingearbeitet sind. Fußnoten im vorliegenden Text sind Hinzufu¨gungen aus dem Fru¨hjahr 2000. Strasbourg, avril 2000 N. Sch. ∗ UFR de math´ematique et d’informatique, 7 rue Ren´e Descartes, 67084 Strasbourg Cedex, France. http://www-irma.u-strasbg.fr/∼schappa/ 1 VORBEMERKUNGEN (1983) In letzter Zeit sind eine ganze Reihe amerikanischer Ver¨offentlichungen erschienen, in de- nen Abschnitte der Geschichte des Go¨ttinger Mathematischen Instituts, meistens mit Blick auf eine Einzelperson, behandelt werden. Zu nennen sind in erster Linie die Bu¨cher von Constance Reid u¨ber Hilbert und Courant (Springer-Verlag); aber auch z.B. der neue Sam- melband von Brewer u¨ber Emmy Noether (siehe unser Zitat “[MacLane]”) und Artikel, wie der von Sanford L. Segal u¨ber Hasses Rolle 1934: [Segal]. Auf Material, das in diesen Vero¨ffentlichungen gut ausgefu¨hrt ist, gehe ich hier nur soweit ein, wie es zum Versta¨ndnis der Gesamtentwicklung wu¨nschenswert scheint. Allerdings kommt es h¨aufiger vor, daß in den genannten Vero¨ffentlichungen Fragen offenbleiben, oder die Chronologie der Ereignisse aufgrund unzureichender Quellen durcheinanderger¨at. In diesen F¨allen habe ich, soweit meine eigene Quellenlage es zuließ, eine genaue Darstellung der Ereignisse gegeben. Im ¨ Ubrigen unterscheidet sich dieser Bericht hier natu¨rlich dadurch von den Vorlagen, daß ich eine Institutsgeschichte fu¨r eine gewisse Periode versuche, keine Ansammlung von Einzel- biographien. Die folgende Arbeit besteht aus vier unterschiedlichen Teilen. Im ersten (Abschnitte 1 und 2) werden die beiden Extreme der Institutsgeschichtsschreibung: Wissenschafts- geschichte und Biographie, st¨arker hervorgehoben als danach. Der zweite Teil (Abschnitte 3 bis 6) entha¨lt vor allem eine einigermaßen detaillierte Chronologie der Ereignisse 1933/34. Die Natur der Quellen bringt es mit sich, daß die Darstellung streckenweise in die N¨ahe einer R¨auberpistole gera¨t. Ich m¨ochte aber betonen, daß ich nur die Tatsachen aufgenommen habe, die fu¨r das Versta¨ndnis der Ereignisse in ihrer Abfolge wirklich n¨otig schienen. Eine Fu¨lle von Details wurde unterdru¨ckt! Der dritte Teil (Abschnitt 7 bis 9) schildert in Schwerpunkten die Entwicklung bis nach dem Kriege. Platz- und Zeitgru¨nde haben ihn recht kurz werden lassen. Der vierte Teil (Abschnitt 10) entha¨lt vier Tabellen, die dortselbst im einzelnen 1 erl¨autert sind. Es war natu¨rlich unm¨oglich, alle am Institutsleben beteiligten Personen zu behandeln. Einen (allerdings unvollst¨andigen) Ausgleich kann hier [Pinl, Teil II] schaffen. Mitunter werden die Namen einzelner Beteiligter nicht genannt. Das geschieht weniger deshalb, weil das u¨ber sie Erz¨ahlte besonders ehrenru¨hrig wa¨re; sondern weil auf diese Weise kein 2 abgewogenes Gesamtbild dieser Person gegeben zu werden braucht. Soweit aber Personen in den mir bekannten Vero¨ffentlichungen schon in markanter Weise angefu¨hrt werden, habe auch ich mich ihrer Namen bedient. Ab und zu werden in den biographischen Skizzen von Mathematikern auch Bemerkun- gen u¨ber deren mathematische Arbeiten eingefu¨gt. Dem Fachkundigen werden sie hof- fentlich trotz ihrer Ku¨rze nu¨tzlich sein; der nichtmathematische Leser sollte sie nicht als st¨orend empfinden. 1 ZweidieserTabellensindhiernichtreproduziert,dasienuralshandgefertigteDiagrammevorliegen. 2 In den Fußnoten dieser Reproduktion des Textes lo¨se ich die Namen auf. 2 Meine(zeitlich)ersteQuellewarendieAktendesMathematischenInstituts, wieichsie im Sommer 1982 in einem Schrank der Verwaltung teilweise ungeordnet vorfand. Ich habe sie geordnet. Ein Briefzitat ohne weitere Quellenangaben bezieht sich auf diese Akten; oder aber, wenn es sich um einen Brief an Hellmuth Kneser handelt, auf einen Brief im Privatbesitz der Familie Kneser. Die Institutsakten sind nicht sehr umfa¨nglich; ein Auffinden der Zitate du¨rfte keine Schwierigkeiten bereiten. Leider ist ein Teil der Akten des Instituts offenbar gegen Ende der siebziger Jahre beim Aufr¨aumen des Dachbodens weggekommen. Die Akten aus dem Universita¨ts-Archiv G¨ottingen (UAG) werden nach Rektorats- (R), Kuratorial- (K), Sekretariats- (S) und Fakult¨atsakten (Math.-Nat.) mit Nummer zitiert. — Namen in eckigen Klammern verweisen auf das Literaturverzeichnis am Ende. DievorliegendeArbeitverdanktihrenjetzigenGehaltinersterLiniederGroßzu¨gigkeit der Herren Martin Kneser und Herbert Mehrtens, die mir viele entscheidende Unterlagen und Informationen gegeben haben. Ich danke ihnen herzlich dafu¨r. Bei der Abfassung des Textes war außerdem der Kontakt mit anderen Mitarbeitern des Buchprojekts, allen voran Hans-Joachim Dahms, eine wichtige Hilfe. Frau Christiane Gieseking hat alle Schreibar- beiten fu¨r diesen Beitrag in ihre Verantwortung genommen und dafu¨r manche Stunde ihrer Freizeit geopfert. Ich danke ihr besonders fu¨r das große Interesse, mit dem sie das Entstehen der Arbeit begleitet hat. Go¨ttingen, Sommer 1983 N. Sch. Inhaltsu¨bersicht 1. Vorgeschichte: Die Konzeption Felix Kleins ................................... 4 2. Portr¨ats ...................................................................... 7 3. Krisenzeit 1929–1933 ......................................................... 16 4. “Neubeginn” als Zusammenbruch ............................................. 18 5. Die verweigerte Schlu¨sselu¨bergabe ............................................ 29 6. Neue Ordnung: 1934–1936 .................................................... 34 7. NS-Alltag .................................................................... 44 8. Krieg ......................................................................... 49 9. Nachher ...................................................................... 52 10. Tabellen ..................................................................... 55 LITERATURVERZEICHNIS .................................................... 62 3 1. Vorgeschichte: Die Konzeption Felix Kleins Seit Carl Friedrich Gauß (1777–1855) hat G¨ottingen in der mathematischen Welt einen Namen. Daß es aber vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der National- sozialisten fu¨r viele sozusagen der Nabel der mathematischen Welt war und insofern den traditionellen Brennpunkten des Interesses: Paris und Berlin, den Rang ablief, war vor allem das gemeinsame Werk von David Hilbert (1862–1943) und Felix Klein (1849–1925), um die sich ein immer bedeutenderes mathematisches Institut bildete. Hierbei lag Hilberts Rolle auf der Seite der kreativen mathematischen Forschung, die er mit vo¨lliger Offenheit fu¨rallem¨oglichenneuenAnregungenundmiteinerseitGaußnichtgesehenenVielseitigkeit betrieb. Dagegen war Felix Klein in G¨ottingen vor allem ein außergew¨ohnlich erfolgreicher Organisator und akademischer Lehrer — vier Jahre vor seiner Berufung nach G¨ottingen hatteeingesundheitlicherZusammenbruchdiePeriodeseineroriginellstenmathematischen Forschungen beendet. Klein war es, der Hilbert ‘nach G¨ottingen holte’. Er gru¨ndete die “Mathematische Gesellschaft”(dasregelm¨aßigeKolloquiumfu¨rGastvortr¨age), dasmathematischeLesezim- mer (eine Pr¨asenzbibliothek fu¨r Studenten und Mitarbeiter) — Einrichtungen, die damals als wegweisend galten: [Frewer 3], [Fano]. Vor allem erkannte er (stark beeindruckt von einer USA-Reise anl¨aßlich der Weltausstellung 1893 in Chicago) die Zeichen einer neuen, technisierten Zeit und gru¨ndete 1889 mit interessierten Industriellen und Go¨ttinger Pro- fessoren die “G¨ottinger Vereinigung zur F¨orderung der angewandten Physik und Mathe- matik”, deren Leitung er zusammen mit dem Direktor der Farbwerke Elberfeld, H.T. B¨ottinger, u¨bernahm. Die Zeitgenossen begru¨ßten teilweise Kleins Unternehmungen als wegweisend fu¨r ein dem20.Jahrhundertgem¨aßesVersta¨ndnisderMathematik(etwa[Fricke, S.279], [K´arma´n, p. 54]); zum Teil versuchten sie Widerstand zu leisten gegen die in ihren Augen unwu¨rdige Auslieferung der hohen Wissenschaftsideale an den zweckbestimmten Betrieb der Tech- nischen Hochschulen und Industrie (z.B. [Pohlenz, S. 51]; siehe [Manegold]). Jedenfalls wurde mit Hilfe industrieller Interessen und Geldmittel ein vorher nicht gekannter enger Austausch zwischen Mathematikern, Physikern und Technikern gef¨ordert. Konkret schlug sich das vor allem in der Gru¨ndung des Kaiser-Wilhelm-Institutes fu¨r Stro¨mungsforschung nieder, dessen erster Direktor, Ludwig Prandtl, wesentlich wegen der erhofften Na¨he zu Klein nach G¨ottingen gekommen zu sein scheint, [Kraemer]; vgl. den Beitrag von C. Tollmien in diesem Band. ¨ Die von Felix Klein geforderte Offnung der Mathematik zur Technik hin wirft eine wissenschaftsgeschichtlich interessante Frage auf: Wie bew¨altigt das nach Kleins Ideen konzipierte Institut die natu¨rliche Spannung zwischen den technik- und anwendungsorien- tierten Ingenieurwissenschaften einerseits und den rapide anwachsenden und sich weiter 3 vera¨stelnden Disziplinen der reinen Mathematik andererseits, die ja, wie die industrielle Revolution, auch wesentlich Kinder des 19. Jahrhunderts sind? Soweit ich sehe, ist dieser WiderspruchinGo¨ttingenniesystematischangegangen,geschweigedenngelo¨stworden. Er wurde nur durch geeignete Institutsleiter sozusagen in pers¨onlichem Einsatz u¨berbru¨ckt. 3 Im Typoskript von 1983 folgt hier noch das unzutreffende Adjektiv: “unanwendbaren”. 4 Insbesondere Courant bemu¨hte sich darum, neue Entwicklungen — auch in disparaten mathematlschen Gebieten — gleichermaßen am Institut zu beru¨cksichtigen. Dieses Bemu¨- hen ist nicht etwa selbstverst¨andlich fu¨r einen ‘guten Mathematiker’, und es herrscht sicher keine Einigkeit daru¨ber, ob es als uneingeschr¨ankt positiv zu bewerten sei. Zum Beispiel wird in [Hardy, p. 140] die Aerodynamik als “widerwa¨rtig h¨aßlich und unertr¨aglich lang- weilig” bezeichnet. — Nun kann man den etwas snobistischen Grundton dieser kleinen Schrift Hardys insgesamt u¨berzogen finden (oder mit dem Alter des Autors entschuldigen); ¨ aber Hardys Außerung u¨ber die Stro¨mungsforschung gibt doch die legitime Meinung eines reinen Mathematikers wieder. Und es ist klar, daß ein Mann mit solchen Meinungen das Kleinsche Konzept nie ha¨tte mittragen ko¨nnen, so hervorragend andererseits seine Verdienste um Analysis und Zahlentheorie in diesem Jahrhundert sind. Wie wir sehen werden, waren ¨ahnliche Ansichten auch zu Courants Zeiten am mathematischen Institut vertreten. Aber sie scheinen nicht tonangebend gewesen zu sein. Es scheint u¨berhaupt fraglich, ob angesichts der unu¨berschaubaren Vergro¨ßerung des Theorienbestandes der reinen Mathematik in unserem Jahrhundert das mathematische Institut den Kleinschen Ideen h¨atte treu bleiben k¨onnen, ohne seine starke Stellung in Disziplinen wie Zahlentheorie, Algebra, algebraische Geometrie einzubu¨ßen, oder sich zu spalten. Die vo¨llige personelle Umwa¨lzung in Folge der Machtergreifung durch die Na- tionalsozialisten macht es uns aber unm¨oglich, auf diese Frage eine zuverl¨assige Antwort zu geben: 1933 wurde die natu¨rliche Entwicklung des Kleinschen Konzepts abgebrochen und wenig sp¨ater die reine Mathematik durch Hasse als Institutsleiter in den Vordergrund geschoben. Dieser Gang der Dinge folgt keineswegs einer inneren Logik! — Das Kaiser-Wilhelm- Institut und vor allem die benachbarte Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA) am Ende der Bunsenstraße waren ja fu¨r die Nationalsozialisten in dem Maße interessant, wie die Kriegstechnologie ihrer bedurfte. Dies h¨atte durchaus eine Perspektive abgeben ko¨nnen, unter der der ‘Kleinsche Geist’ zu einem nationalsozialistischen Konzept fu¨r die G¨ottin- ger Mathematik hatte umgebaut werden k¨onnen. Dem w¨are auch das starke Gewicht der Geometrie und Anschaulickheit in Kleins Forschung und Lehre entgegengekommen. Da seine Ahnentafel (in Erwiderung auf ein antisemitisches Nachschlagewerk, in dem u¨brigens auch der “Arier” Hilbert aufgefu¨hrt wurde) als blu¨tenrein arisch reklamiert werden konnte [Manger], wundert man sich dann auch nicht, daß der Theoretiker der “Deutschen Mathe- matik”: Ludwig Bieberbach, Klein als einen der Helden der arischen Mathematik feiert [Bieberbach 1 bis 4]. (Einmal will er ihn sogar zum Kronzeugen fu¨r seine Rassentheorie mathematischen Schaffens machen: [Bieberbach 1, S. 242], [Lindner].) Wir werden sehen, daß es auch in G¨ottingen starke ka¨mpferische Bestrebungen gab, einem nationalsoziali- stisch interpretierten ‘Kleinschen Geist’ nach der Entfernung der Juden zum Durchbruch zuverhelfen. Eswirdzuuntersuchensein, warumdieseVersuchefehlschlugen. Tatsacheist jedenfalls, daß der einzige bew¨ahrte Verwalter des Kleinschen Verma¨chtnisses, den es 1933 gab, Richard Courant, Jude war und den Nationalsozialisten als politisch unzuverl¨assig galt. Das reichte hin, die Kleinsche Tradition erst einmal zu zerschlagen. Solche personellen Zuf¨alle waren es, die die Machtergreifung der so antiintellektuellen Ideologie fu¨r das mathematische Institut letztlich zu einer Wende zur reinen Mathema- tik werden ließen. So bleibt es bis heute nur ein interessantes Gedankenexperiment, zu 5 u¨berlegen, ob das Auseinandertreiben von Mathematik, Physik und Technik durch eine la¨ngere Direktorenschaft Courants (und auch durch Weiterfu¨hrung von Seminaren wie dem von Born und Hilbert-Weyl u¨ber die “Struktur der Materie”) ha¨tte gebremst oder vera¨ndert werden ko¨nnen. Felix Klein u¨berblickt seit gut 50 Jahren selbstbewußt den Sitzungssaal des Mathema- tischen Instituts: sein sachlich-impressionistisches Portrait ist sein heutzutage wertvollstes Geschenk an das Institut. Als in den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs der Sohn Otto Klein und Hasse u¨ber Kleins Nachlaß korrespondieren, kommen sie auch auf dieses Gema¨lde zu sprechen. Beide erw¨ahnen nicht den Namen des Malers: Max Liebermann. — Aber man muß wohl schon damit zufrieden sein, daß Liebermann 1933 zu alt und zu beru¨hmt (als Sch¨opfer eines deutschen Impressionismus!) war, als daß er noch als entartet hingestellt werden konnte. So konnte das Bild des ju¨dischen Malers die tausendj¨ahrige Zeit u¨ber an seinem Platze bleiben. 6 2. Portr¨ats Wir sind den Ereignissen vorausgeeilt. Bevor wir aber den Ablauf der Dinge der Reihe nachverfolgen, wollenwirzuersteinigeHauptpersonenunsererHandlungvorstellen. Dabei beschra¨nken wir uns an dieser Stelle auf diejenigen, die schon vor 1933 in G¨ottingen waren und nicht erst in Folge der Machtergreifung die G¨ottinger Szene betraten. Zuerst geht es dabei um die Professoren, die 1933 vertrieben wurden. Die Reihenfolge ist ungefa¨hr die ihrer Vertreibung aus G¨ottingen. Da aus Platzgru¨nden nicht auch alle entlassenen Assi- stenten vorgestellt werden ko¨nnen, verweisen wir hierfu¨r auf [Pinl, Teil II], bzw. auf unsere Liste im Anhang. Gegen Ende dieses Abschnitts stellen wir auch die beiden wichtigsten Nationalsozialisten am Institut (vor 1933) vor. Die Reihe beginnt mit einem Mathematiker, der nicht am mathematischen Institut selbst lehrte: FELIX BERNSTEIN (1878–1956) war ein mathematischer Tausendsassa. Mit einem Satz aus der Mengenlehre begann seine mathematische Laufbahn; 1903 habilitierte er u¨ber ein Thema aus der Klassenk¨orpertheorie. Als sein Vorhaben, eine Professur in reiner Mathe- matik zu bekommen, scheiterte, neigte er sp¨ater immer mehr dazu, spektakul¨are Anwen- dungsprobleme der Statistik in schnell wechselnder Folge als Themen zu nehmen. Seine beru¨hmteste Leistung ist wohl die Aufkl¨arung der Blutgruppenvererbung. Fu¨r Einzel- heiten u¨ber sein so farbenfrohes wissenchaftliches Werk siehe [Frewer 1] und [Frewer 2]; vgl. [Gini]. Im Sommer 1918 wurde um Bernstein als Leiter das Institut fu¨r Mathematische Stati- stik gegru¨ndet. Es war in einem Fachwerkhaus an der Paulinerkirche (Ru¨ckseite der alten Universit¨atsbibliothek) untergebracht, das vor einigen Jahren abgerissen wurde. Vom Sommer 1919 bis in den Sommer 1922 sorgt Bernstein in der Philosophischen Fakult¨at (von der sich die Mathematisch-Naturwissenschaftliche erst 1922 abtrennt) fu¨r erheblicheUnruhe, derenFolgenauchvielsp¨aternochspu¨rbarsind. [Marshall, p. 118]hebt besonders die politischen Aspekte dieser Affaire hervor. Sie fu¨hrt u.a. an, daß Bernstein zu Beginn der Weimarer Republik zweiter Vorsitzender der Go¨ttinger DDP (Linksliberale) war. Die Vorg¨ange um Bernstein sind so interessant, daß ich hier kurz die wichtigsten Fakten zusammenstelle, wie sie sich aus [UAG, K XVI IV Aa 117] ergeben: Bernstein hatte seit April 1911 ein planma¨ßiges Extraordinariat inne. (Dies wird 1933 wichtig: Er kann als vorkriegszeitiger Beamter aufgrund des Gesetzes zur Wieder- herstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 nicht einfach als Jude entlassen wer- ¨ den.) Obwohl nach dem Kriege die Uberleitung Bernsteins auf ein Ordinariat nach allge- meinen Beschlu¨ssen sowieso bevorsteht, beantragt er am 7.6.1919 selber seine Ernennung zum Ordinarius. Die Fakult¨at reagiert zum ersten Male piquiert und lehnt Bernsteins ungeduldigen Versuch zum Alleingang einstimmig ab (11.7.1919). Im Herbst 1919 konzipiert Bernstein in Berlin im Auftrag des Finanzministeriums eine Sparpr¨amienanleihe des Reiches. Der damalige Finanzminister, Matthias Erzberger, war (bis zu seiner Ermordung durch Rechtsradikale im August 1921) einer der bekanntesten, bei der Rechten besonders verhaßten Politiker Deutschlands. Bernstein erh¨alt anscheinend 110.000 Reichsmark Honorar fu¨r seine Berliner Ta¨tigkeit. Obwohl im Winter 1919/20 ein 7 erster Inflationsschub diese Summe nicht ganz so bedeutend sein l¨aßt wie sie klingt, liegt 4 sie doch in der Gro¨ßenordnung von zehn G¨ottinger Jahresgeh¨altern Bernsteins. Ein par- lamentarischer Untersuchungsbericht u¨ber das Zustandekommen der Anleihe (der selbst eine Folge der politischen Hetzkampagne gegen Erzberger ist) ermo¨glicht den vagen Ver- dacht,Bernsteinhabeanf¨anglichversucht,insgesamt188.000Rmk.Honorarherauszuschla- gen. Mit Hinweis auf diese Verd¨achtigung wird die Fakult¨at u¨ber Jahre hinaus — ob nun aus Neid, perso¨nlichen oder antisemitischen Vorbehalten, oder aus politischer Ablehung eines vermeintlichen lokalen Erzbergers — nicht mu¨de, Beweise dafu¨r zu verlangen, daß Bernstein sich “einwandsfrei im Sinne der Traditionen des deutschen Professorentums und u¨berhaupt des deutschen Beamtentums” verhalten habe. Nur drei Mathematiker: Hilbert, Courant und Runge, sprechen sich am 12.5.1921 in Separatvoten dafu¨r aus, daß Bern- stein ein Ordinariat erh¨alt (vgl. [Hilbert]). Die u¨brige Fakult¨at wiederholt mehrfach ihre strikte Ablehnung Bernsteins, der dann am 13.10.1921 vom Minister gegen ihren Willen zum pers¨onlichen Ordinarius ernannt wird. D.h. sein Gehalt ¨andert sich nicht; er hat aber jetzt Titel und Rechte eines ordentlichen Professors. ImStreitmitderFakulta¨tbenimmtsichBernstein,jedenfallsnachEinsch¨atzungseines vielleicht effektivsten Fu¨rsprechers in G¨ottingen, des Kurators Valentiner, nicht geschickt. Dreimal beantragt Bernstein ein Disziplinarverfahren gegen sich, zur Kla¨rung der gegen ihn erhobenen Vorwu¨rfe; dreimal weigert sich das Ministerium, dieses einzuleiten. Das letzte Mal spielt sich dies Ende 1929 ab — zu einer Zeit, als Bernstein anscheinend jede politische Bet¨atigung schon lange aufgegeben hat. Damals schreibt Valentiner (16.1.1930): “Ich fu¨rchte sehr, daß Bernstein im Begriffe steht, seine immerhin im Laufe der Zeit etwas gebesserte Situation [erga¨nze: in der Fakult¨at] wieder zu verschlechtern. Wissenschaftlich wird er heute ernster genommen als in den Jahren 1921 oder 1922. Als Mensch aber ist er heute noch bei den meisten Fakult¨atsmitgliedern direkt unbeliebt. Die wenigen anderen achten ihn zwar, aber keiner steht ihm nahe.” Noch im Dezember 1950, als es darum geht, ob bei der Bemessung der Wiedergut- machungsleistungen an Bernstein angenommen werden solle, er h¨atte, w¨are er 1933 nicht vertriebenworden, einvollesOrdinariatbekommen, erkl¨artderDekanlakonisch: “ImKreis der Fakult¨at ist nichts bekannt, das die Fakult¨at veranlaßt haben k¨onnte, einen Antrag auf Ernennung Prof. Bernsteins zum Vollordinarius zu stellen.” Am 1.12.1932 reiste Bernstein zum dritten Mal in die USA, um dort Gastvorlesungen ¨ zuhalten. SeinInstitutu¨berließerderObhutseinesAssistentenHANSMUNZNER(1906– 1982). Dieser war dann 23 Jahre lang fast der einzige Repr¨asentant der Statistik in G¨ot- tingen. Bernstein kehrte von dieser Reise nicht nach Go¨ttingen zuru¨ck. 4 Dieses Grundhonorar wird in der Pesonalakte erwa¨hnt, wurde Bernstein aber nicht explizit vorge- worfen. DieVorwu¨rfebezogensichvielmehraufangeblichangestrebtezusa¨tzlicheZahlungenundbasierten auf der im folgenden Satz erwa¨hnten parlamentarischen Untersuchung, die u¨brigens nicht o¨ffentlich war. —NachdemErscheinendererstenAuflagedesBuchesvonBecker,Dahms,Wegeler(1987)habeichBern- steins Personalakte noch einmal studiert und daraufhin eine etwas u¨berarbeitete Darstellung des Falles Bernstein fu¨r die zweite Auflage des Buches (1998) geschrieben. Entsprechend sind auch die folgenden Absa¨tze gegenu¨ber dem Typoskript von 1983 leicht vera¨ndert. Ich hoffe im u¨brigen bei einer spa¨teren Gelegenheit, im Rahmen einer vergleichenden historischen Untersuchung politisch aktiver Mathematiker (insbesondereauchEmilJuliusGUMBEL),nocheinmalimeinzelnenaufdenFallBernsteinzuru¨ckkommen zu ko¨nnen. 8 EMMY NOETHER (1882–1935) war die gr¨oßte Mathematikerin, die bis heute gelebt hat. Wa¨re sie ein Mann gewesen, h¨atte sie selbstverst¨andlich ein renommiertes Ordinarlat er- halten. Da sie es nicht war, wurde ihr am 6.4.1922 nur der Titel eines “außerordentlichen Professors” verliehen, mit dem u¨blichen Hinweis, daß dies kein Anstellungs- oder Beamten- 5 verh¨altnis begru¨nde. Ein Jahr sp¨ater wurde ihr immerhin ein Lehrauftrag fu¨r Algebra ¨ mit Ubungen erteilt [Dick, S. 21]. Sie nahm dies mindestens ¨außerlich hin wie es kam und lebte sehr unaufwendig. Ihre bahnbrechenden Leistungen in der abstrakten Algebra (eben dem, was van der Waerden in den ersten drei Auflagen seines Epoche machenden Lehrbuches “Moderne Algebra” nannte) sind aus der heutigen Mathematik nicht mehr wegzudenken. (Vgl. van der Waerdens Nachruf in Math. Ann. 111, [Dick, S. 47-521.) Ihre Methode war gepr¨agt durch st¨andiges Fragen nach einem begrifflichen Zugang. Ihre Forschung vollzog sich zu einem guten Teil auf langen Spazierg¨angen und in ihren Vorlesungen. Ihr spontanes, unverwu¨stliches Benehmen hat ebenso viele Schu¨ler und Kollegen immer wieder angeregt, wie es H¨orer ihrer Vorlesungen abgeschreckt hat. Um die Ereignisse 1933 zu verstehen, ist vielleicht wichtig zu wissen, daß sie nicht nur Ju¨din war, sondern auch politisch links stand. Zwar war sie [Dick, S. 30] nur 1919–1922 Mitglied der USPD und nur bis 1924 in der SPD. Aber 1931 findet sich z.B. ihre Unter- schrift unter der “Protesterkla¨rung republikanischer und sozialistischer Hochschullehrer” gegen die studentischen Versuche in Heidelberg, dem Statistiker und politischen Schrift- ¨ steller E.J. Gumbel wegen “undeutscher” pazifistischer Außerungen die Lehrbefugnis zu entziehen: [Gumbel 1, letzte Seite]. 1928/29 war sie als Gastprofessor in Moskau [Dick, S. 26]. Ihr wurde 1933 auch vorgeworfen, ihre Wohnung einer linken Studentengruppe mit Versammlungsverbot zur Verfu¨gung gestellt zu haben: [Dick, S. 31]. In der Tat formuliert am 9.8.1933 Kurator Valentiner (der zwar konservativ, aber nicht nationalsozialistisch eingestellt war) [UAG Math.-Nat. P 9]: “In politischer Hinsicht hat meines Wissens Fr¨aulein Noether von der Revolution von 1918 an bis auf unsere Tage auf marxistischem Boden gestanden. Und wenn ich es auch fu¨r m¨oglich halte, daß ihre politische Auffassung mehr theoretisch als bewußt und praktisch war und ist, so glaube ich doch zugleich mit Bestimmtheit, daß ihre Sympathien so stark der marxistischen Politik und Weltauffassung gelten, daß ein ru¨ckhaltloses Eintreten fu¨r den nationalen Staat von ihr nicht zu erwarten ist.” Im damaligen Sprachgebrauch bezeichnet “marxistisch” eine nicht-kommunistische linke Einstellung, etwa die der damaligen SPD. 6 In seinem aus Zu¨rich am 9.10.33 abgeschickten Entlassungsgesuch an den Minister schreibt HERMANN WEYL (1885–1955): “Daß ich in Go¨ttingen fehl am Platze bin, ist mir sehr bald aufgegangen, als ich im Herbst 1930 nach 17-ja¨hriger T¨atigkeit an der Eidgen¨ossischen Technischen Hochschule Zu¨rich dorthin als Nachfolger von Hilbert u¨bersiedelte”. 5 Vgl. die Akte Math.-Nat. P 9. Siehe auch: Cordula Tollmien, ‘Sind wir doch der Meinung, daß ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik scho¨pferisch ta¨tig sein kann...’ — Emmy Noether 1882–1935. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Habilitation von Frauen an der Universita¨t Go¨ttingen. Go¨ttinger Jahrbuch 38, 1990, 153–219. 6 Dieser Brief ist im Anhang des folgenden Artikels abgedruckt und kurz kommentiert: N. Schap- pacher,Questionspolitiquesdanslaviedesmath´ematiquesenAllemagne1918–1935; in: “LaSciencesous le Troisi`eme Reich” (sous la direction de J. Olff-Nathan), Paris (Seuil) 1993, pp. 51–89. 9 SchonalsStudentwardieserbedeutendsteSchu¨lerHilbertskein“typischerGo¨ttinger” gewesen: er geh¨orte zu keiner der studentischen Cliquen (insbesondere nicht zu der Gruppe um Courant), galt als “Bauernjunge aus dem Norden” (sein Geburtsort ist Elmshorn) und Sonderling. Mit Courant hat er sich (jedenfalls bis 1933) nicht geduzt. (Demgegenu¨ber sind seine Briefe an Erich Hecke, einen anderen Go¨ttinger Kommilitonen, von gro¨ßter Vertrauthelt und Herzlichkelt.) Courant war sehr skeptisch, als Weyl Ende April 1933 die Gesch¨aftsfu¨hrung des Instituts u¨bertragen wurde, siehe Abschnitt 4. Weyls ganzes politisches und gesellschaftliches Denken war bei seiner Ru¨ckkehr nach G¨ottingen 1930 von Schweizer Maßst¨aben bestimmt. Seine Begru¨ßungsansprache an die G¨ottinger Mathematische Verbindung vom Herbst 1930 [Weyl, p. 651–654] ist ein er- staunliches Dokument seiner außergew¨ohnlich unabh¨angigen Ansichten u¨ber die ausge- hende Weimarer Republik: “... Nur mit einiger Beklemmung finde ich mich aus ihrer [= der traditionell demokratischen Schweiz] freieren und entspannteren Atmosph¨are zuru¨ck in das g¨ahnende, umdu¨sterte und verkrampfte Deutschland der Gegenwart. Obwohl Weyl also fu¨r nationalsozialistische Ka¨mpfer politisch vo¨llig indiskutabel war — dies im u¨brigen schon seiner ju¨dischen Frau wegen —, waren seine Vorlesungen sehr be- liebt und es ist auch dem Einsatz der G¨ottinger Deutschen Studentenschaft zu verdanken, daß Weyl nicht schon Ende 1932 einen Ruf an das Institute for Advanced Study in Prince- ton annahm. (Vgl. Bemerkung am Ende des oben zitierten Entlassungsgesuches, sowie G¨ottinger Zeitung vom 25.1.1933) ¨ Uberhaupt erschien Weyl zwischen 1930 und 1933 wohl (neben dem greisen, emeri- tierten Hilbert) als der Mathematiker schlechthin in G¨ottingen, siehe [Mac Lane]. Seine mathematische Universalit¨at war der Hilberts ebenbu¨rtig: seine Interessen reichten von der Relativita¨tstheorie und Quantentheorie bis zur intuitionistischen Logik; er behandelte ProblemedermathematischenPhysikundFunktionalanalysisebenso, wieerDifferentialge- ometrie und Algebrentheorie bereicherte. Im Alter von 27 Jahren hatte er einen Klassiker der mathematischen Literatur geschrieben: Die Idee der Riemannschen Fla¨che, der die Rolle der Topologie (Brouwers Ans¨atzen folgend) klar herausarbeitete. Weyl verdanken wir die wegweisende Entwicklung der Lietheorie. — Kurzum: seine Leistungen sind so vielf¨altig (und als ganzes so unsystematisch), daß sie hier nicht na¨her er¨ortert werden ko¨nnen. Stattdessen sei auf die Wu¨rdigung durch Chevalley und Weil verwiesen: [Weyl, p. 655–685]. RICHARD COURANT (1888–1972) (vgl. zum folgenden [Reid]) erscheint vor allem als ein ¨außerst erfolgreicher Manager der Wissenschaft. Genau wie Klein, dessen Konzept er, wie erwa¨hnt, weiterfu¨hrte, und auf dessen Lehrstuhl er1 920 berufen wurde (nachdem ihn vorher Carath´eodory und Hecke fu¨r kurze Zeit innegehabt hatten), hatte Courant “seinen” Industriellen (Carl Still), der ihn bei den verschiedensten Projekten großzu¨gig 7 unterstu¨tzte. Ohne einen weltgewandten Organisator wie Courant, der es verstand, auf die Leute zuzugehen, ob sie Studenten im ersten Semester, Unternehmer oder Geheimra¨te waren, h¨atte die Rockefeller Foundation wohl nicht so leicht die Mittel fu¨r den Bau des mathematischen Instituts nach G¨ottingen gegeben. 7 Vgl. zu Still: Heinrich Behnke, Semesterberichte, Go¨ttingen (Vandenhoeck & R.) 1978. 10
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