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Das Fremdwerden der eigenen Stadt. Eine Studie zu Biografie und Raum in Istanbul PDF

289 Pages·2021·3.884 MB·German
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Lisanne Riedel Das Fremdwerden der eigenen Stadt Urban Studies Lisanne Riedel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Orient- und Asienwissenschaften sowie am Institut für Politische Wissenschaft und Soziolo- gie der Universität Bonn. Sie lehrt mit den Schwerpunkten qualitative Methoden und interdisziplinäre Stadt- und Raumforschung und hat Soziologie in Bielefeld, Istanbul und Bonn studiert. Lisanne Riedel Das Fremdwerden der eigenen Stadt Eine Studie zu Biografie und Raum in Istanbul Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wil- helms-Universität Bonn unter dem Titel »Istanbul: Ein zivilisiertes Leben? Eine Studie zu Biografie, Raum und Gesellschaft zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustim- mung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Verviel- fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Lisanne Riedel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5774-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5774-0 https://doi.org/10.14361/9783839457740 Buchreihen-ISSN: 2747-3619 Buchreihen-eISSN: 2747-3635 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download Inhalt 1. Einleitung........................................................................... 7 2. ForschungsstandundKontext......................................................15 2.1 UrbanisierunginderTürkischenRepublik–Ein chronologischer Überblick...........20 2.2 Exkurs:StaatlicheWohnungsbaufinanzierungund dietürkischeWohnungsbaubehördeTOKİ.............................................31 2.3 VonderInformalitätdesGecekonduszur geplanten Wohnanlage (Site)................34 2.4 KulturelleHierarchisierungenundgesellschaftlichePluralität........................43 3. Methodologie,ForschungsprozessundForschungsfrage...........................53 3.1 MethodologischeVerortung.........................................................54 3.2 EntwicklungderForschungsfrageimForschungsprozess............................ 57 3.3 MethodenderBiografieforschung...................................................63 3.3.1 DasNarrativeInterview......................................................63 3.3.2 Narrationsanalyse,FallrekonstruktionundTypenbildung...................... 67 3.4 SamplederStudie..................................................................73 3.5 Beobachtungen,InterviewkritikundMehrsprachigkeit............................... 78 4. Einzelfallrekonstruktionen FünfPortraitszurDarstellungdertheoretischenVarianz ............................89 4.1 Emine–EineganznormaleFrau? ....................................................91 4.1.1 StrukturelleBeschreibungdesGo-Alongs.....................................93 4.1.2 StrukturelleBeschreibungdesnarrativenInterviews ......................... 97 4.1.3 AnalytischeAbstraktion–BiografischeGesamtformung»Emine«.............117 4.2 Süleyman–AbstiegeinesEtablierten ...............................................121 4.2.1 KollektiverfahrungenimMahalle .............................................127 4.2.2 IsolationserfahrungenineinerantagonistischenNachbarschaft............. 133 4.2.3 SozialeResignationundRückzuginsPrivate ................................ 138 4.2.4 AnalytischeAbstraktion–BiografischeGesamtformung»Süleyman«......... 144 4.3 Leyla–ZurEntfaltungeinesStigmas................................................147 4.3.1 UrbanerDorfalltag...........................................................151 4.3.2 KapitalgesteuerteSiedlungstransformationundVerlusterfahrungen ......... 155 4.3.3 LebeninderGroßstadt ..................................................... 159 4.3.4 PhylogenetischesStigma................................................... 162 4.3.5 AnalytischeAbstraktion–BiografischeGesamtformung»Leyla«............. 169 4.4 Nuran–EinflüchtigesLeben........................................................171 4.4.1 DieKernfamiliealsprimäreBezugseinheit................................... 173 4.4.2 »Itisneverenough«–DemWachstumnichtentkommenkönnen ............177 4.4.3 KörperlicheAnforderungendesGroßstadtlebens .............................181 4.4.4 AnalytischeAbstraktion–BiografischeGesamtformung»Nuran«............ 184 4.5 Tolga–VonExpertenwissenundSelbstverwirklichung.............................. 186 4.5.1 BedeutungvonhandlungsleitendemExpertenwissen......................... 188 4.5.2 SelbstverwirklichungundVermeidungvonAbhängigkeitsstrukturen ......... 193 4.5.3 AnalytischeAbstraktion–BiografischeGesamtformung»Tolga«..............197 5. StadterneuerungalssozialeAufstiegsmöglichkeitoderkollektiveVerlaufskurve? 199 5.1 BiografischeErfahrungensozialräumlicherIntegration.............................203 5.2 GegenwärtigesozialräumlicheInteraktionen ........................................212 5.3 AblaufmodellzumUmgangmitrapiderRaumtransformation........................220 6. StädtischeRäumeundRaumkonstitutionim biografischenVerlauf............... 231 6.1 DerverloreneRaum»Nachbarschaft«?–MahalleundSite..........................233 6.2 Substitutions-undEmanzipationsräumederGroßstadt..............................241 6.3 EineveränderteZeitlichkeitfürRäume?............................................ 251 7. ZusammenfassungundAusblick..................................................257 Transkriptionszeichen .................................................................267 Literatur-undQuellenverzeichnis......................................................269 Literatur................................................................................269 WeitereQuellen.........................................................................282 Danksagung............................................................................285 1. Einleitung InseinemRoman»DieseFremdheitinmir1«beschreibtOrhanPamuk(2017)ei- neLebensgeschichte,diebeispielhaftfürvieleheutigeIstanbulerinnenundIstan- bulersteht:DerProtagonistMevlutziehtmitseinemVaterinden1960erJahren von einem Dorf in Anatolien nach Istanbul,um dort mit ihm zusammen Boza2 zu verkaufen.Der Roman begleitet Mevluts Leben von den Jahren 1969 bis 2012 undzeichnetimgleichenZugedieEntwicklungderStadtsowiedieEntwicklung derLebenssituationderurbanenMigrantinnenundMigrantennach.Mevlutwird inPamuksRomanalseinegutmütige,schlichtePersondargestellt,welcherviele Dingeeinfachsopassieren.WährendandereNebendarstellerinnenund-darsteller imZugederStadtentwicklungzufinanziellemReichtumgelangen,führtMevlut stetseinbescheidenes,aberrechtzufriedenesLeben.Erbeobachtet,wiesichdie Stadtumihnherumtransformiert,undPamukbeschreibtdieseVeränderungen ausMevlutsAugenmitdenfolgendenWorten: »Seit20JahrenwarMevlutnuninIstanbul.Zumeinenmochteerbedauern,dass durchdieneuenStraßen,Gebäude,LädenunddievielenUnter-undÜberfüh- rungendasalte,ihmvertrauteGesichtIstanbulssichveränderte,mehrnochaber freuteersich,dassinderStadtetwasfürihngetanwurde.ErsahdieStadtnicht alsetwasvorseinerAnkunftEntstandenes,wohinernurkamundseinenPlatz einnahm,sondernstelltesichIstanbulgernealseinenOrtvor,dersichweiter- entwickelte,währenderdortlebte,undimmerschöner,saubererundmoderner wurde.(Pamuk2017:320)« IndieserBeschreibungwirddieempfundeneAmbivalenzgegenüberstädtischer Erneuerungsichtbar:BedauertMevlutdenVerlustvonAltemundVertrautem,so weiß er doch die Vorzüge einer sauberen und modernen Umwelt zu schätzen. 1 OriginalausgabeerschienenimJahr2014unterdemTitel»KafamdaBirTuhaflık«beiYapı KrediYayınlarıinIstanbul. 2 Bozaisteinleichtalkoholhaltiges,dickflüssigesGetränk.KlausKreiserbeschreibtesfolgen- dermaßen:»Traditionellestürk.ErfrischungsgetränkausvergorenerHirse,mitZimtundIng- werbestreutwirdesingroßeGläserabgefüllt.Derb.-Verbrauchgehtständigzurück,doch gibtesauchindenGroßstädtennocheinigegelobteWirte(bozacıs).«(Kreiser1992:38) 8 DasFremdwerdendereigenenStadt GleichzeitigfindetsichindenWortenPamuksdaseingeschriebene,transformative ElementvonStädtenwieder–siestehennunmalniestill,genausowenigwiedie Menschen,dieinihnenleben.WiebeivielenanderenMillionenMenschen,dievom LandnachIstanbuloderinanderetürkischeStädtemigrierten,beginntMevluts GeschichteineinerinformellenSiedlungundendetineinerApartmentwohnung. DasurbaneDorfderAnkunftszeithatsichindenmodernenSiedlungsstrukturen derGroßstadtaufgelöst. ImRahmendieserrapidenRaumtransformation,wieichsieindieserArbeit nenne,hatsichdieBevölkerungderStadtIstanbulseitden1950erJahreninetwa verfünfzehnfacht–voncircaeinerMillionaufheuteschätzungsweisemindestens 15 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner (World Population Review 2020). DarüberhinaushatsichdieFlächenausdehnungalleinindenletzten30Jahrenin etwaverdreifacht(AtlasofUrbanExpansion2016).Seitden1990erJahrenhatsich inkürzesterZeitdiefastflächendeckendeVerbreitungvonApartmenthäusernund Wohnblocksdurchgesetzt–seiesdurchkleinteiligeModernisierungsmaßnahmen oderdurchgroßflächige,geplanteWohnanlagen.BegleitetwurdedieneueSied- lungsstrukturdurchneueInfrastrukturenwieAutobahnen,BrückenundTunnel, großeDienstleistungs-undWirtschaftszentren,ShoppingmallsoderneuemLand entlangderUfer.EinehäufiggetroffeneAussagemeinerUntersuchungsteilnehme- rinnenund-teilnehmerwar:»ZurZeitmeinerKindheitstandhiernochnichts«. DieVeränderungdesstädtischenRaumsverliefsorasant,dasserkauminnerhalb einereinzelnenBiografieverarbeitbarwar.DasFremdwerdendereigenenStadt undihreralltagsrelevantenRäume,wiederderNachbarschaft,isteineFolgedie- serUmwälzung. NebendieserErkenntnis,dieichimweiterenVerlaufeingehendervorstellen werde,rekurriertderTitelmeinerPublikationselbstverständlichaufeinebekann- te Studie der Biografieforschung, nämlich auf »Das Fremdwerden der eigenen Biographie.NarrativeInterviewsmitpsychiatrischenPatienten«vonGerhardRie- mann(1987).Riemannargumentiert,dassesimRahmenderLebenserfahrungen, die die von ihm interviewten psychiatrischen Patientinnen und Patienten sam- meln,immerwiederzuErfahrungendes»Sich-selbst-gegenüber-fremd-Werdens« (Riemann1987:402)kommt.SiebemerkenimUmgangmitInteraktionspartnerin- nenund-partnernihreAndersartigkeitundverstärkensiezumTeilsogarnoch,in- demsiesichinInteraktionenfortwährendalsProblemfalldarstellen(ebd.:405).Sie betrachtenihreneigenenKörperalsfremdundandersartig,beispielsweiseinfolge derEinnahmevonMedikamenten,bemerken,dasssichGedankenundGefühleder eigenenKontrolleentziehenunderschreckensichübersichselbst:»Manerkennt sichindem,wasmananderenodersichselbstantut,nichtwiederundwirdzuei- nerdramatischenReevaluationseinesVerhaltensundseinerPersongezwungen.« (ebd.:407).DieseErfahrungenkulminieren,soeinzentralesArgumentderStudie, 1. Einleitung 9 in einem Fremdwerden der eigenen Biografie.Dieses Fremdwerden drückt sich darüberhinausunmittelbarinderInteraktionssituationdesInterviewsaus: »DerBezugzureigenenBiographiegehtverloren,zuvielistproblematischund undurchsichtig geworden, und es ist ihm [dem Interviewten, L.R.] nicht mehr möglich,seineLebensgeschichtenarrativdarzustellen.«(Ebd.:411) DieräumlichenVeränderungeninderGroßstadtIstanbulkönneneinenganzähn- lichenEffektaufPersonenhaben,dieinihraufgewachsensind.Sieerkennenihre Stadtnichtwieder,alltäglicheInteraktionsroutinengeltennichtmehrundidenti- tätsstiftende,sozialeZusammenhänge,wiediegemeinschaftlichorientierteNach- barschaft,lösensichauf. MitdenSiedlungsstrukturentransformiertsichebenfallsdiesozialeOrdnung. Dasstädtisch-moderneLeben,imGegensatzzumvermeintlichdörflich-primitiven Leben,wirdnichtnurinIstanbulständigneuverhandelt(sieheKap.2.4).Esfindet vorallemindenalltäglichenHandlungsroutinenseinenAusdruck.Waseinzivili- siertesLebenist,istumkämpftundnichtvollendsfestgeschrieben,dennderPro- zessderZivilisationistnieabgeschlossen(Kuzmics/Mörth1991:19;Rehberg1991: 78).NorbertElias,derdiesenBegriffwiewohlkeineandereSoziologinundkein anderer Soziologe geprägt hat,beschreibt den Prozess der Zivilisation als einen Prozessder»VeränderungdesmenschlichenVerhaltensundEmpfindensineiner ganzbestimmtenRichtung«(Elias1997[1976]:312),derzwarunbeabsichtigtund unbewusst,aberkeineswegsohneOrdnunggeschieht.Ersiehtdiese»eigentümli- cheOrdnung«(ebd.:313)beispielsweisedarin,wie»etwavondenverschiedensten Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer diffe- renziertererFormmenschlicheVerrichtungenhinterdieKulissedesgesellschaftli- chenLebensverdrängtundmitSchamgefühlbelegtwerden,wiedieRegelungdes gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger,gleichmäßigerundstabilerwird«(ebd.:313).AlsGrundvoraussetzung fürdieseEntwicklungsiehtEliasmenschlicheVerflechtungszusammenhänge,an- dersgesagtdieInterdependenzenmenschlicherPläneundHandlungen,diesich freundlichundfeindlichgegenüberstehen(ebd.:313f.). »DasVerhaltenvonimmermehrMenschenmußaufeinanderabgestimmt,das GewebederAktionenimmergenauerundstrafferdurchorganisiertsein,damit dieeinzelneHandlungdarinihregesellschaftlicheFunktionerfüllt.DerEinzelne wirdgezwungen,seinVerhaltenimmerdifferenzierter,immergleichmäßigerund stabilerzuregulieren.«(Ebd.:317) Karl-Siegbert Rehberg sieht die maßgeblichen Entwicklungen der Moderne, die einenEinflussaufmenschlicheVerflechtungszusammenhängehaben,inderIn- dustrialisierung,demAnwachsenderstädtischen Ballungsräume,demAbnehmen desAgrarsektors,derAuflösungderständischenGesellschaftsowieinderrecht-

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