Urs Lesse Matrikelnr. 1155059 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus Seminararbeit PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG Institut für Soziologie • WS 1996/97 Seminar: Auf der soziologischen Suche nach der „Guten Gesellschaft“ - Sozio- logie der Moral, „Kommunitarismus“ und Theorie der Zivilgesellschaft Seminarleiter: Dirk Kaesler Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus INHALT 0. Einleitung 3 1. Charles Taylor: Philosophischer Kommunitarismus 5 1.1. Ausgangspunkt: Der kontextuelle Ansatz 5 1.2. Kerngedanke: obligation to belong versus primacy of right 7 1.3. Demokratie: Der Staatsbürger als bourgeois und citoyen 10 1.4. Taylor in der Politik: Publizist und (Partei-)Politiker 12 2. Amitai Etzioni: Praktischer Kommunitarismus 13 2.1. Ausgangspunkt: Wider den Mono-Nutzen-Reduktionismus 13 2.2. Kerngedanke: Gemeinschaften als „Schachteln eines Sets“ 15 2.3. Demokratie: Kommunitaristische Demokratie 16 2.4. Etzioni in der Politik: Praktischer Kommunitarismus als politisch-ideologischer Lobbyismus 18 3. Zusammenschau und Kritik 20 4. Literatur 25 2 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus 0. Einleitung Die aktuelle „Kommunitarismusdebatte“ ist von einer bemerkenswerten Spaltung in zwei Stränge gekennzeichnet. Zum einen wird in den USA seit der ersten Hälfte der achtziger Jahre eine theore-tisch- wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen „Liberalen“ - die in der Regel hier genannten Exponenten sind John Rawls und Robert Nozick - und „Kommunitaristen“ - vor allem Alasdair MacIntyre, Michael Sandel, Charles Taylor und Michael Walzer - über die „morali- schen Grundlagen moderner Gesellschaften“1, meist mit Fokus auf die USA geführt. Zum anderen hat der amerikanische Soziologe Amitai Etzioni mittels seines „Communitarian network“ seit Beginn der neunziger Jahre kommunitaristische Forderungen auch über die aka- demische Debatte hinaus in den USA und mittlerweile auch in Europa populär gemacht. Etzioni und auch sein theoretisches Werk wird in der akademischen Rezeption in der Bundesrepublik jedoch fast gänzlich ignoriert2. Dies ist zu bedauern, da seine Relevanz für die Politik mittlerweile unübersehbar ist. So beherrschen kommunitaristische Thesen von Washington über London bis Bonn mittlerweile die politische Rhetorik und (zumindest dem Anspruch nach) Programmatik. Etzioni geht bei Regierungschefs und führenden Politikern der USA, Großbritanniens und der Bundesrepublik ein und aus (siehe Teil 2.4.) und genießt auch eine hohe Präsenz in außerakademischen politischen Medien. Bei MacIntyre, Sandel, Taylor und Walzer hingegen kann von einer auch nur annähernd vergleichbaren Präsenz in der tagesaktuellen Debatte kaum die Rede sein. Nun darf die außerakademische Präsenz und der vermeintliche größere Einfluß Etzionis auf die Politik nicht dazu führen, nun im Gegenzug zur akademischen Debatte nur noch Etzioni Aufmerksamkeit zu widmen. Vielmehr sollte eine Auseinandersetzung sowohl mit den theoretischen Grundlagen der Forderungen Etzionis und seines Communitarian Network als auch mit den Beiträgen der bekannten „akademischen“ kommunitaristischen Diskutanten stattfinden. Eine solche Zusammenschau will diese Arbeit versuchen. Exemplarisch (nicht zu verwechseln mit repräsentativ!) für die „akademische“ Kommunitarismusdebatte wird im folgenden Charles Taylor, seine Gesellschaftstheorie und sein politisches Handeln Amitai Etzioni gegenübergestellt. Die hier verwandte, oben bereits angedeutete Unterscheidung der Ansätze orientiert sich an Beierwaltes Kategorisierung von 1 Honneth 1993 2 exemplarisch hierfür die beiden deutschen Standardbände zur Kommunitarismusdebatte: Honneth 1993, in dem Etzioni überhaupt nicht auftaucht; Reese-Schäfer 1995, der Etzioni lediglich eine siebenzeilige Kurzbio- graphie im Anhang einräumt. 3 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus „philosophischem“ und „praktischem Kommunitarismus“ (begründet wird die jeweilige Ver- wendung dieser Kennzeichnungen in Teil 1.1. bzw. 2.2.). Neben MacIntyre argumentiert Taylor wohl am grundsätzlichsten3 und wird deshalb hier als am geeignetesten betrachtet, eine Position des philosophischen Kommunitarismus zu verkörpern. Die Darstellung in den Teilen 1 und 2 gliedert sich jeweils in vier Schritte. Zunächst soll der (wissenschafts)theoretische Ausgangspunkt der Erörterungen Taylors und Etzioni skizziert werden (1. Schritt), wobei besonderer Wert auf die - auch in den Schriften beider Autoren geübte - Kontrastierung mit dem atomistischen bzw. neoklassischen Ansatz gelegt wird. Danach sollen die Ansätze auf konkretere Ebenen angewandt und der Schwerpunkt („Kern- gedanke“) der Erörterungen umrissen werden. Verdeutlicht werden dabei insbesondere die Unterschiede in den Gemeinschaftsbegriffen Taylors und Etzionis (2. Schritt). Im Anschluß daran liegt das Augenmerk auf Taylor und Etzioni als politische Theoretiker. Beide grenzen sich hier von einer ökonomischen Demokratietheorie in der Tradition Schumpeters ab; sie formulieren jedoch unterschiedlich akzentuierte Gegenentwürfe. Während Taylor fast im dialektischen Sinne eine Synthese aus ökonomischer und Gemeinwillen- Theorie entwickelt, formuliert Etzioni einen Gegenentwurf zur public-choice-Schule (3. Schritt). Die Darstellung wird durch ein kurzes Schlaglicht auf die beiden Theoretiker als Praktiker ergänzt. Auch hier werden unterschiedliche Wege deutlich: Taylor, der als Mitglied, Abgeordneter und Vordenker der sozialdemokratischen New Democratic Party aktiv in der (Partei)Politik Kanadas bzw. Quebecs mitmischt, Etzioni als „Guru“ des „Communitarian Network“, als politischer Lobbyist, der seit Beginn der neunziger Jahre gegenüber politischen Mandatsträgern - mittlerweile auch in Europa - für die kommunitaristische „Sache“ wirbt (4. Schritt). Eine kritische Zusammenschau schließt die Erörterung ab (Teil 3). 3 Reese-Schäfer 1995, S. 29 4 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus 1. Charles Taylor: Philosophischer Kommunitarismus 1.1. Ausgangspunkt: Der kontextuelle Ansatz Kennzeichnend für die Philosophie Charles Taylors ist ein holistischer wissenschaftstheore- tischer Ansatz, der den Menschen kontextuell eingebunden und nicht nach atomistischen oder reduktionistischen Modellen betrachtet. Taylor trennt die ontologische Grundauffassung über die Natur des Menschen - als gebundenes (holistischer Ansatz) oder ungebundenes Selbst (atomistischer Ansatz) - von der normativen Parteinahme für eine kollektiven Belangen oder individuellen Rechten verpflichtete Staatsform. Der auch in der Gesellschaftstheorie heute dominante Atomismus4 gehe davon aus, daß „Ziele und Zwecke [einer Gesellschaft] ...grundsätzlich, ja, man kann sagen ontologisch, ...solche von Individuen [seien]. Gruppenziele sind insofern Resultat einer Konvergenz von individuellen Zielen.“ Der entgegengesetzte, von Taylor vertretene holistische Ansatz wird exemplarisch in seiner Erörterung von Bedeutungstheorien deutlich, in dem er für die von ihm so bezeichnete Herder-Humboldt-Hamann-Theorie (auch: triple-H theory) plädiert5. Sprache ist demnach nicht die Summe isolierter definierter, konstanter Begriffe, sondern situationsbezogenes, ver- änderbares Produkt des Gesprächszusammenhangs: „Sätze sind nicht einfach An- einanderreihungen von Wörtern“6. Sprache entsteht nicht im Lexikon, im Wörterbuch, sondern im Dialog von Menschen7. Dieser Dialog ist vom reinen Informationsaustausch verschieden; er schafft etwas qualitativ neues: Das gemeinsame Gut der Öffentlichkeit8 (siehe auch Teil 1.2.). An den „Bedeutungstheorien“ wird zudem noch ein zweiter Zug kommunitaristischen Denkens erkennbar. Taylors These, Äußerungen in einer Fremdsprache seien letztlich nie völlig ohne Informationsverlust zu übersetzen und deshalb nur durch völlige Aneignung wirklich zu verstehen9, bereitet einen gemäßigt relativistischen Standpunkt auch in Fragen des interkulturellen Kennenlernens vor: „Hier muß das eintreten, was Gadamer ‚Horizontverschmelzung‘ genannt hat. Wir lernen, uns in einem erweiterten Horizont zu bewegen, in dem wir das, was uns vorher als die 4 Taylor 1985, S. 189ff. 5 Taylor 1992a, S. 52 - 118, S. 307 (Nachwort: A. Honneth) 6 ebd., S. 57 7 Taylor 1993b, S. 112ff. 8 Taylor 1992a, S. 67f. 9 ebd., S. 68 5 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus selbstverständliche Koordinaten unserer Urteile erschien, nun als mögliche Koordinaten neben denen der uns bislang nicht vertrauten Kultur wahrzunehmen vermögen. Die ‚Horizontverschmelzung‘ wird wirksam, indem wir ein neues Vergleichsvokabular entwickeln, mit dessen Hilfe wir solche Gegensätze artikulieren können.“10 In seinem Essay „Atomism“11 (siehe 1.2.) wendet Taylor seinen holistischen Ansatz auf die politische Theorie an. In Auseinandersetzung mit der primacy-of-rights-Theorie begründet er die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zusammenhangs für einen demokratischen Rechtsstaat. Nur ein Gemeinwesen mit bestimmten demokratischen Institutionen könne libe- rale Bürgerrechte dauerhaft ermöglichen. Fehle ein solcher Gemeinschaftszusammenhang, so würde zunächst die Möglichkeit zur reellen Ausübung und später wahrscheinlich auch die Existenz der Rechte als solche verloren gehen. Seine holistische Grundposition steht somit wohl dem „philosophischen Kommunitarismus“ am nächsten, dessen Kern Beierwaltes in der „Kritik an der mangelnden Beachtung gemein- schaftlicher Kontexte in der politischen Philosophie des Liberalismus“12 ausmacht. Entgegen der durch die Begriffe „Liberale“ und „Kommunitaristen“ suggerierten Kongruenz der Antworten auf die ontologische Frage und die Frage der Parteinahme gibt es laut Taylor vier mögliche Kombinationen, von denen er die Position eines holistischen Individualismus in der Tradition Mills und Humboldts für sich in Anspruch nimmt13. Eine Argumentation wie die seine, die auf dem situierten Selbst basiere, müsse aber nicht zwangsläufig ein Votum für eine kollektivistische Gesellschaftsform nach sich ziehen. Vor allem aus diesen Gründen nimmt Taylor die Bezeichnung „Kommunitarist“ für sich nicht an. Dadurch, daß Taylor hier eine scharfe Trennungslinie zwischen Ontologie und politischer Parteinahme zieht, entkommt er einem zentralen Dilemma kommunitaristischer Liberalismuskritik, die zum einen „...eine Kritik an der politischen Praxis des Liberalismus, zum anderen eine Kritik an dem deontologisch begründeten liberalen Menschenbild [ist]. Diese beiden Kritiken sind insofern unvereinbar, als in der ersten Kritik die Möglichkeit einer real individualisierten Gesellschaft angenommen wird, der man politisch entgegentreten müsse. Die zweite kommunitaristische Kritik aber unterstellt, das liberale Menschenbild sei nur ein Idealtypus und in der Wirklichkeit nicht vorfindbar.“14 10 Taylor 1993a, S. 63f. 11 Taylor 1985 12 Beierwaltes 1995, S. 24 13 Taylor 1993b, S. 103ff. 14 Matjan 1995, S. 189 6 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus 1.2. Kerngedanke: obligation to belong versus primacy of right Taylors Philosophie ist im Unterschied zu Etzionis Familien- und Nachbarschafts- kommunitarismus15 primär darum bemüht, allgemein den wesentlich umfassenderen Gemein- schaftszusammenhang der Nation bzw. der civilization aufrechtzuerhalten. Sein Beitrag zur Kommunitarismusdebatte dient - und damit akzentuiert er sein Plädoyer merklich anders als Etzioni - dazu, entgegen der heute dominanten atomistischen Betrachtungsweise16 die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit kollektiver Zusammenschlüsse im allgemeinen jenseits des individuellen Nutzens zu begründen. Dabei ist Taylors Verdienst weniger in der erstmaligen „Entdeckung“ der Gemeinschaft als in ihrer Verteidigung bzw. Wiederbegründung im Sinne einer Wiederlegitimierung zu sehen. Taylors Auseinandersetzung mit den Vertretern der primacy-of-rights-These konzentriert sich über weite Strecken auf die ontologischen Prämissen dieser Theorie, die er im Atomismus identifiziert. Kern der Theorie ist das Postulat, der Mensch besitze als Individuum Rechte; eine gleichrangige Pflicht zur Gemeinschaftlichkeit, eine „Verpflichtung, dazuzugehören“17 (obligation to belong) gebe es nicht. Ausgangspunkt seiner Erörterung ist die Argumentation gegen die Überzeugung vieler primacy-of-rights-Exponenten, ihre Theorie könne auf ontologische Prämissen verzichten. An einem einfachen Beispiel veranschaulicht Taylor die atomistische Sicht der Natur des Menschen, der Mensch sei self-sufficient. Diese dürfe nicht in einem vulgären Sinne mißverstanden werden, daß ein Mensch in der Wildnis, im Urwald (also in der radikalatomis- tischen „Fabel über einen Naturzustand“, die „niemand glauben kann“18) allein überleben würde - mit einer solchen Darstellung des Atomismus mache man es sich zu einfach. Vielmehr sei der eigentliche Kern der atomistischen Auffassung, daß ein Mensch jenseits eines gesell- schaftlichen Zusammenhangs von Geburt an bestimmte, bereits voll entwickelte Eigen- schaften und Fähigkeiten (capacities) sowie diese gewährleistende Rechte besitze. Im Gegensatz dazu gehen die Vertreter eines „social animal“ Mensch davon aus, daß ein gemeinschaftlicher Zusammenhang eine für eine würdige menschliche Existenz notwendige Bedingung sei. Nicht nur das bloße physische Überleben, sondern vielmehr die volle Entfaltung der zur menschlichen Existenz zählenden capacities erfordere diesen Zu- sammenschluß. Zunächst erschließt Taylor die Bedingungen der Entstehung bzw. Anerkennung von Rechten. Dazu gehört, daß der (potentielle) Inhaber (bearer) der Rechte eine besondere Anerkennung 15 Etzioni 1995, S. 63ff. 16 s. Anm. 4 17 Übersetzung von Reese-Schäfer 1995, S. 30 18 Taylor 1992a, S. 168 7 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus (respect) verdient, d.h. er besitzt „a special moral status“19, der ihn von anderen Wesen unterscheidet; ferner, daß er seine Wesenheit voll ausleben und entfalten können müsse. Die capacities, die zu dieser anerkennungswürdigen Wesenheit gehören, müssen durch Rechte geschützt werden. Diese beinhalten jedoch nicht nur das Verbot für andere, die Ausübung jener Fähigkeiten zu beeinträchtigen, sondern vielmehr auch den Anspruch auf ihre Entwicklung, Förderung und Vervollkommnung. Damit verbunden ist die Überzeugung (X), daß es gut und geboten ist, zur weiteren Entfaltung der genuin menschlichen capacities beizutragen. Eine von libertären primacy-of-rights-Exponenten vertretene Auffassung des menschlichen Lebens, die dem Recht auf freie Wahl des Lebensstils Priorität einräumt, lehnt jede Bewertung der Entscheidungen von Individuen grundsätzlich ab. Diese Ansicht kollidiert mit Taylors holistischer Auffassung - daß die Entscheidungsfähigkeit nicht „fertig“ gegeben, sondern ein unablässig weiterzuentwickelndes Potential ist -, da Entscheidungen eines Menschen demnach sehr wohl als besser oder schlechter beurteilt werden können: So könnten sie die Gesellschaft zerstören; ist diese jedoch zur Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten notwendig, so würde damit a) nachfolgenden Generationen die Grundlage ihres Rechtes ge-nommen, Freiheit in voller Autonomie auszuüben und b) die weitere volle Ausübung der eigenen Freiheit infragegestellt - womit die Forderung (X), zur Fortentwicklung und Fortbestand der rechtlich geschützten Fähigkeiten beizutragen, ad absurdum geführt würde. Es läge eine schlechte Entscheidung vor, denn „wir müssen nicht nur diejenigen Praktiken und Institutionen verteidigen, die die Freiheit sichern, sondern auch diejenigen, die das Verständnis der Freiheit aufrechterhalten.“20 Diesem Dilemma ist nur zu entkommen, wenn - atomistisch - angenommen wird, daß die menschlichen capacities bereits bei der Geburt voll ausgebildet sind. Falls aber der Beweis für Taylors holistischen Ansatz erbracht werden kann, daß die Entwicklung der menschlichen capacities erst und nur durch einen gemeinschaftlichen Zusammenhang ermöglicht wird, wäre die soziale These als Voraussetzung für die Zuerkennung von Rechten bewiesen, die atomistische These widerlegt. Und wenn die Gesellschaft, wenn die obligation for belong für die Ausübung der Rechte unverzichtbar ist, ist das primacy of right nicht zu halten. In einer besonderen theoretischen Situation könnte allerdings auf dem primacy of right beharrt werden: Beschränkt sich der Kanon der Rechte - wie Taylor es dem „monster of consistency“21 Hobbes zuschreibt - auf eine sehr primitive Form des Rechts auf Leben, die 19 Taylor 1985, S. 193 20 Taylor 1992a, S. 176 (Hervorhebungen durch Taylor) 21 Taylor 1985, S. 201 8 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus im Kern nur noch die körperliche Unversehrtheit umfaßt, so wäre keine weitere Entwicklung zur Ausübung dieses Rechtes nötig. Ein dermaßen reduzierter Grundrechtskatalog wird jedoch nach Taylors Einschätzung auch von den Vertretern des primacy of right nicht gewünscht. Dieser atomistische Ausweg muß also (für letztere) ausfallen. Kann also nur eine Gesellschaft die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten ermöglichen? Ist nicht auch eine einzelne Familie dazu in der Lage? „The thesis ist that the identity of the autonomous, self-determing individual requires a social matrix.22 Taylor argumentiert hier, indem er auf die Bedingungen einer echten Ausübung der zu einer vollen Entfaltung der Menschen gehörenden Entscheidungsautonomie verweist. Um wirkliche Entscheidungen (choices) treffen zu können, müßten erst einmal Alternativen bekannt sein. Alternativen könnte nur die öffentliche Debatte zur Verfügung stellen; diese benötigt jedoch mehr als ein isoliertes Individuum und auch mehr, als eine Familie bereitstellt: ...museums, symphony orchestras, universities, laboratories, political parties, law courts, representative assemblies, newspapers, publishing houses, television, stations, and so on.“23 Fraglich bleibt nun nur noch, ob es eines institutionalisierten politischen Systems bedarf oder ob auch eine anarchistische „Gesellschaft“ die öffentliche Debatte sicherstellen könnte. Taylor sieht durch die historische Erfahrung belegt, daß der Wert der Freiheit durch bestimmte Institutionen gesichert werden muß, da sie beispielsweise in dem Fall „mit der Zeit... [verlorenginge], wenn die Bedingungen, die sie aufrechterhalten, unterdrückt würden“24 - ein Fall, gegen den die Anarchie keinen sicheren Schutz biete. Zudem sei die Ausübung der Volkssouveränität in einer Demokratie ein wesentlicher Bestandteil der individuellen menschlichen Entscheidungsautonomie; mehr noch: viele Ent- scheidungsmöglichkeiten werden erst durch den Rahmen eines politischen Systems ge- schaffen. In diesem Sinne ist das politische System also keine Einschränkung der persönlichen Freiheit, sondern eine Erweiterung. 22 ebd., S. 209 23 ebd., S. 209 24 Taylor 1992a, S. 175 9 Charles Taylor, Amitai Etzioni - Philosophischer und Praktischer Kommunitarismus 1.3. Demokratie: Der Staatsbürger als bourgeois und citoyen Taylors Denken ist stark der nationalstaatlichen Ebene verpflichtet. Die Begründung von Patriotismus25 ist ein zentrales Thema seiner Philosophie: Was schafft den Zusammenhalt der Bürger in einem Staat? Wie läßt sich Solidarität auch ohne persönliche Kenntnis der Mitbürger herstellen? Taylor sieht hier im Patriotismus die „kleinen, überschaubare Gemeinschaften“ Amitai Etzionis überschreitende Bindungspotentiale. Ihmzufolge ist der Patriotismus die notwendige Bürgertugend, die ein Gemeinwesen in Form eines Staates zusammenhält, auch ohne sich daß dessen Mitglieder alle persönlich kennen und schätzen müssen; vielmehr ist Patriotismus gerade dadurch gekennzeichnet, daß die allermeisten Staatsangehörigen gegenseitig anonym bleiben und trotzdem jenseits individuell entstandener Zuneigung eine gemeinsame Bindung und Verantwortung entwickeln26. Zwar räumt auch Taylor einer Dezentralisierung politischer Entscheidungsbefugnisse27 und damit einer Verlagerung von Kompetenzen auf regionale bzw. kommunale Ebenen hohe Priorität für ein funktionierendes demokratisches Staatswesen ein und kommt damit Etzionis Kleingruppen etwas entgegen. Zentrale Legitimationsgrundlage verbindlicher politischer Entscheidungsfindung ist für ihn jedoch der staatsweite Patriotismus, eine Einstellung, die er sowohl von der egoistischen Nutzenverfolgung als auch von altru- istischer Selbstaufgabe unterschieden wissen will28: Er ist vielmehr Ausdruck der persönlichen Aneignung, der Inkorporation des Gemeinwesens in die Identität jedes Bürgers. Oder, wie Etzioni es nun übereinstimmend allgemein für Gemeinschaften formuliert: „Diese Gemeinschaft wird von ihnen als die ihre empfunden, als ein ‚Wir‘, und nicht so sehr als ein aufgezwungenes, ihre Freiheit einschränkendes ‚die anderen‘.“29 Was macht jedoch den patriotischen Stolz aus, das „unmittelbar gemeinsame Gut“30, das einen Bürger dazu motivieren soll, sein demokratisches Gemeinwesen, seine Prinzipien und Institutionen zu tragen, zu verteidigen und dafür Opfer zu bringen bis hin zur Bereitschaft, „für es zu sterben“?31 Den Wert formaler Gerechtigkeit, bloßer rechtlicher Gleichbehandlung der Bürger hält Taylor für eine nicht ausreichende Motivation für bürgerschaftliches Engagement. Eine solche „Ethik des Gerechten“32, wie sie der prozeduralistische Liberalismus vertritt, ist nicht dazu geeignet, ausreichende und vor allem dauerhafte Unterstützung unabhängig vom individuellen Nutzen 25 Taylor 1992b, S. 5 - 20 26 Taylor 1993b, S. 111 27 Taylor 1992b, S. 17 28 Taylor 1993b, S. 111 29 Etzioni 1996a, S. 12 30 Taylor 1993b, S. 114 31 Taylor 1992b, S. 9 32 Taylor 1993b, S. 109 10
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