Brücken, Busse, Autos und andere Verkehrsteilnehmer Zur Repräsentation und Wirkung städtischer Artefakte Technik und Gesellschaft, Jahrbuch Bd. 10, hrsg. von Gert Schmidt, 1999, 197-218 Bernward Joerges Der New Yorker Stadtbaumeister, Verkehrs- und Regionalplaner Robert Moses soll in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts Armen und Schwarzen, die auf Autobusse angewiesenen waren, durch die Errichtung einer Serie von niedrigen Brücken über die Parkways nach Long Island den Zugang zu den Stränden von Jones Beach verwehrt haben. Eigenmächtig und undemokratisch soll er zugunsten einer automobilen weißen Mittel- und Oberklasse unerwünschte Bevölkerungsgruppen erfolgreich von der Nut- zung öffentlicher Räume ausgesperrt haben. In einem vielzitierten Aufsatz – „Do Artifacts Have Politics?“ – hat der amerikanische Techniksoziologe Langdon Winner diese Segregationsge- schichte popularisiert. Moses, kann man bei Winner lesen, war ein klassen- und rassenbewusster Angehöriger der Oberschicht, der seine Vorurteile konsequent in seine Projekte eingebaut hat. Durch das geschickte und skru- pellose Design eines Systems von Anschluss- und Ausschlussbeziehungen zwischen Verkehrsanlagen, Verkehrswegen und Verkehrsmitteln habe er die sozialen Ungleichheiten New Yorks verschärft und verewigt. Winner ver- allgemeinert das Beispiel dann zu der These, man könne durch den Einbau sozialer Ungleichheiten in materiale technische Artefakte gesellschaftliche Verhältnisse „ohne weiteres Zutun“ ihrer Designer auf Dauer stellen.1 Da- mit ist der Zusammenhang zur ehrwürdigen und im Zuge der „Global Ci- ties“-Debatte erneut aktuellen Thematik der „geteilten Stadt“ hergestellt: kann die Planung des physischen Verkehrs Segregation in den Metropolen schaffen oder verhindern? Die Episode von den niedrigen Brücken zur Aussperrung des öffentli- 1 Winner 1980. 1 chen Nahverkehrs ist in der Stadt- und Technikforschung über Jahrzehnte wie eine fromme Parabel weitererzählt worden. Im Dienst planerischer Posi- tionen, die den Akzent auf die Kontrollierbarkeit sozialer Prozesse durch geeignete baulich-technische Vorgaben legen, gewann das Brückengleichnis eine eigenartige Überzeugungskraft.2 Es wird im Folgenden den Anlass lie- fern für Überlegungen zum Zusammenhang von Repräsentationen und Wir- kungen städtischer Artefakte wie sie in Design- und anderen Theorien städ- tischer Ordnung verhandelt werden. Brücken, Busse, Autos im New York der 20er Jahre Robert Moses war der Haussman von New York. Er hat die Gestalt dieser Ultrametropole im 20. Jahrhundert und darüber hinaus maßgeblich mitbe- stimmt. Zwischen 1913 und 1968 diente er vielen New York City Bürger- meistern und New York State Gouverneuren. 1981 starb er vereinsamt und verbittert in New York.3 Das New York des Robert Moses ist in vielen kritischen Arbeiten be- schrieben worden.4 Symbolisch karirikiert in der Episode von den niedrigen 2 Für eine eingehende Rekonstruktion der interessanten Karriere, die Winners Version der Moses-Geschichte in der Stadt- und Technikforschung durchlaufen hat, und für ei- ne alternative Interpretation siehe Joerges (1999a). 3 Die Moses-Geschichte spielt im anglo-amerikanischen Kulturkreis; aber manchmal er- kennt man sich beim kulturellen Nachbarn nicht weniger gut als Zuhause. Zwar hat Robert Moses nicht in Berlin gebaut, es hätte aber durchaus passieren können: 1945 soll der damalige Gouverneur der amerikanischen Besatzungstruppen General Julius Clay ihn gebeten haben, ein Planwerk für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt zu entwerfen. Soweit kam es nicht, aber die beratenden Planer und Ingenieure um Moses haben, im Zuge des Highway-Booms nach dem zweiten Weltkrieg, Chicago und viele andere amerikanische Großstädte, die später den Neuaufbau West-Berlins beflügelt ha- ben, autogerecht zugerichtet. Erwähnt sei auch, dass Moses, 1888 als Sohn wohlhaben- der deutsch-jüdischer Einwanderer in New Haven geboren, 1910 ein Semester an der damaligen Kaiser-Wilhelm-Universität studiert hat, bevor er in Cambridge eine Arbeit über den britischen Civil Service anfertigte und damit an der Columbia Universität promovierte. 4 Vgl. zum Beispiel Berman (1983), Jacobs (1961), Lewis (1980) und vor allem Caro (1974). 2 Brücken, ist Moses dabei als Repräsentant einer gigantomanischen, zerstö- rerischen und inhumanen Verkehrs- und Wohnungspolitik in die Stadtbau- geschichte eingegangen. Hier soll nur interessieren, welche Rolle er in der Erschließung von Long Island gespielt hat und was es mit den kleinen und grossen Brücken des Robert Moses auf sich hat. Mitte der zwanziger Jahren des Jahrhunderts begann Moses als Park Commissioner von New York damit, weite Teile der vorgelagerten Halbin- sel Long Island in Erholungsgebiete für eine wachsende Bevölkerung zu verwandeln. Ähnlich wie Frank Lloyd Wright war er schon damals der Ü- berzeugung, dass in naher Zukunft jeder Amerikaner über ein Auto verfügen würde. Der vor allem von seinem Biographen Robert Caro penibel doku- mentierte Einfluss des Planers und Managers Moses hat ihm den Ruf einge- tragen, er sei mit Long Islands „Räuberbaronen“ – Großgrundbesitzern, die sich im Einvernehmen mit Politikern an der Erschließung bereicherten - al- lerlei unheilige Allianzen eingegangen und habe das Gebiet effektiv für die begüterte weisse Oberschicht reserviert. Auf Caro geht dann auch die These zurück, Moses habe die selbstherrliche Anweisung gegeben, die Parkways durch Long Island mit insgesamt 204 Überquerungsbrücken für Fussgänger und Fahrzeuge im Kreuzungsverkehr so niedrig bauen lassen, dass der öf- fentlichen Busverkehr und damit selektiv bestimmte Nutzergruppen ausge- schlossen werden konnten. Long Island war damals allerdings verkehrsmässig schon recht gut er- schlossen, durch eine Eisenbahnlinie und durch zahlreiche Strassen parallel und quer zu den Parkways: die Parkways waren als elongierte Parks ge- dacht. Busse und Laster waren im Übrigen zu der Zeit von allen Parkways in den USA ausgeschlossen, und bleiben es auf den New Yorker Parkways bis heute.5 In der neueren Mosesforschung werden Moses rassistische Tendenzen 5 Das bedeutet nicht, dass sich alle Verkehrsteilnehmer daran halten. Schon Caro berich- tet, bisweilen hätten Busse versucht, unter einer der Moses-Brücken durchzukommen, mit dem Ergebnis, dass sie wie eine geöffnete Sardinenbüchse aus dem Duell heraus- kamen... (Caro 1974, S. 938). Einer meiner Korrespondenten, Boijdar Yanev (u.a. für die Rekonstruktion der Moses'schen Brücken zuständiger Ingenieur beim City of New York Department of Transportation) berichtet: „Gegenwärtig nähern die Brücken über den Belt sich dem Zeitpunkt ihrer Erneuerung. Wann immer es möglich ist, legen wir die Brückendurchfahrten höher (und machen den Weg frei für Kollisionen mit die je- weils nächsten Brücke auf dem Parkway)“ (persönliche Mitteilung). 3 nicht angelastet, eher unnachgiebige meritokratische Prinzipien. Seine Rolle in der Umgestaltung New Yorks wird überwiegend positiv gesehen, zumal was die Entwicklung Long Islands angeht.6 Eine neue Generation von Stadthistorikern mag in ihm nicht mehr den „Killer von New York“ und „Graf Dracula der Stadtplanung“7 sehen, der zu einem Inbegriff all dessen geworden ist, was in der baulichen Entwicklung New Yorks bis weit in die 60er Jahre schief gelaufen ist. Moses, obwohl zweifellos ein ingeniöser und mitleidloser „öffentlicher Unternehmer“, war ebenso sehr ein Vollstrecker des Planwerks der Regional Plan Association (RPA) und der hinter ihr ste- henden Wirtschaftsinteressen: „so ungefähr jeder Highway und jede Brücke, die Robert Moses gutgeschrieben werden, ist von der RPA ausgedacht und geplant worden. Moses hat nur den Beton auf die gepunkteten Linien ge- schüttet, die der Plan vorgab.“8 Ähnliches gilt für den Zugverkehr: Moses war ein Brückenfanatiker und mochte Tunnels, die als Mittel der Wahl für den Zugverkehr galten, nicht. Aber die eindeutige Politik, die Eisenbahn weitgehend zurückzudrängen oder gar abzuschaffen, war eine nationale Po- litik, die sich dann auf der Ebene der Kommunen verheerend niederschlug.9 Und schließlich: Moses war, in mancher Beziehung, ein früher Umwelt- schützer und stadtverliebter Naturästhet, der auf Long Island eine Vision davon durchzusetzen versuchte, wie man die Automobilisierung der ameri- kanischen Mittelklasse (und das heißt: der amerikanischen Klasse) mit der Rettung der Allmende vor Industrialisierung und Kommerzialisierung ver- binden könnte.10 Er schuf mit seinen Parkways und Erholungsgebieten die Umwelten für die automobile Gesellschaft und für was sie stand. Er erfand und implementierte Standards für beides: für die autogerechte Metropole und ihr augenscheinliches Gegenteil, für Natur. Er sah beide als zusammen- gehörig, er setzte sie zusammen. Insofern verweisen die niedrigen Brücken 6 Siehe dazu vor allem Krieg 1989. 7 So noch Jason Epstein, Verleger von Random House, in einer Besprechung des von dem New York-Historiker Kenneth Jackson 1995 herausgegebenen Standard-Werks „Metropolitan Life: The Encyclopedia of New York“. 8 So Robert Fitch in seinem Buch The Assassination of New York (1996, S. 59. 9 Boijdar Yanev berichtet, dass Moses das untere Deck der von ihm geplanten George Washington Brücke als Eisenbahnbrücke ausgelegt hatte. Das konnte er nicht durchset- zen, heute verlaufen dort, wie auf allen seinen grossen Brücken, sechs Autospuren (persönliche Mitteilung). 10 Vgl. dazu Black 1989. 4 des Robert Moses auf eine charakteristisch amerikanische Version des Pro- gramms der Verbesserung und Verschönerung der Riesenstadt durch Zubau ihrer naturnahen Umwelt.11 Sie repräsentieren, so gesehen, die progressive Variante eines nationalen Park-Code, Teil der Hauptströmung der amerika- nischen Kultur, den Moses in die Produktion einer neu-alten Natur für eine neue Metropolen-Kultur zu übersetzen suchte.12 Die soziale Basis dieser Politik war zweifach: reformistische, liberal- paternalistische Eliten auf der Angebotsseite, aufwärtsmobile, automobile Mittelklassen auf der Nachfrageseite. Aufwärts in den neuen Automobilen, der Inkarnation des amerikanischen Traums von Massenproduktion, Mas- senkonsum, Massenkultur. Und „Massen“ ist hier immer auch als Demokra- tie zu lesen. In einem verdrehten Sinn haben Langdon Winner und andere Designtheoretiker hier durchaus einen Punkt, wenn sie in den Techniken der Zeit politische Handlungsprogramme suchen. Allerdings: Moses hätte seine Brücken kaum höher bauen können, auch wenn er das gewollt hätte.13 Die Reinhaltung der weißen Strände von Long Island auf Moses' niedrige Brücken zurückzuführen, ist somit unplausibel. Busse konnten auf zahlrei- chen anderen Strassen zu den Stränden gelangen, und dennoch konnte man keine Schwarzen auf Jones Beach finden. Selbst heute, wo Schwarze nicht anders als Weiße Autos fahren und kein Politiker versucht, sie von Jones Beach fernzuhalten, trifft man dort kaum arme Schwarze. Auch hat Moses das, was mit seinen Parkways samt niedrigen Brücken angestrebt war, nicht herbeibauen und das, was damit verhindert werden sollte, nicht aufhalten 11 Am Rande vermerkt: Keine der Brücken gleicht der anderen, jede ist sorgfältig in die landschaftliche Umgebung eingepasst. Standardisierte Unikate gewissermaßen. Als ha- be er seinen Kritikern in Sachen rassistische Brücken etwas zu denken geben wollen, hat Moses bei einigen Brücken auch die linke Spur bustauglich ausgelegt, während die rechte tatsächlich niedriger hängt (oder umgekehrt). 12 Er stand dabei für eine von mindestens zwei Schulen des Nationalen Park- und Park- waybaus, nämlich für eine pro-urbane, innovative, aufwendige Konzeption, die sich modernen Produktions- und Regulationsverfahren öffnete, im Gegensatz zu einer eher lokalistisch-folkloristischen, anti-urbanen Auffassung. Zur nationalen Naturpolitik der USA vgl. die glänzende Arbeit von Simon Schama, Landschaft und Erinnerung (1995/96). 13 Heute werden die niedrigen Brücken sukzessive höher gelegt, allerdings äusserst zöger- lich, weil sie dann gesetzlich vorgeschrieben aber zu für die Stadt unvertretbaren Kos- ten behinderten- und rollstuhlfähig ausgelegt werden müssen (persönliche Mitteilung B. Janev). 5 können. Die Moses-Begebenheit eignet sich nicht besonders gut zur Illustra- tion von Design-Theorien urbaner Ordnung. Nun hat Moses nicht nur kleine Brücken gebaut, sondern auch die meis- ten der gigantischen Brücken, die Manhattan mit den anderen New Yorker Stadtteilen und dem Rest des Landes verbinden. Allen voran die stolze Ver- razano Brücke und das Riesenprojekt der Triborough Brücke – eigentlich vier durch ein verschlungenes Geflecht von Zugangsstrassen verbundene Brücken, die ihm damals buchstäblich gehört haben. Mit den Mautgebühren und einem revolvierenden System von Krediten finanzierte er einen Gutteil seines New York-Umbaus und entzog sich so effektiv der Kontrolle durch gewählte Repräsentanten der Stadt und ihre Bürger. Moses' grosse Brücken hätten besser getaugt für eine „symbolische Karikatur“ der Idee, die Riesen- stadt mit einer von ihm erfundenen Stadtnatur, inklusive der Parkways und ihrer niedrigen Brücken, zu verbinden.14 Die Geschichte von den Brücken, Bussen und Automobilen des Robert Moses soll nun zur Diskussion einiger Fragen genutzt werden, die es alle mit dem Verhältnis von Repräsentation und Wirkung zu tun, einmal in der wissenschaftlichen Rede über Brücken, Automobile und andere baulich- technische Gegebenheiten, zum anderen in der außerwissenschaftlichen Re- alität. Die Brücken-Parabel und ihre Rezeption ist nicht zuletzt deshalb so instruktiv, weil sie das Augenmerk darauf lenkt, wie diese beiden Aspekte miteinander verschränkt sind. Sie regt zu der Frage an, wie die wissen- schaftliche Expertise von der Stadt in die Stadt kommt. Anders gesagt, stadt- und verkehrswissenschaftliche Repräsentationen können durchaus Wirkungen auf die Praxis des Umbaus der Städte haben, die man in diesen Repräsentationen mitbedenken muss. Um mit Bourdieu zu sprechen: "Die Sozialwissenschaft muss in die Theorie der sozialen Welt eine Theorie jenes Theorie- Effekts hineinnehmen, der über die Durchsetzung einer mehr oder weniger autorisierten Vorstellung von der sozialen Welt die Gestaltung der Realität eben dieser Welt beein- flusst."15 Die Theorieeffekte in der „Wirklichkeit der sozialen Welt“, die zu reflektie- 14 Michael Ignatieff hat jene klassische Parabel von den sozialen Effekten einer Bautech- nik - Jeremy Benthams Panoptikum-Gefängnis - als eine „symbolische Karikatur vieler charakteristischer Züge der Denkweise seiner Epoche“ bezeichnet (1989, zitiert nach Crowther 1996, S. 5). 15 Bourdieu 1982/1990, S. 72. 6 ren Bourdieu hier von Sozialwissenschaftlern fordert, treffen dort auf aller- lei alltagsweltliche und professionelle Repräsentationen und Praktiken des Umgangs mit städtischem Räumen. Umgekehrt sind stadtwissenschaftliche Repräsentationen, über ihren empirischen Gehalt hinaus (der die Analyse alltagsweltlicher und professioneller Repräsentationen/Praktiken einschlie- ßen muss) stets inspiriert durch Bilder der Stadt, die in ausserwissenschaft- lichen Medien erzeugt werden. Dazu gehören Presse und TV ebenso wie li- terarische Stadtfiktionen.16 Dazu gehören aber vor allem auch die „Lein- wandstädte“, die in jenem Medium erzählt werden, das als quintessentiell modern und städtisch gilt.17 Erst dieses Wechselverhältnis von Theorieeffek- ten in der Welt und Welteffekten in der Theorie konstituiert ja das Feld, in dem sich die Politik wissenschaftlicher Expertise abspielt. Kontrolle versus Kontingenz: Zwischen Panoptikum und Babel- turm Moses' niedrige Brücken samt Bussen und Automobilen repräsentieren seit Langdon Winner in der Stadt- und Techniksoziologie die traditionsreiche These von der „Macht der Sachen über uns“ und den Versuch, diese These design-theoretisch umzumünzen. Die Brücken-Geschichte exemplifiziert solche Theorien schlecht, und man wird regelmäßig feststellen, dass ähnlich stilisierte empirische Belege für soziale Kontrolle via Bauen und Technik bei genauerem Hinsehen wenig überzeugen. Wie kann man Winners De- 16 Man denke grosse Stadt-Romane von Dickens über, Zola, Pushkin, Döblin bis Dos Passos; vgl. dazu zum Beispiel Klotz 1969. 17 Man denke an Stadt-Filme von Fritz Langs Metropolis (1927) bis Ridley Scotts Blade Runner (1981). Blade Runner ist der urbanistischen Literatur vermutlich häufiger er- wähnt worden als jeder andere Film; sein Einfluss auf stadt- und planungstheoretische Überlegungen wäre einen eigenen Exkurs wert (vgl. z.B. Garreau 1992, Denzin 1992, Wilson 1993, Davis 1990/1994). Der Film illustriert bildmächtig eine Urmetapher der soziologischen und ökonomischen Metropolenforschung: die von der „geteilten Stadt“ („dual city“, „divided city“). Und die Vorstellung, es gäbe eine ursächliche Verknüp- fung von mehr oder weniger radikaler Segregation und physischer Verkehrsführung/- planung nimmt in der Literatur zur geteilten Stadt einen zentralen Platz ein (vgl. z.B. Mollenkopf/Castells 1994, Fainstein/Gordon/Harloe 1992, Sassen 1992). 7 sign-Theorie urbaner Entwicklung und ähnliche Ansätze im weiten Feld so- zialwissenschaftlicher Grossdiskurse einordnen? Winner hat Robert Moses zu einem Sündenbock für die Stadtpolitik der urbanen Gesellschaft der USA seiner Zeit gemacht. Es wäre wenig sinnvoll, ihn deshalb zum Sündenbock für die kulturelle Struktur eines mächtigen sozialwissenschaftlichen Diskur- ses in der Stadt- und Techniksoziologie zu erklären, der auf Macht, Kontrol- le und Steuerbarkeit abhebt. Um Winners Programm in Perspektive zu setzen, bedürfte es einer aus- führliche Analyse der Gründe für die Macht von Kontrolltheorien und der ideologischen Rolle, die solche Theorien für die Rechtfertigung der Praxis zahlreicher Professionen spielen. Das würde über den Rahmen dieses Bei- trags weit hinausgehen, deshalb, in ganz und gar heroischer Vereinfachung, hier zur soviel: In den Stadt- und Technikwissenschaften kann man, ebenso wie in anderen sozialwissenschaftlichen Feldern, zwei nicht leicht zu ver- einbarende Grossdiskurse unterscheiden. In beiden findet man dann über- dies sowohl realistische, wie konstruktivistisch-relativistische Varianten. Auf der einen Seite stehen Ansätze, die man kontrolltheoretisch nennen kann. Die „Ordnung der Stadt“ wird hier im Rahmen von Theorien geplan- ten Wandels verhandelt: soziale Ordnung und Unordnung ist das Resultat intentionalen Handelns. Der Rest wird unter „unbeabsichtigte Nebenfolgen“ des Handelns abgebucht. Die grossen Vorbilder: klassische politische Theo- rie, Institutionenlehre, frühe kybernetische Theorien. Städte werden in die- ser Perspektive (zumindest auch) als Produkt bestimmter Regime präsen- tiert, sie sind Ergebnis planvollen Handelns. Auf der anderen Seite findet man Ansätze, in denen die Ordnung der Stadt eher kontingenztheoretisch behandelt wird: soziale Ordnung und Un- ordnung erscheint als Resultat der Verknüpfung von Handlungsfolgen der vielen kleinen, durchaus intentionalen, aber im Prinzip blinden, keinem ü- bergeordneten Plan folgenden Anpassungsleistungen sozialer Akteure. Die grossen Vorbilder: Evolutionstheorie, Chaostheorie, Theorien der Selbstor- ganisation. Hier werden Städte als höchst kontingente Prozesse vorgestellt, die planen und steuern zu wollen unrealistisch wäre. „Sie organisieren sich selbst“, heisst das dann oft wohlklingend. In seinen augenscheinlich entgegengesetzten Spielarten von Herrschafts- theorie und Planungstheorie hat der kontrolltheoretische Grossdiskurs in den 1960/70er Jahren Konjunktur gehabt. Richard Rorty ist kürzlich mit der US- amerikanischen Variante dieses Diskurses scharf ins Gericht gegangen. Er 8 wirft den linken Intellektuellen Flucht in theoretische Abstraktionen und Unfähigkeit zu praktischer Politik vor (konkret: der Aushandlung gesetzli- cher Regeln, oder starker Autorisierungen, wie ich unten sagen werde). Die amerikanische Linke, so Rorty, habe dem Traum nachgehangen, alle von Kapitalisten und ihren Knechten verhängten Übel seien durch die Partizipa- tion betroffener Teilgruppen am politischen Prozess zu heilen.18 Der Theoretiker Winner ordnet sich diesem Diskurs ebenso ein, wie einer der schärfsten und in der Urbanistik einflussreichsten Kritiker von Moses, Lewis Mumford. Auf der spirituellen Landkarte der Vereinigten Staaten von Amerika stehen sie, höchst vereinfacht gesprochen, einem demokratischen Kult der Opfer des Systems nahe. Moses dagegen war nicht nur Republikaner (und bewarb sich 1934 an einem kritischen Punkt seiner Karriere als „Killer von New York“, wie seine Feinde sagten, vollkommen aussichtslos um das Amt des Gouverneurs des Staates New York). Er stand auch dem spirituel- len Gegenpol nahe, einem republikanischen Kult der Selbstverantwortlich- keit für Unglück und Versagen. Moses verstand sich als Mann selbstverant- wortlicher Aktion, nicht Abstraktion. Er schleuderte seinen vielzitierten Spruch „Wer kann, baut – wer nicht kann, kritisiert“ (those who can, build - those who can’t, critisize) in die Richtung einer kritischen sozialwissen- schaftlichen Stadt- und Technikforschung, speziell an die Adresse Lewis Mumfords.19 In Benthams Panoptikum, das spätestens mit Foucault zu einem gewalti- gen Denkzeug der Gesellschaftstheorie avancierte, kann man die klassische architektonische Parabel von Kontrolltheorien des sozialen Wandels bildlich nachvollziehen. Die Eröffnungszeilen der Panopticon Letters lauten: „Reform der Moral – Erhaltung der Gesundheit - Belebung der Industrie – Verbreitung der Ausbildung – Abbau öffentlicher Lasten – Festigung der Wirtschaft, als wäre sie auf Fels gebaut – der gordische Knoten des Armenrechts entwirrt statt zerschlagen – all das durch eine simple Architektur-Idee! ... Das ist der Motor, das die Arbeit, die er leisten könnte.“20 18 Vgl. Rorty 1997. 19 Thomas und Agatha Hughes’ (ansonsten bewundernde) Darstellung Mumfords, im Zu- sammenhang mit seiner Rolle bei der von Moses betriebenen Einquartierung der Ver- einten Nationen in New York, findet hier ein seltsames Echo (1990, S. 281): „Indem er im Namen eines Organizismus Zerstörung vorschlug, offeriert Mumford einen Bulldo- zer-Urbanismus, der wenig besser ist, als der von Le Corbusier oder Robert Moses, die er doch so verachtete.“ 20 „Morals reformed - health preserved - industry invigorated - instruction diffused - pub- 9 Die Idee von einem perpetuum mobile gesellschaftlicher Kontrolle per Ar- chitektur, die Bentham beflügelt, taucht invertiert auch bei Winner und an- deren Design-Theoretikern wieder auf: man kann sozialen Formen durch den Einsatz von gebauter Technik zwingend definitive Form geben. Der kleine Unterschied natürlich: Bentham hat einen Vorschlag gemacht, der nie gebaut und erprobt worden ist. Die niedrigen Brücken indes wurden gebaut. Um ihre erstaunliche Wirkung in der Literatur zu entfalten, musste aber auch Winners story contrafaktisch - wiewohl wie aus dem Leben gegriffen - erzählt werden. (Zwei Gefängnisse, die in etwa Benthams Plänen entspra- chen, sind wohl irgendwann gebaut worden, eines davon auf Cuba. Aber es hat nicht so gut geklappt mit der Inspektion und Kontrolle: Fidel Castro hat dort seine gefeierte Rede „History will absolve me“ niedergeschrieben!21) Viele Versuche, der Wirkungsweise von gebauten Räumen, gerade auch Verkehrsräumen, über ihren Ausdrucksgehalt beizukommen, sind eher kon- tingenztheoretisch einzuordnen. Gebaute Räume werden hier als Zeichen- träger betrachtet, die denen, die sie zu lesen vermögen, etwas sagen. Räume induzieren nichts, sie indizieren etwas. Wie bei jedem Text liest jeder etwas anders, und Bauwerke wie Texte müssen und können immer wieder neu ge- lesen werden. Dabei spielen die Intentionen der Autoren – sprich der Desig- ner – manchmal durchaus eine Rolle, aber meist eine eigenartig indetermi- nierte. Welche Bedeutungen und Nutzungsformen gebauten Räumen einge- schrieben sind, darüber entscheiden zahllose andere Aktoren immer wieder neu. Sucht man nach einer paradigmatischen architektonischen Parabel für Kontingenztheorien des sozialen Wandels, dann ist das vielleicht der Turm von Babylon.22 Im Denkbild des Babelturms steht das multikulturelle Ge- babbel ungezählter Akteure für einen nichtkontrollierbaren und nicht ab- schließbaren Prozess der Verknüpfung von Handlungsfolgen. Techniktheo- retische Angebote wie die des Radikalkonstruktivisten Steve Woolgar etwa, und im Extrem alle radikal- und de-konstruktivistischen Programme, gehö- lic burthens lightened – the Economy seated, as it were upon a rock - the Gordian knot of the Poor Laws are not cut, but untied - all by a simple idea in Architecture! ... Such is the engine: such the work that may be done with it.“ (Bentham 1791/1995, S. 31). 21 Siehe dazu Crowther 1996. 22 Eine sinnige Koinzidenz: Für Moses blieb das Paradies, das Long Island für ihn war, immer verbunden mit dem kleinen Ort Babylon, in dem er zusammen mit seiner jungen Familie in den frühen 20er Jahren seinen Urlaub verbrachte... 10
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