Bilanz der Bundestagswahl 2002 Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen 2 Eckhard Jesse (Hrsg.) Bilanz der Bundestagswahl 2002 Voraussetzungen . Ergebnisse· Folgen Westdeutscher Verlag ISBN-13: 978-3-531-14172-5 e-ISBN-13: 978-3-322-80535-5 DOI: 10.1 007/978-3-322-80535-5 Herausgeber: Bayerische Landeszentrale rur politische Bildungsarbeit, München Redaktion: Dr. Peter März Umschlagentwurf: PUBLICOM advertising network, München Gesamtherstellung: J. Gotteswinter GmbH, München Vorwort Welche Bedeutung der Bundestagswahl2002 in der kunftigen Zeitgeschichtsschreibung ein mal zugemessen werden wird, ist heute offen. Zunachst jedenfalls ist man geneigt, der Bundestagswahl1998 tieftr greifende Bedeutung zuzumessen: Sie brachte das erste Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte einen vom Wahler unmittelbar an der Urne herbei gefohrten, vollstandigen Austausch von Regierungs- und Oppositiomparteien. Vier Jahre spater wurden jedenfalls zunachst die bestehenden Rollen bestatigt: Wer bislang regierte, konnte es weiterhin tun, wer bislang in der Opposition stand, musste es weiterhin tun. Auch in einem anderen Punkt schien 2002 eher nur moderate Fortsetzung, nicht Ziisur zu sein: Die Kampagne von und for Gerhard Schroder 1998 stellte den bisherigen Hohepunkt an medialen Imzenierungen in der Wahlkampfgeschichte der Bundesrepublik dar: Sie war ganz aufd as Fernsehen und aufp lebiszitare Elemente abgestimmt, wie bei der " Vorwahl" der Landtagswahl wenige Monate in Niedersachsen zuvor, die Schroder in die Rolle des Herausforderers von Bundeskanzler Helmut Kohl und damit des Kanzlerkandidaten katapultierte. Medial wirkte hingegen 2002 eher als eine Fortsetzung: Die "Kampa" der SPD, das ausgelagerte Herz und Hirn ihrer Wahlkampfamtrengung, war nun nichts Neues mehr, die Unionsparteien hielten jetzt mit eigenen Medienberatern, darunter imbesondere dem Journalisten Michael Spreng, dagegen. Allerdings zeigt die Geschichte der Bundesrepublik, dass auch Wahlen, die erst schein bar im Ergebnis nur Kontinuitiit anzeigen, bei naherem Zusehen seismografische Veranderungen erkennen lassen, die erst in spateren Entwicklungen manifest werden. Das eindrucksvollste Beispiel for diesen Befond ist wohl die Bundestagswahl 1980, die zunachst, im arithmetischen Ergebnis gegenuber der Wahl 1976 sogar gesteigert, den Fortbestand der sozialliberalen Koalition zu gewahrleisten schien. Aber die Krafte unter Bundeskanzler Helmut Schmidt waren in der Aufen- und Sicherheitspolitik (Nato-Doppelbeschluss) wie in der Finanz- und Wirtschaftspolitik tatsachlich so disparat, dass Regierung und Koalition zwei Jahre spater an ein Ende gelangten, auch und gerade, weil die disziplinierende Wirkung eines herannahenden Wahltermins nicht mehr besta nd. In welche Kontinuitat bzw. Diskontinuitat wird die Bundestagswahl2002 eingefogt sein? Ein Ergebnis ist unbestreitbar historisch: Das Verschwinden der PDS, bis aufz wei Direkt mandate, aus dem Deutschen Bundestag. 1st damit bereits aufn ationaler Ebene eine parla mentarische Kraft an ihr Ende gelangt, die for die historische Kontinuitat des Linksextremismus in Deutschland seit der Komtituierung der KPD 1918, for den Antagonismus der System auseinandersetzung aufd eutschem Boden nach 1945 und die schlieflich auch for den Ver such gestanden hatte, dieses "Erbe" in die neue Welt einer pluralen, offenen parlamentarischen Ordnung einzubringen? Auch wenn der Wahlkampfz ur Bundestagswahl2002 nicht mehr jene medialen Innovationen gebracht haben mag wie der Wahlkampf zur Bundestagswahl1998, so produzierte er doch unbestreitbar eindrucksvolles Anschauungsmaterial for die Techniken und Taktiken politischer Akteure und ihre Findigkeit gerade dann, wenn ihnen der Verlust der exekutiven Kommandohohen droht, Auswege und Improvisationen zu erschliefen, die zu neuer Mobilisierung fohren. Die Imzenierung nationale n Zusammenhalts angesichts der Flutkatastrophe im Elbe-Einzugsgebiet im August 2002, die populare, respektive populi stische Absage an eine Beteiligung der Bundesrepublik an einer Irak-Intervention der USA, unter welchen Umstanden auch immer, und schlieflich die Priisentation von neuen Rezepten zur Bekampfong der Arbeitslosigkeit, die die so genannte Hartz-Kommission 5 vorgelegt hatte - all dies zeigte, welche Findigkeit und welche Triebkrafte in einer for Amtsinhaber demoskopisch kritischen Lage notwendig und zugleich abrufbar sein konnen. Umgekehrt mussen auch Fragen an Strategie und Taktik der Opposition gestellt werden: Brachte sie stets die richtigen Themen zur richtigen Zeit oder hielt sie zulange an einem Monopol-Thema - der Situation in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt - fest? Wie erfolgreich waren ihre Medieninszenierungen? Die hier aufgeworfenen Fragen an Regie rung und Opposition weisen uber den Wahltag hinaus: Sie beriihren grundsatzliche The men wie die Instrumentalisierung von Aujen- und Sicherheitspolitik for innenpolitische Zwecke, die Bestandsfohigkeit und Planbarkeit von Kampagnen und schlie.flich das Thema, wann und wie es gelingt, so genannte weiche an die Stelle so genannter harter Themen zu setzen. Gerade im Blick aufd en Wahlkampf im Jahr 2002 wurde auch die Gewichtung von so genannten Kompetenz- wie von so genannten Sympathiewerten intemiv diskutiert. Schlie.flich bestatigte bzw. verstarkte das Wahijahr 2002 for das politische System der Bundesrepublik wichtige Befonde: zum ersten die Tatsache, dass im flderalen, im staat lichen Mehrebenensystem der Bundesrepublik Regierungschefi, die bereits amtliche Regie rungsfohigkeit bewiesen haben bzw. beweisen, besondere Chancen besitzen, in den Rang von Kanzlern bzw. Kanzlerkandidaten aufousteigen: Mit Gerhard Schroder, von 1990- 1998 Regierungschef in Niedersachsen, und Edmund Stoiber, seit 1993 Regierungschef in Bayern, standen einander zwei Akteure mit einer solchen politischen Biografie gegenuber. Das heiJt nicht, dass "reine" Bundespolitiker keine Chance auf den Einzug ins Bundes kanzleramt hatten. Aber, an dieser Erkenntnis fohrt kein weg vorbei, die Schule einer Staats kanzlei in einer Landeshauptstadt ist in jedem Faile sehr aussichtsreich. Der zweite bemer kemwerte Befond ist die geografische Fragmentierung der deutschen Wahllandschaft: Nicht nur traten die seit der ersten Bundestagswahl 1990 erkennbaren Besonderheiten in den neuen Liindern wieder hervor, die aujerordentlich niedrige Parteibindung wie die Rolle der PDS als ostdeutscher Regionalpartei. Wie selten zuvor wurde im Jahr 2002 auch ein Nord Sud-Gegensatz erkennbar. Ob er wesentlich durch die Polarisierung zwischen einem nord und einem suddeutsch-bayerischen Kanzlerkandidaten begriindet wurde, oder ob sich dahin ter tiefg reifende, politisch-strukturelle Gegematze verbergen die, wie manche historische Beo bachter meinten, bis in das 19. Jahrhundert zuriickfohren, bis in die Konfrontation von liberalem und katholischem Lager, ist eimtweilen so leicht nicht zu beantworten. Schlie.flich eroberte die CDU bereits wenige Monate nach der Bundestagswahl bei der sie insbesondere in den grojen Stadten west-und Norddeutschlands sehr ungumtig abgeschnitten hatte, die Regierungsmacht in Niedersachsen. Klar ist aber jedenfalls, dass die politische Topografie in Deutschland, wohl auch verbunden mit wachsenden Diskrepanzen in der Prosperitat der einzelnen Landesteile, ein aujerordentlich spannendes Thema geworden ist. Die Beitrage gehen auf ein Symposion der Bayerischen Landeszentrale for politische Bildungsarbeit, der Sachsischen Landeszentrale for politische Bildung und des Lehrstuhls von Prof Dr. Eckhard Jesse an der Technischen Universitat Chemnitz im Oktober 2002 zuriick. Sie bundeln - und das macht den wert dieses Bandes aus - nicht nur die tagespoli tische MomentauJnahme des Wahlausganges, sie enthalten zugleich Reflexionen, die dieses Ergebnis in die politische Verfasstheit der Republik integrieren. Gerade in diesem Sinne ist dem Band for die politische Bildung weite Verbreitung zu wunschen. Dr. Peter Marz Bayerische Landeszentrale fur politische Bildungsarbeit 6 Inhaltsverzeichnis ECKHARD JESSE Einleitung .... .... ..... ... ....... ..... ............ ............. ....................... .............. ... ... ........ 9 ECKHARD JESSE Zwei Parteiensysteme? Parteien und Paneiensystem in den alten und neuen tandem vor und nach der Bundestagswahl 2002 ............................................. , ......... ........ ..... ... ..... ... ..... .... 15 OSKAR NIEDERMAYER Wandel durch Flut und Irak-Krieg? Wahlkampfverlauf und Wahlkampfstrategien der Parteien .................................. 37 RAlNER-OLAF SCHULTZE Strukturierte Vielfalt als Wahlerentscheidung heute? Eine Analyse der Bundestagswahl vom 22. September 2002 .............................. 71 HARALD SCHOEN/JORGEN W. FALTER Wahlsieg, aber auch Wahlerauftrag? Stamm-, Wechsel- und Nichtwiihler bei der Bundestagswahl 2002 und ihre Wahlmotive ...................................................................................................... 101 ALExANDER GALLUS Wahl als »Demoskopiedemokratie"? Oberlegungen zur Meinungsforschung und zu ihren Wirkungen aus Anlass der Bundestagswahl2002 ........................................................................................ 123 ROLAND STURM Episode oder Projekt? Die rot-griine Koalition seit 1998 ...................................................................... 139 WERNER J. PATZELT (unter Mitarbeit von KARIN ALGAS INGER) Fit fUr fordemde Verantwortung? Die Zusammensetzung des 15. Deutschen Bundestages 153 UWETHAYSEN Feh1start der Regierung SchrOder II? Regierungsbildung in der Bundesrepublik Deutschland - das Beispiel 22. Sep- tember 2002 bis 14. Marz 2003 ........................................................................ 181 Autorenverzeichnis ... ... ..... ..... .............. ...... ..... .......... ........... ......... ... ....... ... ........ 220 7 ECI<HARD JESSE Einleitung Noch Stunden nach SchlieBung der WahlIokale am 22. September 2002 stand trotz ausgefeilter Hochrechnungen und schneller Auszahlungen weder die starkste Par teienformation noch die kiinftige Regierungskonstellation fest, bis schlieBlich nach nervenaufreibendem Hoffen der einen und Bangen der anderen Seite gewiss war: Rot Griin erhalt eine zweite Chance.' Danach harte es lange nicht ausgesehen. Allerdings deuteten die letzten Prognosen der Meinungsforscher in diese Richtung. Vor der Bundestagswahl2002 galten vier Koalitionsvarianten als realistisch: Rot-Griin war das Wunschmodell von Bundeskanzler Gerhard Schroder, Schwarz-Gelb das des Herausforderers Edmund Stoiber. Die FDP, die wie 1957 und 1969 keine Koali tionsaussage getroffen harte, verstand sich als eigenstandige Kraft, wobei die Tendenz ihrer AuBerungen klar in die Richtung ging, mit der Union die bisherige Koalition abzulosen. Allerdings war sie nicht bereit, ausschlieBlich dafiir einzutreten. Aus ihrer Sicht bildete also auch Rot-Gelb eine Variante. Hatte die PDS den Einzug in den Deutschen Bundestag geschafft, ware eine weitere in den Bereich des Moglichen geriickt: eine groBe Koalition; und zwar dann, wenn weder Rot-Griin, Rot-Gelb noch Schwarz-Gelb eine Mandatsmehrheit erhalten hatte. Von einer groBen Koalition rede te im Wahlkampf kaum einer. Sicher war nur: Der Vizekanzler wiirde weder Schroder noch Stoiber heiBen. Ebenso bestand dariiber Gewissheit: Der Kanzler konnte entweder Amtsinhaber Ger hard Schroder sein oder Edmund Stoiber hellien, sein Konkurrent, der bayerische Ministerprasident, der sich innerhalb der Union gegen die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel durchsetzen konnte. In der Bundesrepublik hat sich das Amt des Mini sterprasidenten als Rekrutierungsbasis fur das Amt des Kanzlers (Schroder war von 1990 bis 1998 Regierungschef in Niedersachsen) wie fur die Kanzlerkandidatur erwie sen.2 Auch fur die Vorganger Schroders, der als niedersachsischer Ministerprasident 1998 ins Rennen gegangen war, bildete ein solches Amt den Ausgangspunkt: Johannes Rau (Kanzlerkandidatur 1987) Oskar Lafontaine (Kanzlerkandidatur 1990) und Rudolf Scharping (Kanzlerkandidatur 1994) blieb das versagt, was Schroder gelang. Dieses Karrieremuster gilt umso mehr fur die jiingste Entwicklung. Der letzte Kanzler, der nicht Ministerprasident war, hieB Helmut Schmidt (1974), der letzte Kanzlerkan didat, der dieses Amt nicht ausiibte, Rainer Barzel (1972).3 Die Kanzlerkandidatur des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelles falIt unter die Rubrik "SpaB-Wahlkampf', fin- Vgl. Richard Hilmer: Bundestagswahl 2002: eine zweite Chance flir Rot-Griin, in: Zeitschrift flir Par larnentsfragen 34 (2003), S. 187-219. 2 Vgl. Peter Marz: An der Spitze der Macht. Kanzlerschaften und Wettbewerber in Deutschland, 2. Aufl., Miinchen 2003. 3 Allerdings wurde Hans-Jochen Vogel von der SPD im Jahre 1983 nicht deshalb Kanzlerkandidat, wei! er 1981 (kurzfristig) das Arnt des Regierenden Biirgermeisters von Berlin inne gehabt hatte. Diese Position war flir die Erlangung der Kanzlerkandidarur keine Voraussetzung. 9 det hier also keine Beriicksichtigung. Die Partei diirfte ein soIches Unternehmen nicht mehr wiederholen. Zwei Varianten spielten von vornherein keine Rolle: eine Ampelkoalition und eine rot griin-dunkelrote Koalition. Die erste Variante - sie funktionierte nicht einmal in den Uindern Brandenburg und Bremen (die Koalitionen brachen auseinander) und wurde im Land Berlin als Probelauf fur den Bund erst gar nicht versucht - ware am entschie denen Nein der Liberalen gescheitert; gegen die zweite Variante hatte die SPD klar votiert und auch die Tolerierung einer rot-griinen Koalition durch die PDS verworfen. Derartige konkrete Aussagen fur die Zeit nach der Wahl waren von den Parteien nicht einfach zu konterkarieren gewesen. Der (Wahlrechts-)Teufel steckte im Detail. Gesetzt den Fall, eine Partei hatte lediglich durch den Gewinn von Crberhangmandaten eine Mandatsmehrheit (mit einem klei nen Partner) erringen konnen, ware eine soIche Umkehrung von Stimmen- und Man datsergebnis von den Wahlern, die in Deutschland auf das Prinzip der Gerechtigkeit fixiert sind, kaum als legitim angesehen worden. Wahrscheinlich erschien eine soIche Konstellation nicht, da durch den Neuzuschnitt der Wahlkreise eine der Ursachen fur Crberhangmandate4 weitgehend beseitigt worden war. Schwarz-Gelb hatte 1994 ohne diese wahlrechtliche Eigentiimlichkeit nur einen Vorsprung von zwei Mandaten gehabt (tatsachlich zehn), Rot-Griin 1998 ansonsten einen soIchen von acht (tatsach lich 21). Gerhard Schroder, dessen niedersachsische Landesregierung vergeblich vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Crberhangmandatsregelung geklagt hatte, lid~ vor der Bundestagswahl 1998 verlauten, Rot-Griin komme fur ihn nur bei einer stabi len Mehrheit von mindestens zehn Mandaten in Frage. In gewisser Weise ermoglichte die Ablehnung der Klage damit erst Rot-Griin. Und auch diesmal trug das Plus von drei Crberhangmandaten zugunsten der Regierungsparteien (die SPD bekam vier Crberhangmandate, die CDU eines) dazu bei, dass die Mehrheit5 mit neun Mandaten zwar keineswegs klar, aber nicht ganz hauchdiinn ausfiel. Lang- und kurzfristige Trends flieBen bei einer Wahlentscheidung zusammen.6 Noch sechs Wochen vor der Bundestagswahl 2002 deutete nach den iibereinstimmenden Ergebnissen der demoskopischen Institute alles auf eine Wachablosung der rot-griinen Koalition hin.? Doch konnte schlieBlich, wenn auch nur knapp, das rot-griine Biind nis seine Arbeit weiterfiihren - nicht zuletzt deshalb, wei! es der PDS nicht mehr gelungen war, in das Parlament zuriickzukehren, von zwei im Osten Berlins errunge- .4 Kaum ein Thema ist so kompliziert wie dieses. VgI. Joachim Behnke: Ein integrales Modell der Ursachen von Dberhangmandaten, in: Politische Vierteljahresschrift 44 (2003), S. 41-65; David N. Rauber: Dberhangmandate - keine Dberraschungen (mehr); Joachim Behnke/Ruth Kamm/Thomas Sommerer: Der Effekt der Neueinteilung der Wahlkreise auf die Entstehung von Oberhangmandaten; Gustav W. Sauer: Zur proportionalen Wahlauswertung bei Zweistimmenwahlsystemen ohne Oberhang mandate, jeweils in: Zeitschrift flir Parlamentsfragen 44 (2003),116-122, S. 123-145, S. 146-165. 5 Sie kann sich verringern, da eine Partei im Faile eines direkt gewahlten Abgeordneten, der verstorben ist oder aus dem Bundestag ausscheidet, in jenen Landern, in denen Oberhangmandate angefallen waren, keinen Nachriicker von der Liste entsenden darf, solange der "Oberhang" nicht abgebaut ist. Dies ent schied das Bundesverfassungsgericht im Februar 1998 einstimmig. 1m Laufe der letzten Legisla turperiode harte die SPD 3 der 13 Oberhangmandate verloren. 6 Vgl. Richard Hilmer: Wer gewinnt die Bundestagswahl? Lang- und kurzfristige Trends im Wahlverhal ten, in: Der Biirger im Staat 52 (2002), S. 4-9. 7 Vgl. Eckhard Jesse: Die wahrscheinlichen und die sinnvollen Koalitionen (vor) der Bundestagswahl, in: Zeitschrift flir Parlamentsfragen 33 (2002), S. 421-435. 10 nen Direktmandaten abgesehen. Damit setzte sich das bisherige hohe MaE an Konti nuitat fort. Von 1949 bis 1969 stellte die Union den Bundeskanzler, von 1969 bis 1982 die SPD und von 1982 bis 1998 wieder die Union. Die Hauptregierungspartei gewann damit vier- oder funfmal hintereinander die Bundestagswahl (gemeinsam mit der Koalitionspartei FDP, anfangs unterstiitzt von weiteren Parteien wie der DP oder dem GB/BHE). Einer Partei allein ist es unter den Bedingungen der urn die FiinfPro zent-Hiirde abgeschwachten Verhaltniswahl praktisch nicht moglich, eine absolute Mehrheit zu erreichen. In den funfriger Jahren war dies noch anders. Bei der Bundes tagwahl 1953 hatte die Union mit 45,2 Prozent eine hauchdiinne absolute Mehrheit der MandateS, bei der von 1957 mit 50,2 Prozent sogar eine absolute Mehrheit der Stimmen. Seinerzeit wurde yom "Wahlwunder" (Dolf Sternberger) gesprochen, stand den Deutschen doch das buntscheckige Parteiensystem der Vergangenheit vor Augen. Wer einen Band zur Bundestagswahl 2002 konzipiert und betreut, muss auf eine Viel zahl von Aspekten achten. Das Werk hat auch Vorgange vor und nach der Wahl einzu beziehen und nicht nur diese zu analysieren. So bedarf es der Beriicksichtigung des Wahlkampfverlaufs sowie des Parteiensystems in Ost und West vor und nach der Wahl. Die Analyse der Zusammensetzung des neuen Parlaments verdient ebenso eine Erorterung wie die Regierungsbildung. Insofern bietet dieser Band mehr als eine Bilanz der bisher spannendsten Bundestagswahl. Trotz der Mannigfaltigkeit der The men erfasst das Sammelwerk nicht alle einschlagigen Aspekte. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse analysiert die Rolle der Parteien und des Parteiensystems in den alten und neuen Landern vor und nach der Bundes tagswahl 2002. Auch wenn das Parteiensystem der Bundesrepublik schnell auf die neuen Lander iibertragen wurde, unterscheidet es sich noch deutlich von dem in den alten Landern9, selbst wenn die Erfolge der PDS abklingen diirften. Allerdings hat das Parteiensystem eine betrachtliche Integrationskraft bewiesen. In mancher Hinsicht iiberlagert Freilich der Nord-Siid-Gegensatz den von Ost und West. Das Wahl verhalten nach Alter und Geschlecht weicht gleichwohl deutlich voneinander ab, wie eine Auswertung der reprasentativen Wahlstatistik zeigt. Was die Parteien betrifft, so gibt bei allen der Westen den Ton an. Der Berliner Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer untersucht den Wahlkampf verlauf und die Wahlkampfstrategien der Regierungs- und Oppositionsparteien. Das Wahlergebnis hatte anders ausgesehenIO, wenn nicht zwei unvorhersehbare Ereignisse eingetreten waren: die Flutkatastrophe und die aufSenpolitische Lageveranderung infolge des moglichen Krieges gegen den Irak. Wahrend die beiden Regierungsparteien (die SPD und die Griinen) durch diese Themen in die Offensive gelangten (und frii- 8 Sie kam nur zustande, wei! eines der drei Mandate fur das Zentrum ein Mitglied der CDU erhielt, das auf den Listen der katholischen Partei kandidierr harre. Das Zenrrum (0,8 Prozenr der Stimmen) war zu einem Direktmandat gekommen, da die CDU in einem Wahlkreis keinen Bewerber aufgesteIIt und den der Zenrrumspartei unrerstii(Zt harre. Auf diese Weise musste die Zentrumspartei nicht die Fiinf prozenthiirde iiberwinden. 9 Vgl. dazu auch Oskar Niedermayer (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002, Opladen 2003 (i.E.); Rainer-Olaf Schultze: Eine Bundestagswahl oder zwei? Wahierverhalten in Deurschland Ost und Deutschland West, in: Der Biirger im Staat 52 (2002), S. 16-25. 10 Vgl. dazu (bezogen auf friihere Wahlkampfe) Kathrin Bretthauer/Patrick Horst: Wahlenrscheidende Effekte von Wahlkampfen? Zur Aussagekraft gangiger Erklarungen anhand in der ZParl publizierrer Wahlanalysen, in: Zeitschrifr fur Parlamenrsfragen 32 (2001), S. 387-408. 11