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Arendts Plato PDF

18 Pages·2016·0.16 MB·German
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Ausgabe 1, Band 8 – April 2016 Arendts Plato – unter besonderer Berücksichtigung ihres Denktagebuches Harald Bluhm Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Was das Verhältnis von Arendt zu Plato betrifft, so scheint die Lage klar zu sein. Der antike Meisterdenker wird in einer apodiktischen Sentenz von ihr am Beginn des Essays „Tradition und die Neuzeit“1 zum Vater der politischen Philosophie erhoben, die mit ihm und Aristoteles beginne und mit Marx ende, wobei das Spezifikum darin liege, dass in dieser Tradition die Politik nicht an einem eigenen Maßstab gemessen wird, sondern an dem der politischen Philosophie. Arendts Lesarten von Plato sind indes nur gelegentlich und kaum näher erkundet worden.2 Das mag daran liegen, dass sich die in der Literatur vorliegenden Einsichten nicht immer leicht finden lassen.3 Vor allem in Briefen erwähnt Arendt über Jahre hinweg immer wieder Plato. So schreibt sie an Karl Jaspers am 4. Ok- tober 1950: „Lese Plato: Politikos, Nomoi, Republik. Mein Griechisch kommt langsam wieder zum Vorschein.“4 In einem anderen Schreiben an Jaspers vom 4. März 1951 heißt es über die „abendländische Tradition von Plato bis Nietzsche“, „dass diese abendländi- sche Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte“.5 In einem Brief an Kurt Blumenfeld bemerkt sie am 6. August 1952: „Schlage mich gerade mit der Republik rum, lese also wieder Plato und griechisch.“6 Sowie – und damit sei die Blütenlese abgeschlossen – diese Zeilen bezüglich eines Gradu- iertenseminars an der Columbia University, die Arendt Weihnachten 1960 an Mary Mc- Carthy schreibt: „Wir treffen uns einmal die Woche, lesen zusammen Plato und sind mitt- lerweile wie alte Freunde.“7 Die Verweise – es sind beileibe nicht alle – legen es nahe, zu vermuten, dass es da um mehr geht als eine einmalige Auseinandersetzung und dass Pla- 1 Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“, in: dies. Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Den- ken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt a. M. 1957, 9-45, hier 9 (amer. 1954). 2 Vgl. als Überblick das Lemma Sokrates/Platon. In: Heuer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, 185-188. 3 Vgl. u.a. Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frankfurt a.M. 2007 und Seitz, Jacob Stefan: Hannah Arendts Kritik der philosophi- schen Tradition - unter Einbeziehung der französischen Literatur zu Hannah Arendt, München 2002, v.a. 64-75. 4 In: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an Freunde. Hg. v. Ingeborg Nordmann, München/Zürich 2015, 124. 5 Ebd., 127. 6 Ebd., 154. 7 Ebd., 261. 131 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net to für sie wichtiger sein könnte als Aristoteles, mit dem Arendt zu häufig in Beziehung ge- bracht wird. Nicht selten wird sie fälschlicher Weise als Aristotelikerin verstanden oder gilt als Quelle des Neoaristotelismus.8 Zur Stützung der Vermutung großer Relevanz von Plato sollen zunächst Arendts Lesar- ten dieses griechischen Klassikers mit einem werkgeschichtlichen Akzent überblickshaft eingeordnet werden (I.). Im zweiten Abschnitt sollen der Weg zu Arendts Auseinandersetzung mit Plato und dessen Höhlengleichnis wie die Forcierung dieser Thematik ab 1953 näher dargestellt werden. (II.) Abschließend gebe ich ein Resümee und versuche mit einem vergleichenden Blick die Ergebnisse festzuhalten (III.). Bei diesem Vorgehen werde ich Arendts bisher in der Literatur kaum diskutierte Aus- einandersetzung mit Plato im Denktagebuch erkunden. Es enthält Ausführungen, die zwischen 1950-1973 verfasst wurden. Die Eintragungen zu Plato erstrecken sich beinahe über den gesamten Zeitraum, sind allerdings von unterschiedlichem Umfang und diver- gierender Intensität. Den Schwerpunkt lege ich auf die frühen 1950er Jahre, auf die Kritik an der politischen Philosophie und auf das Höhlengleichnis, die in den wegweisenden Essay „Tradition and the Modern Age“ (zuerst amer. 1954) eingegangen sind.9 Das 2002 publizierte Denktagebuch hat, soweit ich sehe, bisher noch zu wenig Resonanz gefunden. Dabei bietet es die Chance, wie sich zeigen wird, Arendt bei der Ausarbeitung einiger The- men über die Schulter zu sehen, wobei Ideen und Einflüsse sichtbar werden, die bis dato verborgen geblieben sind. Deshalb greife ich relativ extensiv auf das Denktagebuch zu- rück und verweise nur bei dieser Quelle im Anschluss an die Zitate mit dem Kürzel DT auf die entsprechenden Seiten. Die recht große Textnähe meiner Argumentation und die vie- len Belege erscheinen mir als unerlässlich, wenn man Akzentverschiebungen gegenüber verbreiteten Lesarten plausibilisieren möchte. Insgesamt deute ich, soviel sei vorab gesagt, Arendts politische Theorie als erfahrungs- bezogenes Konzept, das auf eine neue Sicht der Tradition abzielt; eine Tradition, die nur noch selektiv und variiert für die Gegenwart genutzt werden könne.10 Das Erfahrungsver- ständnis ist für Arendt von zentraler Bedeutung, sucht sie doch in Begriffe und Sprache eingebettete Erfahrungen zu bergen und mit gegenwärtigen Erfahrungen zu relationie- ren,11 um so zu einem Verständnis des Politischen zu kommen. Dabei werden soziale Er- fahrungen von politischen, die an gemeinsames Handeln im öffentlichen Raum gebunden 8 Für Sternberger ist Arendt eine Aristotelikerin. Vgl. Sternberger, Dolf: Die versunkene Stadt: Über Hannah Arendts Idee der Politik. In: Merkur 30 (341), 935-945. Zum Neoaristotelismus vgl. Strassenberger, Grit: „Neoaristotelismus und narrativistische Wendungen politischer Theorie. Hannah Arendt, Michael Walzer und Martha Craven Nussbaum.“ In: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006, 155-180. Vgl. auch Gutschker, Thomas: Aristote- lische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2002. Seine Arbeit ist vor dem Erscheinen des Denktagebuchs fertig geworden und überschätzt daher nicht zufällig die Relevanz von Aristoteles für Arendt. 9 Es gibt weitere Spuren, deren Verfolgung sich lohnen würde, was aber über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausgeht. Unter III. wird eine dieser Spuren, die auch mit Plato-Bezug diskutierten Tätigkeitsformen (Kon- templation, Handeln, Herstellen, Arbeiten) zumindest angedeutet. 10Vgl. Althaus, Claudia: Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theo- rie, Göttingen 2000. 11 Dezidiert heißt es später im Vorwort zu Zwischen Vergangenheit und Zukunft (München 1994, 18): „einer In- terpretation, deren Hauptziel ansonsten darin besteht, die wirklichen Ursprünge der traditionellen Begriffe zu entdecken, um aus ihnen ihren ursprünglichen Geist neu herauszukristallisieren.“ 132 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net sind, deutlich unterschieden.12 Darüber hinaus spricht sie von philosophischer Erfahrung, der Erfahrung der Kontemplation, d.h. des Denkens im emphatischen Sinne, das nicht auf ein Resultat zielt, sondern unentwegtes Fragen ins Zentrum rückt, was eine Abwen- dung von der Welt und die üblichen Gegebenheiten einschließt. Dies ist eine höchst indi- viduelle Erfahrung, die im Dialog mit sich selbst bzw. wenigen anderen gewonnen werden kann. Arendts Konzept des Politischen ist gegenwartsdiagnostisch und recht fern von einer „German homesickness for Greece“ oder Polisnostalgie (Dolf Sternberger)13, die ihr oft attestiert wird. Meine im Folgenden präsentierte Lesart ist selbstverständlich nicht völlig neu, sondern stellt auf spezifische Weise darauf ab, dass Plato für Arendt wichtiger war als Aristoteles und dass ihre Plato-Kritik sowohl eine Kritik an diesem als auch eine Kritik an Heidegger ist. Zugleich erkenne ich darin ein methodisch informiertes Programm der Destruktion von Tradition, das den faktischen Traditionsbruch mit großem historischem Atem unter- sucht. I. Arendt und Plato: werkgeschichtliche Einordnung Arendt beginnt ihren akademischen Weg bekanntlich als Philosophin, wird durch die historischen Umwälzungen am Anfang des 20. Jahrhunderts und insbesondere durch den Totalitarismus zur politischen Theoretikerin und nimmt erst in ihren späten Schriften wie Life of the Mind (1977)/Vom Leben des Geistes (1979) eine partielle Rückwendung zur Philosophie vor. Ihre Faszination für die Philosophie ist eng mit dem Schaffen von Martin Heidegger und Karl Jaspers verbunden. Mit Heidegger gegen Heidegger, und zwar unter Aufnahme von Motiven, die Jaspers mit seinem starken Akzent auf Kommunikation und Freiheit, mithin auf Öffentlichkeit gelegt hat,14 setzt Arendt sich dann dezidiert mit der politischen Philosophie auseinander und wendet sich der politischen Theorie als ad- äquatem Medium der Reflexion von Politik zu. Dieser Denkweg ist schon häufiger be- schrieben worden, er soll im Folgenden im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Plato im Denktagebuch skizziert werden.15 Wenn ich Arendts Kritik an Plato als von Heidegger beeinflusst und zugleich als eine scharfe Kritik an ihm lese,16 so folge ich der Linie von 12Vgl. Bluhm, Harald: „Von Weimarer Existentialphilosophie zum politischen Denken. Hannah Arendts Kri- senkonzept und ihre Auffassung politischer Erfahrung.“ In: Probst, Lothar/Wilfried (Hg.): Die Entdeckung der Freiheit. Amerika im Denken Hannah Arendts, Bodenheim, 2003, 69-92. 13Sternberger, Dolf: „Die versunkene Stadt: Über Hannah Arendts Idee der Politik.“ In: Merkur 30 (341) S. 935-945. 14Vgl. Jaspers, Karl: Philosophie, [1932] Berlin/Göttingen/Heidelberg 1948, 2. Buch erster Hauptteil zur Kom- munikation, S. 350 werden Momente für ein expressives Modell von Öffentlichkeit, das Arendt später entwi- ckeln wird, deutlich. Dort heißt es: „In der Kommunikation werde ich mir mit dem anderen offenbar.“ Vgl. zur Rolle der Kommunikation bei Jaspers auch Hannah Arendt: Was ist Existenzphilosophie [1948], Frank- furt a.M. 1990, 40f. (amer. 1946). 15In ähnliche Richtung, aber viel genereller ohne Akzent auf den wenigen Schlüsseltexten, wie ich es versuche, Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frankfurt a.M. 2007. 16Vgl. den Überblick zur Beziehung Arendt und Heidegger und Deutungen dieser Beziehungen in Karin Fry: Arendt: A Guide for the Perplexed, London/New York 2009, 114-119. Die Nähe zwischen Plato und Heidegger tritt auch in Arendt, Hannah: „Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt“ [1969]. In: dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz München/Zürich 1989, 172-184 hervor. Beide gelten als Vertreter von bohrendem Denken, die nie über etwas, sondern das jeweilige Etwas erkunden. 133 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net Jacques Taminiaux und Dana Villa, die diese doppelte Stoßrichtung betonen. Arendts Zu- wendung zur Politik geht mit einer starken Akzentuierung von Pluralität einher, die sie in ein expressives Konzept von Öffentlichkeit einfasst, das auf einem dramaturgischen Handlungsverständnis ruht; ein Verständnis nach dem sich die Menschen als politische Akteure in der Öffentlichkeit zeigen, enthüllen und formen.17 Ungeachtet der deutlichen Kritik an Heidegger gibt es, was das Verständnis der ‚Lehre‘ eines Autors, des Denkens und von Wahrheit betrifft, erhebliche Nähen zu ihm, die freilich zu anderen Konsequen- zen geführt werden. Denn Arendt entfaltet eine Kritik der politischen Philosophie, zu der Heidegger nicht einmal vorgedrungen ist, da er das Verhältnis von Philosophie und Politik systematisch nicht durchdrungen hat. Arendt dürfte mit Plato seit der Schule vertraut gewesen sein, aber erst Heideggers Pla- to-Deutung von 1924 (sie hört zuerst die Sophistes-Vorlesung bei ihm)18 bringt sie auf ein ganz neues Niveau.19 Die Spuren der Plato-Kritik seit Mitte der 1920er Jahre können hier nicht verfolgt werden. In ihren Texten taucht Plato erst im Buch über den Totalitarismus bzw. in den vorab veröffentlichten Aufsätzen, die in das Buch eingehen, auf.20 Allein – es hieße den Einfluss von Heidegger, nach Arendt der „heimliche König“ der Philosophie in den 1920er Jahren zu überschätzen, wenn man nicht berücksichtigt, dass ihre Lesart zu- dem durch Kierkegaard21 und die Plato-Kritik Nietzsches22 imprägniert ist. Aber wie wich- 17Vgl. Taminiaux, Jacques: The Thracian Maid and the Professional Thinker. Arendt and Heidegger [frz. 1992], New York 1997 (hier steht der Zusammenhang von Heidegger und Arendts Vita activa im Zentrum), Villa, Dana R.: The Fate of the Political. Arendt and Heidegger, 1995 und zum expressiven Modell der Öf- fentlichkeit vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne [engl. 2000], Frankfurt a.M. 2006. Die andere Linie der Deutung eines eher schädlichen Einflusses von Heidegger auf Arendt, die ihre mangelnde Distanz betont, repräsentieren Hinchman, Lewis P./ Hinchman, Sandra K.: „In Heidegger’s Shadow: Hannah Arendts’s Phenomenological Humanism“. In: Review of Politics, vol. 46, April 1984, No. 2, 183-211), Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt and the Jewish Question, Cambridge MA 1996 und Wolin, Richard: Heidegger Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas und Herbert Marcuse, Princeton 2001. 18Die Vorlesungen finden sich in: Heidegger, Martin: Platon: Sophistes. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944, Band 19, Frankfurt a.M. 1991. 19Vgl. den vielzitierten Brief von Hannah Arendt an Martin Heidegger vom 8. Mai 1954. In: Hannah Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925-1975, aus den Nachlässen. Hg. v. Ursula Ludz, Frankfurt a.M.: Klos- termann, 2013 (4. Aufl.), 144-147, hier 146. 20 In der amerikanischen Erstausgabe von The Origins of Totalitarianism (New York 1951) gibt es nur einen Verweis auf Plato, dort S. 9, in der deutschen Ausgabe (1955) hier nach derjenigen von 1991 zitiert, ist der auf S. 34 zu finden. Die anderen Verweise in der deutschen Ausgabe finden sich zum einen auf Seite 466 zu Plato und die Grenzen des Machbaren (Gott und nicht der Mensch muss das Maß sein – das berühmte Zitat aus den Nomoi St. 716c) und zum anderen Seite 527 - dort bringt Arendt das erste Mal die Differenz von archein- prattein aus dem Politikos von Plato ein und kritisiert, dass damit nur das Geben und Vollziehen von Befeh- len gemeint ist. 21Arendt hörte eine Vorlesung über Kierkegaard bei Romano Guardini als Teenager in Berlin (im Jahr vor ih- rem Abitur, vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit (1986), Frankfurt a.M. 1991, 76 (amer. 1981), dort ist auch von den frühen Griechischzirkeln die Rede). Vgl. dazu die Würdigung von Kierkegaard in der Reichsausgabe der Frankfurter Zeitung vom 29. Jan. 1932, in der Arendt Kierkegaard als Revolte eines Philosophen gegen die Philosophie deutet, die die Bedingungen des Philosophierens klärt und dieses als prozesshaften Vorgang begreift. Vgl. den Neuabdruck im Anhang von Glöckner, Dorothea: Das Versprechen. Studien zur Verbindlichkeit menschlichen Sagens in Søren Kierkegaards Werk „Die Taten der Liebe“, Tübingen 2009, 216-219. 22Arendt stellt mehrfach dessen umgekehrten Platonismus heraus und, was mir noch bedeutsamer erscheint, sie lässt gelegentlich die von ihr kritisierte politische Philosophie mit Nietzsche enden. Vgl. Brief an Jaspers vom 4. März 1951. In: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an Freunde, hg. v. Ingeborg Nordmann, Mün- chen/Zürich 2015, 127. 134 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net tig Heidegger war, kann man am Aufsatz „Philosophie und Soziologie“23 – einer Ausein- andersetzung mit Karl Mannheims Ideologie und Utopie (1929) – erkennen. Dort fun- giert Heidegger in methodischer Hinsicht als Wegweiser, denn Arendt bezieht sich expli- zit auf die in Sein und Zeit (1927) im § 6 entwickelte Konzeption der Destruktion von Tra- dition. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang ein Text, den ich für Arendts wichtigs- ten philosophiegeschichtlichen Essay halte, nämlich: „Tradition und die Neuzeit“. Dieser zu selten interpretierte Aufsatz erwuchs aus einer Vorlesung von 1953, die die totalitären Ursprünge in der politischen Philosophie zu bestimmen sucht. Das ist eine Aufgabe, der sich Arendt nach dem englischen Original des Buches über den Totalitarismus, The Orig- ins of Totalitarianism (1951), und während der Erstellung der deutschen Neufassung, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955), angenommen hat. Dafür hatte sie be- kanntlich 1952 ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung bekommen.24 Das Resultat, der glänzend komponierte Essay, der sorgsam zu lesen ist (was ich hier nur im Hinblick auf eine Frage tun kann), erwächst aus einer längeren Auseinandersetzung mit Plato, von der es einige Spuren im Denktagebuch gibt. Wie wichtig die Plato-Heidegger-Thematik ist, kann man wiederum einem Brief von Arendt entnehmen. Sie schreibt bezüglich des Wunsches von Dolf Sternberger, sie möge Heideggers Brief über den Humanismus (1949) rezensieren: „Und es tut mir leid, dass Du erst mal eine Absage bekommst. Ich kenne die Heideggersche Schrift: die Interpretation des Höhlengleichnisses25 stammt übrigens aus den früheren Jahren, so um 1930 herum. Ich bin ehrlich gesagt der Meinung, dass das echte Philosophie ist – und zwar im Gegen- satz zu den Dingen, Aufsätzen und Vorlesungen, die ich aus den dreißiger Jahren hier und da zu Gesicht bekommen habe.“ Weiter heißt es: „Dass er die Grundlagen des abendländi- schen Denkens in seinem Brief gegen den Humanismus antastet, schreckt mich auch nicht. Auf seine vornehm gelassene und maßhaltende Weise tut das Jaspers doch auch, wenn er den Rahmen der westlichen Kultur auf jeden Fall sprengen will. Wie man es dreht und wendet, das ist heute ein Gefängnis geworden, aus dem Heidegger gewalttätig ausbricht; was auf mich, wie Du siehst, seinen Eindruck nicht verfehlt hat. Aber selbst wenn das wieder ein Holzweg sein sollte, wenn es auch nur im mindesten echte Philoso- phie ist, hat Polemisieren gar keinen Sinn. Gegen Philosophie hilft nur Philosophie. Und ich habe keine auf Lager.“26 Wenn man diese Aussagen ernst nimmt, muss man genauer hinsehen und auf einer an- deren Ebene danach suchen, was die Beziehung von Heidegger und Arendt hinsichtlich der Plato-Deutung betrifft. Dabei sollen im Folgenden drei konzeptuelle Gesichtspunkte 23Arendt, Hannah: „Philosophie und Soziologie“ [1930]. In: Der Streit um die Wissenssoziologie, hg. v. Volker Meja und Nico Stehr, Frankfurt a. M., 1982, Bd. 2, 515-531. Heidegger wirft in seinen Plato-Vorlesungen 1931/32 der Wissenssoziologie vor, in der „Höhle“ der Meinungen herumzutappen, ohne sie verlassen zu können. Vgl. Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (Win- tersemester 1931/32). In: ders.: Gesamtausgabe Bd. 34, Frankfurt a.M. 1988, 86. Arendt argumentiert zwar mit einem ähnlich emphatischen Begriff des Denkens, aber sie begreift schon seinerzeit die Höhle anders und bindet Politik bekanntlich prinzipiell an die Meinungen der Pluralität von Akteuren. 24 In diesem Zusammenhang reist sie nach Europa, trifft Heidegger, hörte zwei Stunden seiner Vorlesung „Was heißt Denken“ und hält Vorträge über Ideologie und Terror. Vgl. Herausgeberinnen Erläuterungen in DT, 968. 25 Arendt bezieht sich auf Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und The- ätet, Frankfurt a.M. 1943. 26 Arendt Brief an Sternberger vom 26. Aug. 1949. In: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Hg. v. Ingeborg Nord- mann 2015, 86-88, hier 86f. 135 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net hervorgehoben werden: die Wahrheitsauffassung, die Konzeption des Denkens und der Begriff der Lehre.27 Diese Punkte stehen meist weniger im Zentrum interpretatorischer Aufmerksamkeit, weil – wie Seyla Benhabib gezeigt hat – der Weltbegriff und das „In- der-Welt-sein“ für Arendt der entscheidende Anstoß von Heidegger waren, den sie, an- ders als der Schwarzwald-Philosoph, in der Auffassung der Politik entfaltet hat.28 Wäh- rend Heidegger das Sein zum Tode pointiert, ist es für Arendt die Mitwelt, die die Da- seinsanalyse auszeichnet. Von dort kommt sie gleichermaßen zur Erfahrung der Weltlo- sigkeit als Quelle des Totalitarismus wie auch zur Öffentlichkeit als dem Medium der poli- tischen Konstruktion von gemeinsamer Welt. Anhand der Einträge aus den frühen 1950er Jahren im Denktagebuch und dem Essay lassen sich in diesem Kontext die erwähnten drei konzeptuellen Gesichtspunkte, die Arendt und Heidegger verbinden, aufzeigen. Die Auseinandersetzung mit Plato und mit methodischen Fragen der von ihm inaugu- rierten Tradition, deren Ende durch äußere historische Ereignisse manifest wird, aber auch durch die innerhalb der Tradition selbst angelegte Problematik, sind es, die Arendt zwischen 1950 und 1955 bei der Vollendung ihres Totalitarismuskonzeptes beschäftigen, die erst mit der deutschen Ausgabe vollbracht ist.29 Dem Aufsatz „Tradition und die Neu- zeit“ kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu, die man erst anhand des Denktagebu- ches nachvollziehen kann. Hier wird nämlich das „Denken ohne Geländer“ methodisch zum Thema. Im unvollendeten, bereits erwähnten und posthum erschienenen Vom Leben des Geis- tes (1979) sind Heidegger und Plato Anfang der 1970er Jahre wieder präsent, wobei Arendt thematisch über die Reflexionen im Denktagebuch hinausgeht. Hier sind Rück- wendungstendenzen von ihr zur Philosophie zu konstatieren, die seinerzeit noch nicht vollzogen worden sind. II. Arendt und ihre Plato-Lesarten II.1 Auf dem Wege zum Essay „Tradition und die Neuzeit“ Der Essay wird mit Neulektüren von Plato in den Jahren 1950-53 vorbereitet, wobei Arendt nicht, wie man erwarten könnte, mit einer erneuten Lektüre der Politeia beginnt. Schon im Politikos entdeckt sie Platos Grundprobleme und liest ihn konzeptionell. In die- sem Sinne heißt es leitmotivisch im schon zitierten Brief an Jaspers vom 4. März 1951 27Haucke Brunkhorst hat betont: „Es ist falsch, wie oft behauptet wird, erst Arendt habe aus Heideggers Begriff der ‚Welt‘ ein pluralistisches Konzept gemacht.“ … „Erst am Ende von Sein und Zeit scheint Heidegger die in- dividualistische und pluralistische Tendenz des Buches aufheben zu wollen zugunsten eines Pluralismus von Kollektivbegriffen wie ‚Generation‘ und ‚geschichtliches Volk‘.“ Brunkhorst, Hauke: Hannah Arendt, Mün- chen 1999, S. 19. So richtig dies ist, vertritt Heidegger dennoch nie einen politischen Pluralismus, weil sein Verständnis von Öffentlichkeit dies nicht zulässt, wie Brunkhorst ebenda S. 21f. konzediert. Deshalb kann Arendt allerdings zu Recht festhalten: „Diese Pluralität ist seit Plato (und bis Heidegger) dem Menschen im Wege – in dem Sinne, dass sie ihm nicht seien Souveränität lassen will.“ DT, 79f. 28 Vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, die melancholische Denkerin der Moderne [1996], übers. v. Karin Wördemann, Hamburg 1998, 97-103. 29Vgl. Ursula Ludz: Zu diesem Band, in: Hannah Arendt/Eric Voegelin: Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe. Hg. v. Hannah Arendt-Institut in Zusammenarbeit mit dem Eric Voegelin Zentrum, Göttingen 2015, 7-10 sowie Ingeborg Nordmann: How to write about totalitarianism. Entwicklung eines Konzepts, das Fragen offenlegt. In: ebenda, 65-83. 136 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net über die abendländische Philosophie, dass diese „nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte.“30 Trotz dieser kritischen Einstellung glättet Arendt Plato nicht, sondern hält seine Zwiespältigkeit im Denktage- buch fest, die sie im Hirtenmodell der Politik erkennt, wonach der Politiker als Hirte die Menge leitet und hütet. Auch Platos Kritik, dass Gesetze nie das Individuelle regeln, gilt ihr als trefflich, werde aber von Plato dahingehend überzogen, dass ihm Gesetze nur als Ersatz „für die absolut beherrschte Staatskunst“ (DT, 19) gelten. Hier sieht man, wie Arendt in praxi die Idee umsetzt, dass dort, wo große Denker unklar und widersprüchlich sind, die interessanten Probleme liegen.31 Wie sehen nun die Ergebnisse der Lektüren im Denktagebuch aus? Im September/Ok- tober 1950 sind neben dem Dialog Politikos und den Briefen die Nomoi Gegenstand der Eintragungen. Bei den vielen Notaten von Arendt geht es darum, dass Gerechtigkeit mehr ist als bloße Gesetze, aber ausgestellt werden auch das Einheitsdenken und die anti- plurale Tendenz bei Plato. 1951 sticht das vergewissernde Zwischenresümee heraus: „Die Welt- und Politikfremdheit [als] Basis aller politischen Philosophie.“ (DT 67). Zusätzlich werden Hegel, Marx, Heidegger und Nietzsche Thema. Darüber hinaus sind einige Bestä- tigungen in den Lektürenotaten anzutreffen und Formulierungen des republikanischen Credos: „Politik eine Sache von Experten, der der Bürger entraten kann. Darauf läuft die gesamte Tradition des politischen Denkens des Abendlandes hinaus, Marx inclusive!“ (DT 115). Pointiert wird zudem bereits: „Marx stellt Hegel auf den Kopf, und Nietzsche dreht den Platonismus um – so vollzieht sich das Ende der abendländischen Philosophie.“ (DT 131). – Zumindest am Rande sei vermerkt, dass Nietzsche hier als Endpunkt der Tradition gilt, was Arendt später nicht mehr so akzentuiert. Dennoch ist Nietzsche für sie, was das Freiheitsverständnis angeht, wohl auch ein wichtiger Autor und nicht nur die häufig ge- nannten Autoren wie Montesquieu, Kant und die amerikanischen Revolutionäre wie Au- toren der Federalist-Papers. So schreibt Heinrich Blücher an Arendt in einer selten be- achteten Briefpasssage am 23. Mai 1952, deren Überzeugungen sie gewiss geteilt hat: „Der Schluß des Existenzkurses aber, […], der erste Entwurf absolut unabhängigen und freien Denkens des Menschen, da sind sie [die Studenten, H.B.] in Schrecken geraten. Wie glücklich war Nietzsche, dass er seine Zuhörer nicht zu sehen brauchte, dies scheint mir der eigentliche Lohn für die Mühen des Schreibenden zu sein. Ich habe ihnen [den Studenten] den freien Menschen vorgestellt […], und sie sind davor zurückgeschreckt wie vor dem Übermenschen und haben deutlich gezeigt, wie sehr sie lieber der letzte Mensch sein wollen als dieser freie Mensch.“32 Der letzte Mensch ist bekanntlich jener Mensch, der einem Gleichnis in Friedrich Nietzsches Zarathustra zufolge die Welt nicht aneignet und erobert, sondern sich nur selbstzufrieden einfügt. Der Übermensch hingegen ist die Steigerung der menschlichen Möglichkeiten. Der freie Mensch, den Blücher wie Arendt 30Ebd., 127. 31Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“. In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1994, 33. Dort heißt es, in einer Va- riation des Heideggerschen Konzept von ‚Lehre‘ über die Widersprüche: „Bei den großen Autoren führen sie meist in den eigentlichen Mittelpunkt ihres Werkes und bilden den wichtigsten Schlüssel für ein echtes Ver- ständnis ihrer Probleme und ihrer neuen Einsichten.“ 32Heinrich Blücher an Hannah Arendt am 23. 5.52. In: Hannah Arendt Heinrich Blücher. Briefe 1936-1968. Hg. v. Lotte Köhler, München/Zürich 1996, 271-273. 137 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net weniger elitär als Nietzsche fassen, ist jener, der das Leben eigenverantwortlich wagt. Der in die Welt hinauszieht, Welt konstituiert, etwas unternimmt, sich ausprobiert, seine Grenzen kennenlernen möchte, da wie auch Karl Jaspers betont, in den Grenzsituationen, die Herausforderungen für die menschliche Existenz und das Philosophieren stecken.33 Im Mai 1952 wird im Denktagebuch die Politeia Lektüregegenstand, wobei im August die Auseinandersetzung intensiviert wird. Zur berühmten Philosophen-Könige-Passage Platos hält Arendt fest: „Die Zentralstelle seiner politischen Philosophie gerade hat philo- sophisch keine Basis.“ (DT, 233). Während ihr dies einen Kommentar wert ist, scheint sie sich mit ihrer an Heidegger angelehnten Deutung des Höhengleichnisses, auf die ich noch eingehen werde, schon lange im Klaren zu sein, denn sie notiert zur ganzen Passage nur äußerst knapp: „die Technik der Herumwendung“ (DT, 235). Mit Blick auf das 10. Buch der Politeia wird allerdings noch die Fehlidentifikation von Wahrheit und Sein moniert, um dann die etwas kantianisch anmutende Konklusion zu ziehen, in welcher der hehre Anspruch von Plato fixiert wird, nämlich: „Herrsche über andere so, wie du über dich selbst herrschst. Herrschaft gründet auf Selbstbeherrschung. Der Stolz, die Überzeugung, dass es zur Würde des Menschen gehört, niemandem zu gehorchen ausser sich selbst.“ (DT, 241). Auch 1953 taucht Plato auf, aber nun wird der Bezug auf den Traditionsbruch immer stärker, dieser Bruch sei nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen, aber „als Bruch gar nicht mehr notiert“ worden (DT, 300). Später im Jahr werden noch Phaidon, Ideenlehre34, aber auch die Dialoge Gorgias, Laches und Euthyphron Thema. Das sind die sichtbaren Spuren im Denktagebuch, die dem aus einem in der Vorlesungsreihe in Princeton 1953 gehaltenen Vortrag in der Reihe „Karl Marx and the Tradition of Western Political Thought“ entstandenen Essay „Tradition and the Modern Age“ vorausgehen, der im Januar/Februar Heft der Partisan Review 1954 zuerst erscheint und 1957 unter dem Titel „Tradition und die Neuzeit“ im Band Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart auf Deutsch publiziert wird.35 II.2 „Tradition und die Neuzeit“ als Schlüsseltext36 Wenn, wie ich behaupte, „Tradition und die Neuzeit“ als philosophiegeschichtlicher Essay zu begreifen ist, der eine substantielle Ergänzung zum Totalitarismus-Buch darstellt,37 33Man wünscht sich eine Arbeit, die den verstreuten und durchaus vielfältigen Spuren von Nietzsche im Schrifttum von Arendt nachgeht. Anregungen dazu finden sich bei Dana R. Villa, vgl. seinen Eintrag zu Nietz- sche in: Heuer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, 228-233. Der Bezug auf Plato und die Freiheit fehlt dort allerdings. Auch hier bietet das Denktagebuch Anknüpfungspunkte. 34 Hier bei einer zweiten Lektüre der Politeia werden erst die vier Stufen des Höhlengleichnisses, auf die ich im nächsten Abschnitt zu sprechen komme, erörtert vgl. DT, 454-456. 35 Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“. In: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt am Main, 1957, 9-45, der Text geht dann in den Band Zwischen Ver- gangenheit und Zukunft (amer. O 1961, erw. 1968, dt. hg. Ursula Ludz 1994 (Übungen im politischen Denken I) ein (vgl. ebenda 23-53), der die bekannte Einleitung „Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ ent- hält (ebenda, 7-19). 36Ich greife im Folgenden auf Überlegungen aus dem Aufsatz von Bluhm „Variationen des Höhlengleichnisses – Hannah Arendt und Leo Strauss“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 47, H 6, 1999, 911-933 mit verändertem Akzent zurück. 37Ich halte diesen Aufsatz für wichtiger als die spätere Einleitung („Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zu- kunft“, engl. 1961) in dem Band Zwischen Vergangenheit und Zukunft (1994), wiewohl dort wichtige Überle- 138 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net dann bietet es sich an, den Argumentationsgang knapp zu rekapitulieren, um seine Reichweite und Radikalität aufzeigen.38 Der auf Deutsch wenig veränderte, zuerst 1957 erschienene Aufsatz „Tradition und die Neuzeit“ ist deutlich von Heideggers Konzepten inspiriert, aber er nimmt eine völlig andere Wendung des Gedankens vor. Freilich fiel lan- ge nur dem sorgsamen Leser die heideggersche Imprägnierung auf, ist doch von den ‚Leh- ren‘ also dem, was nach Heidegger Denker unausgesprochen lassen, die Rede.39 Die Briefe und das Denktagebuch bieten jedoch neue Materialien, und die starke Verbundenheit mit einigen Motiven ist nun sehr deutlich. Näher mit der Arendtschen Lesart des Höhlen- gleichnisses haben sich wohl nur Miguel Abensour und Günter Magiera auseinanderge- setzt.40 Allerdings gehen beide nur kursorisch auf den m.E. entscheidenden Aufsatz, näm- lich „Tradition und die Neuzeit“ ein, den ich jetzt erörtern möchte. Auch in diesem Ab- schnitt greife ich mehrfach auf Notizen aus dem Denktagebuch zurück, aber nun, um Aussagen aus dem Essay über die Tradition zu explizieren. Die erklärte Intention von Arendts Essay über die Tradition ist die Suche nach totalitär- en Wurzeln in der politischen Philosophie, wobei Marx den Bezugspunkt bildet. Von der These ausgehend, dass am Anfang und Ende von Traditionen erkennbar sei, was in ihnen steckt, wird von Arendt eine Tradition der politischen Philosophie beschrieben. Dabei rücken sachlich drei Rebellionen – die alle an Hegel anschließen – in den Mittelpunkt, nämlich Kierkegaard auf dem Gebiet der Religion, Marx auf dem Feld der politischen Phi- losophie und Nietzsche im Bereich der Metaphysik. Alle drei Rebellionen gelten Arendt als nicht radikal genug und würden den Rahmen, der der Tradition zugrunde liegt, nicht verlassen. Gewollt oder nicht, die Tradition wirke in ihnen weiter, besonders Marx, der sich primär als Rebell sehe, stecke tief in ihr. Ungeachtet dieser Kritik gelten die drei Re- bellen als die ersten Philosophen, die ein „Denken ohne Geländer“ gewagt haben,41 wes- halb nun, und zwar prinzipiell vom zeitgenössischen Ende der Tradition her, auf den An- fang geblickt werden könne und müsse. Dieser Anfang ist besonderer Art, denn er gibt einen Grundakkord vor, den Arendt in Plato und dessen Höhlengleichnis erkennt. Aus- drücklich bestimmt sie dieses Gleichnis als das Zentrum seiner ‚Lehre‘, wie sie mit Hei- degger formuliert,42 und das ist prinzipiell gemeint. So hält Arendt im Denktagebuch au- ßerordentlich treffend fest: „Ad Heideggers Interpretationen: Das Neue besteht in Folgen- dem: Heidegger nimmt nicht nur an (was andere vor ihm taten), dass jedes Werk ein ihm spezifisch Unausgesprochenes in sich trägt, sondern dass dies Unausgesprochene seinen gungen enthalten sind, inklusive der inzwischen fast zu häufig interpretierten Benjaminschen Metapher vom „Perlentauchen“. Vgl. dazu auch Schöttker, Detlev/Wizisla, Erdmut: „Hannah Arendt und Walter Benjamin Konstellationen, Debatten, Vermittlungen.“ In: dies. (Hg.): Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, Frankfurt a.M. 2006, 11-44, hier 23-31. 38Ich diskutiere nicht, inwieweit die Darstellung der Rebellionen hermeneutisch besonders angemessene Inter- pretationen sind, sondern zeige nur, wie Arendt ihre These anlegt. 39Heidegger, Martin: Platos Lehre von der Wahrheit [1942, geht auf eine VL von 1931/32 zurück], Frankfurt a.M. 41997, 5. 40Abensour, Miguel: “Against the Sovereignty of Philosophy over Politics: Arendt’s Reading of Plato’s Cave Al- legory”. In: Social Research vol. 74, No. 4, Winter 2007, 955-982, Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frankfurt a.M. 2007. 41Arendt, Hannah: “Tradition und die Neuzeit“. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politi- schen Denken I. Hg. v. Ursula Ludz München 1994, 37. 42Ebenda S. 23. Dort heißt es: „Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren [meine Herv. HB.] Platos und Aristoteles‘.“ Das amerikanische Teaching verdeckt den Sinn der kategorialen Bestimmung. 139 Harald Bluhm | Arendts Plato | http://www.hannaharendt.net eigentlichen Kern bildet […] Auf diesen Platz setzt sich Heidegger, also in die Mitte des Werkes, in der sein Autor gerade nicht ist, als sei dies der ausgesparte Raum für den Leser oder Hörer. Von hier aus rückverwandelt sich das Werk aus dem Resultathaft-tot-Ge- druckten in eine lebendige Rede, auf die Widerrede möglich ist. Es ergibt sich ein Zwiege- spräch, bei dem der Leser nicht mehr von aussen kommt, sondern mittendrin beteiligt ist.“ (DT 353f.). Plato wird genau in diesem Sinne von Arendt ebenfalls tiefenhermeneu- tisch aufgrund einer philosophischen Erfahrung und der Erzeugung eines philosophi- schen Konzeptes, in dem die Abwendung von der Welt der wirklichen Dinge leitend ist, beurteilt. Plato verallgemeinere jedoch nicht nur eine philosophische Erfahrung und wen- de sich von der Politik ab, messe sie an der Philosophie und stelle ihr den Himmel der Ideen gegenüber, vielmehr habe er bereits eine erste Umkehrung vollzogen. Er kehre nämlich, und das ist die Pointe von Arendt, die homerische Welt um. Aber nicht eine Rückkehr zur homerisch-kriegerischen Ethik à la Nietzsche ist es, was Arendt hier anzielt, sondern das Aufdecken einer praktischen, unverstellten Erfahrung des Politischen bei den Griechen vor Plato. Letzterer hat demnach nicht nur die Seinsfrage verstellt (Heideg- ger), sondern keinen Zugang zur politischen Philosophie gefunden oder paradox ausge- drückt, eine unpolitische-politische Philosophie geschaffen, deren Grundakkord nach Arendt bis zu Marx reichen wird.43 Der groß angelegte Gedankengang ist mithin massiv von Motiven Heideggers beein- flusst, von dessen Interpretation des Höhlengleichnisses, der Idee der Destruktion der Geschichte der Philosophie, um zu ursprünglichen Einsichten und Erfahrungen zurück- kehren zu können, sowie der Aufspaltung der griechischen Tradition. Aristoteles fällt aus- drücklich mit in dieses Programm der Destruktion einer Tradition. Scharf heißt es im Denktagebuch einmal, er ersetze Idee durch Telos und verbleibe damit im problemati- schen Rahmen, ungeachtet seiner treffenden Kritik an Plato, nach der dieser bekanntlich die Polis falscher Weise mit dem Oikos identifiziert.44 Genuin politische Erfahrungen sind erst – wie knapp umrissen – mit Rekurs auf Homer zu gewinnen. Arendt variiert die Mo- tive jedoch nicht nur, sondern reiht auch Heidegger auf spezifische Weise in die Tradition „un“politischer Philosophie ein, da er sich nicht der Politik zuwendet und sie nicht an ih- rem eigenen Maßstab zu messen vermag. Seine Kritik der Metaphysik, der Philosophie, bleibe somit unvollständig. Und es sei kein Wunder, dass er in politischen Dingen sub- stantiell und auf dramatische Weise fehl geht. Der Philosoph im alten Sinne bestehe in Heidegger fort. Innerhalb dieses Rahmens wird das Höhlengleichnis näher erörtert. In „Tradition und die Neuzeit“ heißt es: „Den Anfang setzte Plato im ‚Staat‘, genauer im Höhlengleichnis, das, weil es weder von Philosophie noch von Politik handelt, sondern von der Beziehung zwischen ihnen, den eigentlichen Kern von Platos politischer Philosophie darstellt.“45 Dies ist zugleich eine Kritik an Heidegger, der diese Relation ebenfalls nicht angemessen the- matisiert habe. Aber in der Wahrheitsauffassung und dem Konzept des Denkens folgt sie 43Auch Heidegger sieht die Tradition der Philosophie von Plato bis Marx reichen – vgl. Magiera, Günter: Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frank- furt a.M. 2007, 33. 44Zudem wirft Arendt Aristoteles Subjektivierung vor. Vgl. DT, 25f. 45Arendt, Hannah: „Tradition und die Neuzeit“, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politi- schen Denken I. Hg v. Ursula Ludz, München 1994, 9. 140

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sche Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch Platon und Heidegger, Frankfurt a.M. 2007 und Seitz, Jacob Stefan:
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