Arbeiten, Handeln, Wissen Tätigkeitstheoretische Untersuchungen zu einem dialektischen Arbeitsbegriff Von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) genehmigte Abhandlung Vorgelegt von Jan Müller aus Lüdenscheid Hauptberichter: Prof. Dr. Christoph Hubig Mitberichter: Prof. Dr. Michael Weingarten Tag der mündlichen Prüfung: 30. April 2010 Institut für Philosophie der Universität Stuttgart März 2010 Inhalt 0. Zusammenfassung .................................................................................................... 3 I. Vom Inbegriff zur Handlungstheorie ......................................................................... 7 1. Historische Rückversicherung ...................................................................................................... 7 2. Perspektiven auf ‚Arbeit’: ‚Arbeit am Inbegriff’ ..................................................................... 23 3. ‚Arbeit’ und ‚arbeiten’: Grammatische Klärungen ................................................................. 44 II. ‚Arbeiten’ als Handeln ........................................................................................... 71 1. ‚Handeln’ und ‚Handlung’ .......................................................................................................... 75 2. Arbeiten und Handeln als Handlungstypen ............................................................................ 102 3. Zweckrationales Prinzip und Gattungsgeschichte: Aufgaben einer ‚Kritischen Theorie’ der Gesellschaft ........................................................................................................................... 107 4. Vermittlungsversuche: Das Ausdrucks- und Entäußerungsmodell des Handelns .............. 124 5. Generalisierungsversuche: Das „Produktionsparadigma“ und sein „Veralten“ ................ 138 III. Handeln und Tätigsein: ‚Arbeit’ als Reflexionsbegriff ........................................ 158 1. Handlungstypen und Weisen des Handelns: Zur Grammatik ihrer Unterscheidung ........ 159 2. ‚Poiesis’ und ‚Praxis’: Revision einer Leitdifferenz ............................................................... 176 3. Prozesse und Tätigkeiten ........................................................................................................... 195 4. Ausblick: ‚Arbeit’ als Reflexionsbegriff .................................................................................. 206 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 217 1 2 0. Zusammenfassung Das Ziel der vorliegenden Studie ist es, die Funktion der Verwendung der Ausdrücke ‚arbeiten’ und ‚Arbeit’ und ihr logisches Verhältnis zu den Begriffen des Handelns und der Tätigkeit zu klären. Motiviert ist diese Untersuchung durch die sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Debatten über die angemessene Bewertung rezenter Krisendiagnosen vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“. Diese Diskussionen leiden darunter, dass in unterschiedlichsten Bedeutungen von „Arbeit“, „Lohnarbeit“ und „Tätigkeit“ gesprochen wird. Sie gleichen darin dem alltäglichen Sprechen, in dem die Verwendung der Ausdrücke ‚arbeiten’ und ‚Arbeit’ notorisch vielfältig ist: Sie bezieht sich in ganz unterschiedlicher Weise auf differente Gegenstandsbereiche und ist in unklarem Ausmaß geprägt durch historische, geistesgeschichtliche und ideologische Unterscheidungen, die die Vielfalt unserer Gebrauchsmöglichkeiten bestimmen. Die Analyse der Form des Gebrauchs beginnt daher mit einer typologischen Rückversicherung über die Entwicklung dieser Gebrauchsweisen und ihrer Bedeutung (Kap. I,1). Der Ausdruck ‚Arbeit’ wird damit zunächst als ein ‚Inbegriff’ rekonstruiert, der unterschiedliche, kategorial inhomogene Inhalte unter dem einheitlichen Interesse zusammenfasst, Kriterien zur Beschreibung und Beurteilung menschlichen Handelns zu bündeln. Unter dem Titel ‚Arbeit’ werden demnach a) Handlungen angesprochen, die individuellen Handlungssubjekten durch eine anthropologische Verfasstheit des Menschen aufgezwungen werden; b) Handlungen, die als mühsam erfahren werden, und c) Handlungen, die sozial als Leistungen anerkannt oder ökonomisch honoriert werden. Die Rekonstruktion exemplarischer soziologischer und philosophischer Klärungsversuche dieser Vielfalt zeigt, dass eine Vereinheitlichung des Begriffsgebrauchs auf eines oder mehrere dieser Kriterien zu widersprüchlichen und kontraintuitiven Bestimmungen eines Handelns als ‚Arbeit’ führt, ihre verallgemeinernde Zusammenführung dagegen nur um den Preis der Investition metaphysischer oder anthropologischer Grundannahmen gelingen kann (Kap. I,2). Dieses Scheitern hat seinen Grund in der grammatischen Allgemeinheit des Handlungsausdrucks ‚arbeiten’: Er bezeichnet ein Handeln in nur unspezifischer, ‚nicht-sortierender’ Weise (Kap. I,3). Handlungstheoretisch wird damit so umgegangen, dass ‚Arbeit’ als ein besonderer Typ des Handelns angesehen wird (Kap. II,1). Diese Strategie wird exemplarisch am 3 Vorschlag von Jürgen Habermas diskutiert: ‚Arbeit’ als Typ eines zweckrationalen, instrumentellen Handelns wird vom Handlungstyp des kommunikativen Handelns dadurch unterschieden, dass ‚Arbeit’ einer anderen Rationalitätsform folge als Kommunikation (Kap. II,2). Diese Unterscheidung soll erlauben, die inbegrifflich geläufigen Verwendungen des Arbeitsbegriffs – seine anthropologische (Kap. II,3) und ökonomistische (Kap. II,4) Interpretation – als „philosophische Dramatisierungen“ zu kritisieren. Die handlungstheoretische Bestimmung von ‚Arbeit’ als instrumentellem Handlungstyp ist jedoch inkonsistent: Entweder gilt die These von der prinzipiellen Verschiedenheit von Arbeit und Interaktion; dann ist Kommunikation nicht mehr als Handeln verstehbar. Soll dagegen am Begriff des kommunikativen Handelns festgehalten werden, dann ist der Unterschied der beiden Handlungstypen nur noch graduell, nicht mehr typologisch verständlich (Kap. II,5). Die handlungstheoretische Bestimmung des Arbeitens erweist sich als unbrauchbar, weil sie ‚arbeiten’ als eine bestimmte Sorte von Handlungen konzipiert (Kap. III,1). Alternativ wird hier gezeigt, warum sich der Ausdruck ‚Arbeit’ und seine inbegriffliche Bedeutungsvielfalt nicht auf durch handlungstheoretisches Vokabular überformte Handlungstypen, sondern auf die Vollzugsperspektive eines Tuns bezieht (Kap. III,2). Der Ausdruck ‚Arbeit’ charakterisiert, wie in der Interpretation der aristotelischen Unterscheidung von poiesis und praxis (Kap. III,3) gezeigt wird, die Form menschlichen Tätigseins überhaupt. Diese Bestimmung betrifft näher die Momente der Gesellschaftlichkeit des Tätigseins, seine Prozessualität und seine Produktivität (Kap. III,4). Die Beurteilung eines Tuns als ‚Arbeiten’ fungiert reflexionsbegrifflich (Kap. III,5): Es wird damit angezeigt, dass der Vollzug eines Tuns formal unter dem Aspekt beurteilt wird, wie er zur Form gesellschaftlicher Praxis und ihrer tätigen Reproduktion steht. Die inbegrifflichen Thematisierungen erweisen sich so rückblickend als verdinglichende Missverständnisse der reflexionsbegrifflich durch den Ausdruck ‚Arbeit’ ermöglichten Hinsichten in der Beurteilung menschlicher Handlungs- und Lebensvollzüge. 4 Summary This inquiry illuminates the function of the expressions ‚(to) work’, ‚work’ and ‚labour’ and their logical relation to the concepts of action and activity. It is motivated by recent debates, both political and in the social sciences, on how to interpret the thesis about an „end of the working society“ and the related, manifold observations of social crises. These debates suffer from lack of conceptual and linguistic clarity in the use of their pivotal linguistic means. In this respect they resemble ordinary language in which usage is as widespread as divergent; uses of the expression „(to) work“ apply to vastly different subject matters and are implicitly linked to distinctions that derive from historical and ideological contexts, all of which determine our actual uses in everyday discourse. Analysis of the forms of usage thus starts with a brief historical overview, in which the development of forms of use of said expressions and their meaning is presented (ch. I,1). The expressions ‚work’ and ‚labour’ are initially treated as epitomes, that is, as concepts that combine categorically different approaches to different subject matters under one unifying interest, i. e. to concentrate distinctions and criteria for the evaluation of human action. The expression ‚work’ serves as a title that denotes a) heteronomous action into which an agent is thought to be forced by the human condition; b) actions that are experienced as laborious, as well as c) actions which are socially acknowledged or economically rewarded. Exemplary reconstruction reveals that attempts to standardize usage of the terms ‚work’ or ‚labour’ using one or more criteria of their epitomal use typically fall short, leading to inconsistent or contraintuitive interpretations of the ordinary use. Attempts to expand both the concepts’ intension and extension on the other hand fail in that they are forced to implement strong claims about the human condition or to invest unfounded metaphysical assumptions to back up their assertions (ch. I,2). This failure derives from the expressions’ logical grammar: ‚(to) work’ is a general action concept that denotes activities only in a generic, ‚non-sortal’ way (ch. I,3). A Theory of Action deals with this grammatical feature by explaining ‚work’ to be a type of action (ch. II,1). This kind of approach is exemplified by evaluating Jürgen Habermas’ proposal to conceive ‚work’ as the type of instrumental action, as opposed to the type of communicative action, the distinction between both being drawn by relating both to different types of rationality (ch. II,2). This distinction is to correct the effect that anthropological as 5 well as economistic aspects pertaining to certain forms of the epitomal use of ‚work’ have had, which have facilitated the formation of the so-called „production paradigm“ (ch. II,3-4). The definition of ‚work’ as instrumental action in terms of action theory ultimately however turns out to be inconsistent: either communication and instrumental action are governed by different types of rationality, thus making it impossible to conceive of communicating as acting – or communication is indeed an action, thus revealing the distinction to be gradual rather than typical (ch. II,5). While the conception of ‚work’ that seeks to formulate ‚working’ as a type of action is internally incoherent, the reason for its contradictory conclusions lies in the fact that philosophical Theories of Action fall short of understanding the logical grammar of their pivotal concepts: acting, action, process an activity (ch. III,1). This is because the use of the expression ‚work’ indicates the actual execution of an activity rather than referring to an action type; it reflects upon ‚acting’ rather than ‚an act’ (ch. III,2). The expression ‚work’, just as the Aristotelian distinction between poiesis and praxis, indicates aspects of the form of human activity, more precisely: it characterizes the form of activity in specifying processuality, sociality and productivity as its essential aspectual properties (ch. III,3). In evaluating an action as activity the expression ‚(to) work’ serves as a reflective concept (ch. III,4): Its use indicates a form of judgement in which the exercise of an activity is conceived as related to social praxis and its active reproduction. Thus, the epitomal uses of the concepts ‚work’ and ‚(to) work’ are now in retrospect shown to imply reificating misconceptions of these reflective judgements about human activity, judgements, which were indicated by and facilitated in the practical use of the reflective conception of ‚work’. 6 I. Vom Inbegriff zur Handlungstheorie „Ein philosophisches Problem hat die Form: ‚Ich kenne mich nicht aus’.“ (Wittgenstein 1953, § 123) 1. Historische Rückversicherung Dass der Ausdruck ‚Arbeit’ – mit den Worten Manfred Riedels – „nicht primär“ einen „wissenschaftlichen, explizit normierten Prädikator“ bezeichnet, sondern als „umgangssprachliche[r] Ausdruck“ auftaucht, „dessen Bedeutung in der Vergangenheit (nach dem Zeugnis überlieferter Texte zu schließen) außerordentlich wechselhaft gewesen und (nach unserer eigenen Sprecherfahrung) bis heute höchst schwankend, ja heftig umstritten und wortpolitisch umkämpft ist“ (Riedel 1973, 126), ist eine für wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchung der Ausdrücke ‚arbeiten’ und ‚Arbeit’ übliche Einschränkung.1 Dass diese Apologie immer wieder auftaucht, ist Indiz für ein methodisches Problem: Wir kennen, alltags- und wissenschaftsfachsprachlich, zahllose Verwendungen der Ausdrücke ‚arbeiten’ und ‚Arbeit’; wir wissen also, wie auch immer undeutlich und unausdrücklich, um die Unterscheidungs- und Ordnungsfunktionen, die diese Ausdrücke in unserem Sprechen erfüllen. Diese Kenntnis markiert den methodischen Anfang des Unternehmens, die Geschichte dieser Gebrauchsweise zu erzählen; und es ist mithin kaum verwunderlich, dass diese Rekonstruktionen im wesentlichen genau die Unsicherheit des heutigen Gebrauchs in historischen Verwendungen dieser Ausdrücke (oder des betroffenen Wortfeldes) wiederfinden. Diese Unsicherheit zeigt sich in einer typisierenden Geschichte historischer Gebrauchsweisen und ihres Verhältnisses; wir führen sie an, um uns gleichsam unserer eigenen sprachlichen Unsicherheiten zu versichern. 1. Der antike Sprachgebrauch kennt den Ausdruck ergázesthai, der „verschiedenste Arten des Arbeitens bezeichnen konnte“; „die dadurch gestiftete Gemeinsamkeit 1 Solche wort- und begriffsgeschichtlichen Vorklärungen gehören gleichsam zur Gattungskonvention der historischen, soziologischen und i. e. S. philosophischen Beschäftigung mit ‚Arbeit’. Sie stimmen in ihren Ergebnissen – auch durch stabilisierende Querverweise aufeinander – im Wesentlichen überein. Ich nenne exemplarisch: Barzel 1973, Conze 1972, Engels 2006, Frambach 1990, Fritz 2006, Hund 1990, Kocka 2003, Meier 2003, Moser 1964, Riedel 1973, Walther 1990; desgl. die Beiträge in Schubert 1986. 7 reichte jedoch nicht weit“ (Meier 2003, 19). Man sieht bereits, wie die Erläuterung des griechischen Wortgebrauchs weniger eine Klärung unseres Gebrauchs des Ausdrucks ‚Arbeit’ herbeiführt, als vielmehr von ihm ausgeht und ihn investiert. Die Funktion des Verbs ergázesthai ist die Klassifizierung von Handlungsweisen; es sortiert Handlungsweisen nach ihrem allgemeinen Zweck: „das Erwerben von Nahrung oder allgemeiner gesagt: von Lebensunterhalt“ (Meier 2003, 25). Die Beurteilung dieser Handlungsweisen ist dabei in archaischer Zeit noch durchaus zwiegespalten, wie auch die Sortierung von Tätigkeiten nach dem allgemeinen Zweck der Erzielung und Sicherung des ‚Lebensunterhaltes’ inhomogen ist und Ausnahmen zulässt. So sei noch bei Hesiod und Xenophon, berichtet Jean-Pierre Vernant, die landwirtschaftliche Tätigkeit in einen religiösen Kontext gestellt worden – sie ist eine besondere Form der Verhältnispflege zu den transzendenten Gestalten des Götterkosmos. Ebenso positiv wie die Landwirtschaft sei das Kriegshandwerk beurteilt worden; beide stehen auf einer Stufe und – etwa in der Ökonomie des Xenophon – dem Handwerk im engeren Sinn als einer ‚niederen Tätigkeit’ gegenüber.2 Der Grund für diese unterschiedliche Bewertung von Tätigkeiten liegt in der Entwicklung der arbeitsteiligen Gesellschaft und ihrer politischen Formen. Dabei wird früh zum Maßstab, dass manche Tätigkeiten als notwendig erfahren werden in dem Sinn, dass sie – um den Preis einer Beschädigung des Gemeinwesens – nicht unterlassen werden können. Das ist noch kein Grund für eine Abwertung; diese kommt erst zustande, wenn menschliches Handeln überhaupt einer wertenden Sortierung und Reflexion unterworfen wird. Die wegweisende Unterscheidung ist die aristotelische zwischen poiesis und praxis. Man fasst diese Unterscheidung üblicherweise so auf, dass sie Handlungstypen nach ihrer Zweck-Mittel-Struktur differenziert: als poiesis (‚Herstellung’) gelten Handlungen, die ihren Zweck ‚außer sich’ haben, also in einem Produkt resultieren; praxis dagegen bezeichnet Handlungen, die ihren Zweck ‚in sich’ haben, deren Ausführung selbst ihr Zweck ist.3 Diese Unterscheidung liefert zugleich eine Unterscheidung von unfreiem, also heteronomem und durch äußere Notwendigkeit gesetztem Handeln, und dem autonomen Handeln im engeren Sinn. Erst in Verbindung mit dieser allgemeineren Reflexion ergibt sich die Abwertung gewisser Tätigkeiten4 in genau dem Maß, in dem 2 Vgl. Vernant 1955, 262. 3 Vgl. Aristoteles, EN I 2, 1095b 17f. und Met. IX 6, 1048b 17ff.; die „Nikomachische Ethik“ wird in der Übersetzung von Wolf, die „Metaphysik“ nach der Übertragung von Bonitz zitiert. – Diese übliche Deutung ist ein Gemeinplatz. Wir kommen auf die Differenzierung des Aristoteles in Kap.III,2 zurück. 4 Vgl. Frambach 1990, 40f. 8
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