WORKING PAPERS 06 facing poverty Der Fähigkeiten- Ansatz von Amartya Sen und die „Bevorzugte Option für die Armen“ in der Befreiungstheologie - Zwei Ansätze auf dem Weg zur ethischen Begrün- dung von Armutsforschung und Armutsreduktion Thomas Böhler University of Salzburg/Austria Poverty Research Group FWF (AUSTRIAN SCIENCE FUND): RESEARCH PROJECT Y 164 Februar 2004 “Facing Poverty” is the Series of Working Papers of an interdisciplinary research group. Editor: Clemens Sedmak We are focussing on (a) interdisciplinarity in poverty research and the effort to establish poverty research as a genuine discipline (b) bridging the gap between academic research and humanitarian practice, between university and NGOs. These Working Papers are intended to be points of reference for discussion: “Administrative and bureaucratic practice has disseminated the terms ‘working papers’ or, notably in American idiom, ‘position papers’. These terms could be useful in defining a certain stage and style of nitellectual argument. A ‘working’ or a ‘position’ paper puts forward a point of view, an analysis, a proposal, in a form which may be comprehensive and assertive. It seeks to clarify the ‘state of the art’ at some crucial point of difficulty or at a juncture from which alternative directions can be mapped. But its comprehension and assertiveness are explicitly provisional. They aim at an interim status. They solicit correction, modification, and that collaborative disagreement on which the hopes of rational discourse depend. A ‘working paper’, a ‘position paper’, is one which intends to elicit from those to whom it is addressed a deepening rejoinder and continuation.” (George Steiner) In this sense, we would be grateful for any comments and feedback. Contact: Prof. Clemens Sedmak Poverty Research Group, University of Salzburg Department of Philosophy Franziskanergasse 1, A – 5020 Salzburg, Austria/Europe [email protected] Please visit our homepage: www.sbg.ac.at/phi/projects/theorien.htm Working Papers, University of Salzburg, Poverty Research Group ISSN 1727-3072 3 1. Einleitung 5 2. Der Fähigkeiten–Ansatz von Amartya Sen ........................................11 2.1. Grundidee des Ansatzes .........................................................................11 2.2. Historische Entstehung – Paradigmenwechsel? ..............................13 2.3. Kategorien des Fähigkeiten–Ansatzes: Functionings und Capabilities ...............................................................14 2.4. Philosophischer Hintergrund des Ansatzes ......................................18 2.4.1. Freiheit ..................................................................................................20 2.4.2. Lebensstandard ...................................................................................22 2.4.3. Gerechtigkeit und Gleichheit ..........................................................24 2.4.4. Armutsbegriff ......................................................................................27 2.5. Bedeutung des Ansatzes für die Wirtschaftswissenschaften ........29 2.6. Plädoyer für die Anwendung .................................................................31 2.7. Mängel der Theorie – Nachteile durch Sen? .....................................32 2.7.1. Konkrete Umsetzung des Fähigkeiten–Ansatzes ......................32 2.7.2 „Äußere Einflüsse“ .............................................................................34 2.7.3. Gibt es Gleichheit? Die Probleme des Vergleichs ....................34 2.8. Einflüsse auf Armutsforschung und –minderung ...........................35 2.9. Pädagogische Ansätze für die Kommunikation der Theorie .......37 3. Die „Bevorzugte Option für die Armen“ (PO) .................................38 3.1. Grundgedanke von PO ...........................................................................38 3.2. Historische Entstehung und theologische Begründung ................40 3.3. Kategorien der „Bevorzugten Option für die Armen“ ...................44 3.3.1. Die bevorzugte Option – Verteilungsoption oder Wachstumsoption? ...................................................................44 3.3.2 Armutsbegriff .......................................................................................46 3.3.3. Befreiung (durch Solidarität) ...........................................................47 3.3.4. Gerechtigkeit .......................................................................................49 3.3.5 Gleichheit ..............................................................................................51 4 3.4. Problematik des Begriffs in der Wissenschaft ..................................53 3.5. Die PO in Wirtschaftstheorie und –praxis ........................................55 3.5.1. Der Link zwischen Ökonomie und PO .......................................54 3.5.2. Theoriebildung in der Ökonomie ..................................................58 3.6. Freiheit wirtschaftlichen Handelns ......................................................62 3.6.1. Gerechtigkeit wirtschaftlichen Handelns .....................................63 3.6.2. Perspektivität wirtschaftlichen Handelns ....................................64 3.6.3. Ebenen wirtschaftlichen Handelns ...............................................64 3.6.3.1 Globalebene ....................................................................................64 3.6.3.2. Unternehmensebene ....................................................................64 3.6.3.3. Arbeitnehmerebene ......................................................................65 4.Einflüsse auf Armutsforschung und Armutsminderung ...............65 Der Fähigkeiten–Ansatz von Amartya Sen und die „Bevor- zugte Option für die Armen“ in der Befreiungstheologie – Zwei Ansätze auf dem Weg zur ethischen Begründung von Armuts- forschung und Armutsreduktion Thomas Böhler 1. Einleitung Im Rahmen meiner Dissertation zum Thema „Das Dilemma der Ar- mutstheorie – Wie Ideologien Armutsforschung und Strategien in der Armutsminderung als Sektorpolitik in der Entwicklungszusammenarbeit beeinflussen – Das Beispiel von lokalen Best Practices aus dem Bildungs- sektor in Bolivien“ habe ich die theoretischen Grundlagen von Armuts- forschung und Armutsminderung1 näher beleuchtet und möchte mittels dieses Working Papers auf zwei der für diese Arbeit fundamentalen Theo- rien näher eingehen. Die Analyse dieser beiden Theorien soll im Weiteren dazu dienen, a) Erfolgsfaktoren für Armutsforschung und Armutsminderung abzulei- ten, b) mittels dieser Erfolgsfaktoren „beste Beispiele“ von Armutsfor- schung und Armutsminderung zu identifizieren und c) im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes in Bolivien aus ausgewählten Projekten die vorher festgelegten Erfolgsfaktoren zu bestätigen oder zu verwerfen. Dieses Working Paper fasst die Argumentation des Fähigkeiten– Ansatzes von Sen sowie die aus der Befreiungstheologie stammende The- orie der „Bevorzugten Option für die Armen“ (kurz: PO für Preferential Option) zusammen, welche im weiteren Verlauf in meiner Dissertation als 1 Der Begriff Armutsminderung wirkt ungewohnt und klinisch. Dennoch will ich ihn dem Begriff Armutsbekämpfung aufgrund dessen Assoziation mit einer „Kampf gegen …“– Rhetorik vorziehen; er ist auch dem Begriff Armutsreduktion aufgrund seiner mathema- tisch–mechanischen Konnotation vorzuziehen, obwohl das englische Pendant poverty reduction breit akzeptiert ist. Armutsminderung wurde aus dem Englischen übernom- men, und zwar von dem dort üblichen Begriff poverty alleviation. Mit Armutsminderung meinen wir sowohl sozialpolitische Aktivitäten in industrialisierten Ländern als auch die Tätigkeiten im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in ärmeren Ländern. 6 ethische Theorien bezeichnet werden; im Gegensatz zu einer Auswahl an wirtschaftlich motivierten Theorien. Diese Auseinandersetzung gilt als Ba- sis für die Auswahl von (ethischen) Erfolgsfaktoren, welche durch quali- tative Feldforschung in Bolivien geprüft und gegebenenfalls abgeändert werden müssen. Um Erfolgsfaktoren für Armutsforschung und Maßnahmen zur Minderung zu definieren, bedarf es in meiner Dissertation zunächst der Betrachtung des Status quo von wichtigen Armutsforschungsinstituten und Projekten, welche Armut lindern.2 Die Ableitung von Handlungsan- weisungen für in diesem Bereich tätige Menschen ist dabei nicht nur durch individuelle Vorstellungen dessen, was gut und richtig ist, sondern auch durch die besonderen Eigenschaften der Armutsforschung und Ar- mutsminderung selbst determiniert. Denn selbst wenn es einem Forscher gut und richtig erscheint, sich mit Armut zu beschäftigen und einer ande- ren Kultur zu Hilfe zu kommen, können sehr viele Fehler dazu führen, dass seine Hilfe zumindest nicht bestmöglich eingesetzt worden ist.3 Die Ableitung von Erfolgsfaktoren für richtige Handlungen im Be- reich der Armutsforschung und –minderung hängt mit einem Ethikkodex eng zusammen, welcher die Pflichten innerhalb einer Gemeinschaft be- schreibt (und in unserer Kultur auf eine christliche Begründungstradition baut). Nach der Definition der Pflichten und ihrer Rechtfertigung folgt die Begründung für die Gültigkeit dieses Kodexes durch die Vollmacht ihrer Prinzipien. Diese normative Ethik diskutiert also die richtige Moral in der Armutsforschung und Armutsminderung. Die moralischen Urteile sind dabei auf mehrere fundamentale Prinzipien zurückzuführen, die dazu ab- zustecken sind. Gleichzeitig ist die Begründung aber auch mit einer angewandten Ethik, nämlich der Wirtschaftsethik, verbunden: Durch die Folgen wirt- schaftlichen Handelns auf Mensch und Natur wurden Armutsforschung 2 Aktuelle Paradigmen wie Nachhaltigkeit, Awareness Rising, Participation, Partnership, Ownership, Institution Building, Empowerment etc. werden zunächst aus aktuellen Studien der Weltbank und der Vereinten Nationen, aber auch kleineren Nichtregierungsorgani- sationen und anderen Projekten identifiziert. 3 Siehe zu diesem und anderen Problemkreisen in der Armutsforschung eines der näch- sten Papers in dieser Reihe: Böhler, T. und C. Sedmak (2004), Eine ethische Untersu- chung von Armutsforschung und Armutsreduktion, Facing Poverty Working Papers, im Druck. 7 und Armutsminderung erst zu einem – selbst ökonomisierten, aber not- wendigen – Bereich wissenschaftlicher Arbeit, da die utilitaristische Ver- folgung kurzfristiger Ziele die langfristigen Grundlagen menschlichen Le- bens gefährdet. Besonders der „Konflikt zwischen Markt und Gesell- schaft“4 und die „fehlende Trennung von Rationalität und Vernunft in der Ökonomie“5 weisen auf die problematischen und fehlenden Argumentati- onslinien der Ökonomie in Bezug auf ein aus einer ethischen Strömung hervorgehendes Zusammenleben der Menschen hin. Um nun eine Begründung für die Verwendung der folgenden beiden Theorien anzubieten, möchte ich einige wichtige Punkte meiner eigenen Ethikposition darstellen, wobei ich mich darauf beschränken möchte, mich auf wirtschaftliche Handlungen – besonders im Zusammenhang mit Armutsforschung und Armutsminderung – zu konzentrieren. * * * Was sind gute und richtige Handlungen und wo liegen Wertebegründun- gen für die Gemeinschaft der Menschen in ökonomischer Hinsicht? Diese – wirtschaftsethische – Fragestellung beschreibt die elementare Problema- tik, die im Rahmen meiner Dissertation auf den Bereich der Armutsfor- schung und Armutsminderung angewandt werden soll. Ich will insbesondere auf die Individualethik oder Mikroethik der wirtschaftlichen Aktivitäten eingehen.6 Es geht um individuelle Entschei- dungen, welche von wirtschaftlichem Handlungsdruck und persönlicher Gesinnung und Werthaltung beeinflusst sind und auf einer gesellschaftli- chen Ebene zu Armut und Disparitäten aller Art führen. Bei der individu- ellen Betrachtung sollen diejenigen Personen, welche Armutsminderungs– und Erforschungsaufgaben übernehmen genauso im Mittelpunkt stehen wie Personen, die von Armut betroffen sind. Ethische Grundrichtlinien sind dabei notwendigerweise nicht nur dann durchzusetzen, wenn sie persönlichen Nutzen bringen; im Gegenteil: 4 Boysen, T. (2002), Transversale Wirtschaftsethik. Ökonomische Vernunft zwischen Lebens– und Arbeitswelt. Stuttgart, 12. 5 Ebd., 17. 6 Auch wenn eine Institutionen– und Unternehmensethik eine ebenfalls wichtige Per- spektive liefern würden. Folgende Fragen könnten untersucht werden: Sind Institutio- nen der Armutsforschung und Armutsminderung in ihrem Tun legitimiert? Welche Ziele verfolgen sie und welche Werte unterliegen ihren Handlungen? 8 es bedarf einer grundlegend freiwilligen Annahme einer ethischen Gesin- nung. Auch auf unternehmerischer Ebene wäre dabei zu betonen, dass der Eintritt der Ethik in die Wirtschaftspraxis aber nicht nur dann erfolgen sollte, wenn sie als Wettbewerbsvorteil für den Betrieb (z.B. bessere Repu- tation und höherer Umsatz durch als ethisch gut anerkannte Handlungen) nützlich ist. Und ebenso ist dies auf individueller Ebene so zu argumentie- ren.7 Aber welche Grundprinzipien können nun als ethische Basis dienen? Ein ethisches Grundprinzip soll die Legitimation bestimmter Moral- vorstellungen prüfen. Die in der Ökonomie dominierende Moralvorstel- lung des individuellen Nutzens ist dabei mit dem Fokus des utilitaristi- schen Ansatzes ethischer Untersuchungen – nämlich der Konzentration auf die Folgen und der allgemeinen Nutzen– (oder Wohlfahrts–?)erhö- hungen von Handlungen – gut zu verbinden. Die aristotelische Frage „Wie kann mein Leben gelingen?“ hängt mit der Nutzenüberlegung ein- zelner Menschen zusammen. Dennoch muss sie mit der Frage nach dem Gelingen des Lebens der ganzen Gemeinschaft (Hermeneutik der Lebens- führung)8 im Zusammenhang stehen, um aufgrund des sozialen Charak- ters der Menschen eine Individualethik auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene heben zu können.9 In dieser utilitaristischen Sicht wird aber das 7 Dadurch ist die Nähe zu einer theologischen Theorie (wie dies die „Bevorzugte Option für die Armen“ als zweite herangezogene Theorie ist) zu erklären. 8 Vgl. Volz, F.–R. (2002), Gelingen und Gerechtigkeit – Bausteine zu einer Ethik profes- sioneller Sozialer Arbeit, auf der Basis eines Vortrages vor der LAG Christlicher Sozial- arbeiterInnen im DBSH, LV Bayern, in der Akademie für Politische Bildung, Tutzing, Januar 2000, in: http://www.sozaktiv.at/texte/volz.pdf. Hier wurde für Sozialarbei- terInnen als HelferInnen ein ethisches Grundgerüst entwickelt, welches z.T. auch An- wendung für die ethischen Fundamente der Armutsforschung und Armutsminderung haben kann. Er verweist auf Charles Taylor und Paul Ricœur, die „bei der Erarbeitung einer Ethik des (professionellen) Helfens eine Hilfe sein könnten.“ (ebd., 7). Nach Ricœur zielt Ethik auf das „gute gelingende individuelle Leben, gemeinsam mit und für andere, in gerechten Institutionen.“ (Ricœur, P. [1996], Das Selbst als ein Anderer, zit. nach Volz, F.–R. [2002], 8). Er führt Taylor an mit seiner Unterscheidung und anschlie- ßenden Reflexion der sozialwissenschaftlichen Frage „Wie können wir menschliches Handeln und Verhalten beschreiben und erklären?“ und der ethischen Frage „Was macht Handlungen zu guten Handlungen?“ „‚Gut’ in dem Sinne, dass sich aus ihnen eine Lebensführungspraxis und eine Identität in Auseinandersetzung mit normativen Horizonten von Vorstellungen eines ‚gelingenden Lebens’ aufbaut“ (ebd., 9). 9 Dazu ist laut Rawls ein „unparteiischer Beobachter“ nötig, der „alle Menschen zu ei- nem“ (Rawls, J. [101998], Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M., 45) zusam- menfasst. 9 Problem der Verteilung der gesellschaftlichen Wohlfahrt nicht angespro- chen; es geht nur um die Steigerung dieser Wohlfahrt. „Der Utilitarismus nimmt die Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht ernst.“10 Aus diesem Grund muss die utilitaristische Sicht – Nutzenmaximie- rung und Folgenabwägung der eigenen Handlungen – mit dem fundamen- talen Gebot der Gerechtigkeit in Verbindung gebracht werden. Dieses entspricht einer Moral, die als Spiegel wirtschaftlicher Aktivitäten und ökonomischer Forschung besonders den Aspekt der Verteilung von Gü- tern und Leistungen impliziert und somit auf Verteilungsgerechtigkeit zu beschränken ist.11 Im Rahmen einer Ethik in der Ökonomie geht es um die Zusammen- arbeit und Investition zum gegenseitigen Vorteil (siehe Goldene Regel). Daher bedarf es für jeden am wirtschaftlichen Leben teilnehmenden Ak- teur eines Mindestmaßes an Voraussetzungen für diese Teilnahme und gesell- schaftliche Kooperation zum gegenseitigen Vorteil. Diese Tatsache spricht Sen in seinem Fähigkeiten–Ansatz an. Des Weiteren muss sich der Inves- tor darauf verlassen können, dass die mit seiner Investition verknüpften Erwartungen erfüllt werden (Verfügungsrechte etc.). Ehrlichkeit und Vertrauen verbindet die PO besonders mit dem Anliegen der Solidarität. In seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ geht John Rawls12 von einem Urzustand menschlicher Gleichheit aus, wo – unter dem Schleier des Nichtwissens über die soziale Stellung, Intelligenz oder Moralvorstellung des Einzelnen – gleiche Menschen sich auf gegenseitige Rechte und Pflichten einigen, die durch die gerechte Ausgangsposition geprägt sind. Es bedarf hier also zunächst des guten Willens der Menschen, miteinander zu verhandeln und einer Sichtweise gegenseitiger Gleichheit der Indivi- 10 Ebd. 11 Gegen die Verwendung des Freiheitsbegriffs als Grundprinzip spricht dessen Verwen- dung im Kapitalismus: Er half, ein Werteverständnis aufzubauen, welches durch Indivi- dualismus, Selbstverwirklichung und Gewinnmaximierung gekennzeichnet ist. Jeder habe die Freiheit, all das zu tun, um seinen Gewinn zu maximieren (zumindest solange die Freiheit anderer nicht eingeschränkt würde), wobei der Staat die Aufgabe der Siche- rung dieser Freiheit habe. Freiheit scheint daher durch seine ideologische Vorbelastung im momentanen Wirtschaftsmodell gerade für eine wirtschaftsethische Begründung nicht widerspruchslos verwendbar zu sein. Vielmehr wird über die Freiheit für die Mög- lichkeit der Durchsetzung wirtschaftlicher Handlungen argumentiert, die etwa einer Ge- rechtigkeitsethik widersprechen dürften. 12 Rawls, J. (2003), Eine Theorie der Gerechtigkeit, (Orig.: A Theory of Justice), Frankfurt a.M. 10 duen. Erst dann stellen nämlich moralische Prinzipien die idealen Bedin- gungen für soziale Zusammenarbeit dar (vgl. Kontraktualismus). Dennoch geht seine Theorie zunächst vom Grundsatz der gleichen Freiheit aus ohne Kenntnis einzelner Ziele (ohne Kenntnis des Guten), während das Wohl der Gesellschaft im Utilitarismus einzig vom Grad der Bedürfnisbefriedigung aller bestimmt wird. „Wohlgeordnet“ ist nach Rawls eine Gesellschaft dann, wenn sie zum gegenseitigen Vorteil zusam- menarbeitet und zwar nach Grundsätzen, die im fairen Urzustand gewählt wurden. Im Utilitarismus ist „wohlgeordnet“ nur auf die Maximierung des Gesamtnutzens bezogen. Wichtig ist für die Erstellung einer Theorie der Armutsforschung und Armutsminderung – genauso wie für ethisch richtiges Handeln in vielen anderen Fällen – die Analyse utilitaristischer Traditionen im Zusammen- hang mit ihrem Gerechtigkeitsbild. * * * Die nun folgenden beiden Theorien bilden in meiner Dissertation die Grundlage einer ethischen Theorie der Armutsforschung und Armuts- minderung. Der Fähigkeiten–Ansatz von Sen gründet auf einer neuen Armutsdefinition, welche über die ökonomisch bestimmbaren, materiellen Armutsbestimmungen hinausgeht. Sens Fokus liegt auf der Gerechtigkeit von Zugängen zu potentiellen Möglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten für alle Menschen und ist eng mit dem Begriff der Lebensqualität verbun- den. Die „Bevorzugte Option für die Armen“ (PO) wird darüber hinaus aus dem Glauben heraus begründet; dabei ist die Anwendung als ethische Begründungstheorie für ökonomische Armutsforschung deshalb so schwierig, weil christliche (religiöse) Kategorien in der Ökonomie einge- führt werden.13 Die Gerechtigkeitsvorstellung der Befreiungstheologen gründet dabei im Glauben und soll über das Individuum im wirtschaftli- chen Alltag zur Umsetzung kommen. Inwieweit diese normativen Handlungsanweisungen für eine verän- derte Wirtschaftspraxis und damit auch für eine reflektierte Auswahl von 13 Vgl. Divine Command Theory: Als normative Theorie besteht ein erkenntnistheoreti- sches Problem mit dem Zugang zum Willen Gottes. In ihrer stärksten Form sagt die Theorie etwa, dass Nächstenliebe gut ist, weil Gott wollte, dass Nächstenliebe gut ist. Hobbes, Hume und Mill bezeichnen Gottes Wille als irrelevant für ethische Standards.
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