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Anarchist und Abendessen PDF

84 Pages·2011·0.42 MB·German
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A S LTO D ieser Band sammelt zwei Prosaarbeiten, von Fernando Pessoa, dem bedeutendsten Dichter der Moderne in der portugiesischen Literatur. Zunächst muß sich ein fassungsloser Zuhörer von seinem Freund, einem berühmten Bankier (und überzeugten Anarchisten), über das Rätsel der Welt als Fiktion und über die machtvollste aller Fiktionen, das Geld, belehren lassen. Eine verwirrende Predigt, die in der selbstverständlichen Folgerung gipfelt: Der wahre Anarchist wird Bankier, der wahre Bankier ist konsequenter Anarchist. ›Ein ganz ausgefallenes Abendessen‹ ist ein Nachtstück in Poe'scher Manier. Es führt in ein fiktives Berlin, wo vor dem Auditorium einer gastronomischen Gesellschaft ein unerhörtes Versprechen eingelöst wird. Reinold Werners Nachwort, das sich mit Leben und Werk Fernando Pessoas beschäftigt, ist zugleich eine editorische Erläuterung über zwei ungewöhnliche und lange selbst Pessoa- Kennern unbekannt gebliebene Prosatexte. FERNANDO PESSOA Ein anarchistischer Bankier Ein ganz ausgefallenes Abendessen Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Reinhold Werner gescannt von macska ›‹ (ohne Abbildungen) Verlag Klaus Wagenbach Berlin INHALT Ein anarchistischer Bankier 9 Ein ganz ausgefallenes Abendessen 49 Nachwort 77 W ir hatten das Abendessen beendet. Mir gegenüber saß mein Freund, der Bankier, ein großer Händler und namhafter Schieber; er rauchte wie einer, der nicht denkt. Die Unterhaltung war allmählich ins Stocken geraten und erstarb schließlich ganz. Ich versuchte auf gut Glück, sie wieder in Gang zu bringen und bediente mich dabei der erstbesten Idee, die mir durch den Kopf ging. Lächelnd wandte ich mich ihm zu: »Richtig! Mir wurde erzählt, Sie seien früher Anarchist gewesen.« »Ich bin es nicht nur gewesen, ich bin es noch immer. In dieser Hinsicht habe ich mich nicht geändert. Ich bin Anarchist.« »Was Sie nicht sagen! Sie und Anarchist? Und wieso wären Sie Anarchist? ...Sie verstehen das Wort vielleicht anders...« »Anders als im gewöhnlichen Sinn? Nein, keineswegs. Ich gebrauche es im ganz gewöhnlichen Sinn.« »Sie wollen also sagen, Sie seien Anarchist im selben Sinne wie diese Typen von den Arbeiterorganisationen? Es gäbe also keinen Unterschied zwischen Ihnen und diesen Bombenlegern und Gewerkschaftstypen?« »Doch doch, es gibt einen Unterschied... Natürlich gibt es einen Unterschied. Es ist aber nicht der, an den Sie denken. Sie glauben vielleicht, ich hätte andere Gesellschaftstheorien als sie?« 9 »Ach so, ich verstehe! Sie sind Anarchist in der Theorie, aber in der Praxis sind Sie...« »Ich bin in der Praxis ebensosehr Anarchist wie in der Theorie. Und das sogar noch mehr, viel mehr als jene Typen, von denen Sie sprachen. Mein Leben ist der Beweis dafür.« »Wie bitte?« »Mein Leben ist der Beweis dafür, jawohl, mein Lieber. Sie haben offenbar diesen Dingen nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Deshalb glauben Sie, ich würde dummes Zeug reden oder mich über Sie lustig machen.« »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr! Es sei denn... es sei denn, Sie gehen davon aus, das Leben, das Sie führen, sei zersetzend und asozial; nun, wenn Sie Anarchismus so verstehen...« »Ich habe Ihnen schon gesagt: nein! Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich dem Wort Anarchismus keinen anderen als den gewöhnlichen Sinn unterlege.« »Gut! ...Aber ich verstehe immer noch nicht... Wollen Sie mir erzählen, es gäbe keinen Unterschied zwischen Ihren wahrhaft anarchistischen Ideen und Ihrer Lebenspraxis? - ich meine: Ihrer jetzigen Lebenspraxis? Wollen Sie mir denn weismachen, Ihr Leben stimme in allen Punkten mit dem der gewöhnlichen Anarchisten überein?« »Nein! nein, das ist es nicht. Was ich sagen will, ist, dass meine Theorien in keiner Weise von meiner Lebenspraxis abweichen; ganz im Gegenteil, beide stimmen absolut überein. Dass ich nicht das Leben der Bombenleger und Gewerkschaftstypen führe, stimmt. Doch deren Leben spielt sich jenseits des Anarchismus, jenseits ihrer Ideale ab. Meines nicht. In mir — jawohl, in mir, dem Bankier, dem großen Händler und Schieber, wenn Sie es so hören wollen — in mir vereinigen sich beide, Theorie und Praxis des Anarchismus, aufs genaueste. Sie haben mich mit diesen Idioten von Bombenlegern, mit denen von der Gewerkschaft verglichen, um zu beweisen, ich sei anders als sie. Das bin ich auch, nur ist der Unterschied folgender: die da (jawohl, die da, nicht ich) sind nur in der Theorie Anarchisten, ich bin es in der Theorie und in der Praxis. Die da sind Anarchisten und Dummköpfe, ich bin Anarchist und gescheit. Darum, mein Guter, bin ich der wahre Anarchist. Die von den Gewerkschaften und die Bombenleger (ich war ja auch einer von ihnen und habe sie gerade um des wahren Anarchismus 10 willen verlassen) - sie stellen ja nur den Abfall des Anarchismus dar, sie sind die Drohnen der großen anarchistischen Lehre.« »Nicht einmal der Teufel würde seinen Ohren trauen! Das ist einfach umwerfend! Und wie bringen Sie Ihr Leben — ich meine Ihr Leben als Bankier und Händler — und die Theorie des Anarchismus auf einen Nenner? Wie bringen Sie beide auf einen Nenner, wenn Sie sagen, Sie verstünden unter anarchistischer Theorie daßelbe wie die gewöhnlichen Anarchisten? Und noch dazu möchten Sie mir weismachen, Sie unterschieden sich von ihnen dadurch, daß Sie mehr Anarchist sind als jene, — ist dem nicht so?« »In der Tat.« »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!« »Liegt Ihnen denn daran, zu verstehen?« »Unbedingt!« Die Zigarre in seinem Mund war ausgegangen; er nahm sie und zündete sie langsam wieder an, betrachtete das Streichholz bis es abgebrannt war, legte es behutsam in den Aschenbecher, dann hob er den Kopf, den er eine Zeitlang gesenkt hatte und sagte: »Hören Sie! Ich komme aus dem Volk, ich stamme aus der Arbeiterklasse der Stadt. Wie Sie sich vorstellen können, ist mir nichts Förderliches in die Wiege gelegt worden, weder Rang noch entsprechende Verhältnisse. Es ergab sich lediglich, daß ich einen von Natur aus hellen Verstand besaß und einen hinreichend starken Willen. Doch hatte ich damit zwei Gaben, die mir meine niedrige Herkunft nicht streitig machen konnte. Ich wurde Arbeiter, habe gearbeitet und ein bedrückendes Leben geführt, wie die meisten Leute aus jenem Milieu. Nicht daß ich Hunger gelitten hätte, doch hätte oft nicht viel daran gefehlt. Das hätte übrigens an allem, was daraus folgte und was ich Ihnen jetzt erzählen werde, nichts geändert, nichts an meinem früheren und nichts an meinem jetzigen Leben. Ich war alles in allem ein ganz gewöhnlicher Arbeiter: ich habe gearbeitet, weil ich arbeiten mußte, aber so wenig wie eben möglich. Ich war nämlich gescheit. Bei jeder Gelegenheit las und diskutierte ich alles Mögliche, und weil ich nicht auf 11 den Kopf gefallen war, machten sich in mir große Unzufriedenheit und große Entrüstung breit über mein Los und über die gesellschaftlichen Bedingungen, die es so haben wollten. Ich habe Ihnen schon gesagt, es hätte schlimmer kommen können; aber damals schien mir, als sei ich ein Mensch, dem das Schicksal alle erdenklichen Ungerechtigkeiten angetan hatte, und als habe es sich dazu der gesellschaftlichen Konventionen bedient. Damals war ich wohl zwanzig oder höchstens einundzwanzig Jahre alt, und in jener Zeit wurde ich Anarchist.« Er schwieg eine Weile, beugte sich noch mehr vor und fuhr fort. »Ich war immer schon mehr oder weniger aufgeweckt. Ich spürte diese Entrüstung in mir und wollte sie verstehen. So wurde ich zu einem bewußten und überzeugten Anarchisten -zu dem bewußten und überzeugten Anarchisten, der ich heute noch bin.« »Und Ihre heutige Theorie, ist das dieselbe wie damals?« »Dieselbe. Die anarchistische Theorie, die wahre Theorie, das ist doch ein und daßelbe. Ich habe an ihr festgehalten, seitdem ich mich zum Anarchisten gemacht habe, Sie werden gleich sehen... Wie ich Ihnen schon sagte, war ich von Natur aus helle und wurde so zu einem bewußten Anarchisten. Nur, was heißt das, Anarchist sein? Das heißt, sich gegen die Ungerechtigkeiten auflehnen, die darin bestehen, daß wir gesellschaftlich gesehen ungleich zur Welt kommen - das ist es, was einen Anarchisten ausmacht. Daraus folgt, wie sich zeigen läßt, die Auflehnung gegen die gesellschaftlichen Konventionen, die diese Ungleichheit erst ermöglichen. Was ich Ihnen jetzt erklären will, ist der psychologische Weg: wie wird einer zum Anarchisten? Ich komme gleich auf die Theorie zurück. Versuchen Sie jetzt einmal, die Entrüstung eines gescheiten Typen unter solchen Umständen nachzuvollziehen. Wie sieht er die Welt? Der eine wird als Millionär geboren und ist von Geburt an gefeit gegen Mißgeschicke — und davon gibt es mehr als genug —, Mißgeschicke, die das Geld verhindert oder immerhin abschwächt; ein anderer kommt armselig zur Welt und ist von Kind an ein Mund zuviel in einer Familie, die mehr Münder stopfen muß, als sie kann. Der eine kommt als Graf oder Marquis zur Welt und genießt die Hochachtung der Menschen, egal 12 was er tut; ein anderer, wie ich, muß klein beigeben, will er wie ein Mensch behandelt werden. Manche werden so geboren, daß sie studieren, reisen und sich bilden können - sich intelligenter machen können (sagen wir es ruhig so) als andere, die es von Natur aus wären. So ist es und so wird es alles in allem weiterhin sein... D\e Ungerechtigkeiten der Natur — sei's drum! Wir können sie nicht abschaffen. Aber die der Gesellschaft und ihrer Verhältnisse — warum schaffen wir sie nicht ab? Ich nehme es hin, - und ich habe gar keine andere Wahl -, daß mir jemand überlegen ist, weil ihm die Natur gewisse Gaben geschenkt hat: Talent, Kraft, Energie. Ich nehme nicht hin, daß er mir aufgrund solcher Eigenschaften überlegen sein soll, die erst später hinzugekommen sind und die er nicht hatte, als er den Bauch seiner Mutter verließ, die vielmehr ein glücklicher Zufall ihm verliehen hat, kaum daß er draußen war - Reichtum, eine gesellschaftliche Stellung, Erleichterungen im Leben usw. Und aus dieser Auflehnung, die ich Ihnen hier darzulegen versuche, ging damals mein Anarchismus hervor — jener Anarchismus — ich sagte das schon — zu dem ich mich nach wie vor unverändert bekenne.« Wieder schwieg er eine Weile, als müsse er erst überlegen, wie er fortfahren könnte. Er rauchte und blies den Rauch langsam an mir vorbei. Dann wandte er sich mir wieder zu und wollte gerade fortfahren, als ich ihn unterbrach. »Eine Frage, aus purer Neugier... Warum sind Sie eigentlich Anarchist? Sie hätten ebensogut Sozialist werden können oder auf sonst etwas Fortschrittliches, aber weniger Entlegenes zurückgreifen können. Das hätte sich doch auch mit Ihrer Auflehnung vereinbaren lassen... Ich schließe aus dem, was Sie mir gesagt haben, daß Sie Anarchismus (und ich finde, das wäre eine gute Definition) als Auflehnung gegen alle gesellschaftlichen Konventionen und Formeln verstehen, als den Wunsch und das Bemühen, sie alle abzuschaffen...« »Genau das.« »Und warum haben Sie sich für diese extreme Lösung entschieden und nicht für irgendeine andere... eine irgendwo dazwischen?...« 13 »Das werde ich Ihnen gleich sagen. Ich habe über all das lange nachgedacht. Selbstverständlich kam ich durch die Flugblätter, die ich las, mit all diesen Theorien in Berührung. Ich entschied mich für die anarchistische Theorie - eine extreme Theorie, wie Sie ganz richtig bemerkt haben -, aus Gründen, die ich Ihnen in ein paar Worten verraten will.« Er starrte eine Zeitlang ins Leere. Dann wandte er sich wieder mir zu. D as wahre Übel, das Übel schlechthin, sind die gesellschaftlichen Konventionen und Fiktionen, die sich über die natürlichen Gegebenheiten legen — angefangen von der Familie bis hin zum Geld, von der Religion bis zum Staat. Man wird als Mann oder als Frau geboren — ich will damit sagen, man wird geboren, um als Erwachsener einmal Mann oder Frau zu sein; man wird aber nach den Gesetzen der Natur nicht geboren, um Ehemann oder um reich oder arm zu sein, ebensowenig kommt man als Katholik oder Protestant, als Portugiese oder Engländer zur Welt. All das wird man nur unter dem Einfluß gesellschaftlicher Fiktionen. Warum aber sind diese gesellschaftlichen Fiktionen schlecht? Weil es sich um Fiktionen handelt, weil sie nicht natürlich sind. Der Staat taugt ebensowenig wie das Geld, die Religionen ebensowenig wie eine Familiengründung. Gäbe es andere Fiktionen dieser Art, wären sie genauso schlecht, weil es auch nur Fiktionen wären, weil sie sich auch nur über die natürlichen Gegebenheiten legen würden und diesen im Wege wären. Und jedes System — außer dem rein anarchistischen, das ja all diese Fiktionen samt und sonders abschaffen will - ist auch nur eine Fiktion. All unser Wünschen und all unser Bemühen, unsere ganze Intelligenz darauf zu verwenden, eine gesellschaftliche Fiktion durch eine andere zu ersetzen, wäre absurd, wenn nicht ein Verbrechen, weil das darauf hinausliefe, Aufruhr in die Gesellschaft zu tragen, und das einzig und allein mit dem Ziel, nichts zu verändern. Wenn wir schon die gesellschaftlichen Fiktionen ungerecht finden, weil 14 sie das Natürliche im Menschen niederhalten und unterdrük- ken, warum dann unsere Kraft damit verschwenden, sie durch andere zu ersetzen, wo wir sie doch alle vernichten könnten? Mir scheint, das ist schlüssig. Doch nehmen wir einmal an, dem wäre nicht so; nehmen wir einmal an, man hielte dem entgegen, das alles sei ja ganz richtig, aber das anarchistische System sei in der Praxis nicht zu verwirklichen, prüfen wir ruhig diese Seite des Problems. Warum wäre das anarchistische System nicht zu verwirklichen? Wir Fortschrittler gehen alle von dem Grundsatz aus, daß das gegenwärtige System ungerecht ist, darüber hinaus aber meinen wir, daß es durch ein gerechteres ersetzt werden muß, damit Gerechtigkeit herrschen kann. Dächten wir anders, wären wir keine Fortschrittler, sondern Bourgeois. Woher kommt nun das Kriterium für Gerechtigkeit? Aus dem, was natürlich und wahr ist, im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Fiktionen und den Lügen der Konvention. Wenn aber etwas natürlich ist, dann ist es das ganz und gar nicht nur zur Hälfte, zu einem Viertel oder zu einem Achtel. Na schön! Dann aber eines von beiden: entweder läßt sich das, was natürlich ist, gesellschaftlich verwirklichen oder es läßt sich nicht verwirklichen; anders gesagt: entweder kann eine Gesellschaft etwas Natürliches sein oder die Gesellschaft ist im wesentlichen Fiktion, dann kann sie in keiner Weise etwas Natürliches sein. Wenn eine Gesellschaft etwas Natürliches sein kann, dann kann es auch eine anarchistische oder freie Gesellschaft geben, muß es sie geben, weil sie eine ganz und gar natürliche Gesellschaft wäre. Kann eine Gesellschaft aber nicht etwas Natürliches sein, sollte sie (aus welchem Grund auch immer) Fiktion sein müssen, dann sollten wir sie als das kleinere Übel betrachten und sie innerhalb dieser unvermeidlichen Fiktion so natürlich wie möglich gestalten, damit sie auch so gerecht wie möglich ist. Und welches ist denn die natürlichste Fiktion? Keine ist an sich natürlich, da sie ja Fiktion ist; am natürlichsten wäre in diesem Fall noch die, welche am natürlichsten erscheint, welche als am natürlichsten empfunden wird. Und welche erscheint am natürlichsten oder welche empfinden wir als am natürlichsten? Die, an welche wir gewöhnt sind. (Verstehen Sie: etwas ist natürlich, wenn es aus dem Instinkt kommt, und was zwar nicht aus dem Instinkt kommt, was ihm aber alles in 15

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