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Am Abgrund: eine Gewissensforschung; Gespräche mit Franz Stangl, Kommandant von Treblinka, und anderen PDF

208 Pages·1979·22.897 MB·German
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Ullstein Sachbuch Gitta Am Ullstein Buch Nr. 34024 im' Verlag Ullstein GmbH, Sereny Abgrund Frankfurt/M - Berlin - Wien Englischer Originaltitel: Into that Darkness. An Examination of Conscience Eine Gewissensforschung Deutsche Erstausgabe Gespräche mit Franz Stangl, Umschlagentwurf: Kommandant von Treblinka, Hansbernd Lindemann und anderen Alle Rechte vorbehalten © Gitta Sereny 1974 Deutsche Ausgabe © 1979 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Printed in Germany 1979 Gesamtherstellung: EbnerUlm ISBN 3 548 34024 5 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sereny, Gitta: Am Abgrund: e. Gewissensforschung; Gespräche mit Franz Stangl, Kommandant von Treblinka, u. a. / Gitta Sereny.- Dt. Erstausg. - Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1980. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch; Nr. 34024): Einheitssacht.: Into that darkness <dt.> ISBN 3-548-34024-5 Ullstein Sachbuch Danksagungen Für Don, Ich bin vielen Menschen und Organisationen für ihre Hilfe bei den für unsere Kinder Mandy und Chris, Vorarbeiten und Nachforschungen für dieses Buch Dank schuldig. und für Elaine Zunächst und in der Hauptsache habe ich den deutschen Justizbehör den zu danken, die mir den Zutritt zum Düsseldorfer Gefängnis und "----,, die Besuche bei Franz Stangl ermöglichten. Besonders danke ich dem l Ui'liVERSiT.l\TS " Leiter dieser Strafanstalt, Herrn Eberhard Mies (traurigerweise inzwi ~'IßLIOTH!!t( ) schen verstorben) und seiner Frau für die Freundlichkeit, die sie mir lEiPZIG <"" ,~~c während dieser anstrengenden Wochen erwiesen haben. Darüber hin /lA O ~ ZD' 'U,-- (l/-- aus statte ich den polnischen Behörden meinen Dank für ihre Unter I 'l .;) 1,,;:0 stützung meiner Arbeit in Polen ab, desgleichen den österreichischen Ministerien für ihre Bemühungen in Wien. Der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, Adalbert Rückerl, ' und seine Mitarbeiter unterstützen mich bereits seit 1967, als ich für das Daily Telegraph Magazine eine Artikelserie über NS-Prozesse vorbereitete, tatkräftig bei meiner Arbeit. Ferner danke ich dem Institut für Zeitgeschichte in München, das mir eine Fülle von Material zur Verfügung stellte, und besonders Dr. Lo thar Gruchmann, aus dessen Werk über »Euthanasie im Dritten Reich« ich in diesem Buch zitiere. Auch dem Deutschen Bundesarchiv in Koblenz statte ich meinen Dank ab. Ich stehe in der besonderen Schuld der »Wiener Library« in London und ihrer außerordentlichen Bibliothekare. Ich glaube nicht, daß im englischsprachigen Raum ein ernsthaftes Buch über den Nationalso zialismus ohne die Hilfe dieser einzigartigen Institution geschrieben werden kann. Die bei den Männer in der Bundesrepublik, die meiner Meinung nach »Die lllenschliche Seele besteht zur Hälfte mit am besten über spezielle NS-Verbrechen informiert sind, dürften aus Licht, zur anderen aus Schatten« die Staatsanwälte Alfred Spieß und Kurt Tegge sein. Kurt Tegge hat Thomas Carlyle (1795-1881) sich besonders um die sogenannten Einsatzgruppenprozesse in Ham burg verdient gemacht, und Alfred Spieß vertrat die Anklage sowohl im Treblinka-Prozeß als auch im Verfahren gegen Franz Stangl in Düsseldorf. Den beiden meinen warmen Dank dafür, daß sie ihre Er »Die Möglichkeit, sich zwischen Gut und Böse fahrungen so bereitwillig mit mir geteilt haben. Aber keine noch so zu entscheiden, ist jedem gegeben« formvollendete Danksagung kann das Maß an praktischer Hilfe und Origenes (185-254) Hinweisen vergelten, die mir Alfred Spieß in so reichem Maße zuteil 5 werden ließ. Ich erwarte natürlich absolut nicht, daß sie oder andere und den Pianisten Enrique Arias, für ihre Ermutigung, nachdem sie die mir halfen, sich mit den Auslegungen identifizieren, die ich in die sich mir zuliebe durch einen ersten rohen Buchentwurf hindurchgear sem Buch vertrete. beitet hatten. Dank auch an meinen Kollegen Paul Neuburg für die Ich danke Graf Eduard Raczynski, dem früheren Außenminister der selbe Mühe und die besonders wertvollen kritischen Hinweise - jeder polnischen Exilregierung, Herrn Adam Ciolkosz, ehemaliger soziali von ihnen berechtigt. Dank an Alice Hammerstein Mathias für ihre stischer Abgeordneter im polnischen Parlament, und seiner Exzellenz Bemühungen in der Literatur und dafür, daß sie genau die richtigen M. Kazimierz Papee, früher Botschafter Polens beim Heiligen Stuhl. Worte bei Carlyle und - vor allem - bei Origenes fand. Desgleichen bin ich Hubert Pfoch, Präsident des Landestages von Meinem alten und lieben Freund Paul Palmer, früherer Managing Edi Wien, für die Erlaubnis verbunden, aus seinem außergewöhnlichen tor des amerikanischen Reader's Digest, will ich hier für das Vertrauen Kriegstagebuch zu zitieren und die Photog raphien zu benützen, die er danken, daß er vor vielen Jahren einer blutjungen hoffenden Schrift als mutiger junger Soldat - aus Österreich - in Polen aufnahm. stellerin entgegenbrachte. Dies, glaube ich, ist vielleicht das Buch, das Ein besonderes Wort des Dankes an Horst Münzberger, der es mir er sich vorstellte. ermöglichte, einen erschütternden menschlichen Konflikt verstehen Diana Athill redigierte die englische Originalfassung von »Am Ab zu lernen und, wenigstens kurz, mit ihm und seiner großartigen Frau zu grund«. Sie lieh dem Buch - und mir - all ihre Wärme, ihre Intelligenz, teilen. ihre hohe literarische Begabung und ein Maß an Anteilnahme, das ich In dieser speziellen Danksagung auch ein stilles Danke einer ganzen kaum erwarten durfte. Ich bin dankbar, daß wir Freunde wurden. Reihe von Frauen und Männern, die sich bereit erklärten, mit mir zu Und Dank auch an Albert Speer für seine Überzeugung, daß dieses sprechen, jedoch nicht genannt werden möchten, zumeist weil es für Buch - bereits in allen anderen westlichen Sprachen veröffentlicht - sie gefährlich wäre, namentlich erwähnt zu werden. auch auf Deutsch erscheinen mußte; und für seine Befürwortung, Vielen meiner Freunde schulde ich Dank für ihre Anteilnahme an daß dies geschah. meinem Leben während der Jahre, die ich an diesem Buch gearbeitet Die Stabilität meiner beiden Kinder trotz widrigster Umstände und die habe. Heiterkeit und Unbeschwertheit meiner damals noch kleinen Tochter Allen voran vielleicht Ruth Alice und Klaus von Bismarck und ihren Mandy waren die wertvollste Unterstützung während dieser schweren (vielen!) Kindern und jungen Verwandten. Sie verkörpern für mich drei Jahre. Und - vor allem - danke ich Don Honeyman, meinem das neue Deutschland, das ich liebe und an das ich glaube. Ich schätze Mann, der in jeder Hinsicht ein Teil des Denkens und der Arbeit an mich glücklich, sie meine Freunde nennen zu dürfen. diesem Buch ist. Dank auch an Catherine Valabregue für sonnige Ferien in Frankreich und für unser Zuhause in Paris. Dank an Mädi und Hansibert Törring London, Juni 1973 und November 1979 Gitta Sereny Honeyman für ihr stets offenes Tor und den herrlichen Frieden von Seefeld, den ich so oft genießen durfte. Dank an Sally und Philip Dowson für das Immerdasein ihrer Freundschaft, an Ronald Preston für seine Hilfe. Die Photographien von Franz Stangl in der Strafanstalt Düsseldorf Dank ebenfalls an Amador Aguiar in Brasilien, dessen Anteilnahme und im Gespräch mit der Autorin stammen von Don Honeyman. Die und Interesse meinen Glauben daran bestärkte, daß die Probleme, die Photo graphie von Treblinka stammt aus der Sammlung von Alexan dieses Buch anspricht, von universeller Bedeutung sind. Mein Dank der Bernfes, London. gilt auch (erneut) John Anstey, Chefredakteur des Telegraph Sunday Magazine's, für seine nie erlahmende Bereitschaft, seinen Mitarbei tern die Arbeit an komplexen und oft höchst kontroversen Problemen zu ermöglichen: die Arbeit mit Franz Stangl, die diesem Buch zu grunde liegt, wurde zuvörderst durch John Anstey's Hilfe ermöglicht. Dank an meine guten Freunde, die Schauspielerin Nina van Pallandt 6 7 Vorwort tionen und Familienloyalitäten stehen daher etwas weniger auf dem Spiel. Gerade weil sie jetzt Abstand gewonnen haben und nicht mehr persönlich befangen sein müssen, können sie es sich leisten, einfach »wissen« zu wollen. Nicht nur über die Greuel die damals geschehen Als ich dieses Buch vor sechs J abren schrieb, hatte ich bereits lange das sind-der Stoff mit dem sich leider so viele der Nachkriegsinformatio Gefühl gehabt daß, trotz der riesigen Anzahl von Büchern und Filmen nen ausschließlich befaßten - sondern über die Ursachen. Nicht nur über die Nazizeit, es noch eine ganze Dimension von damaligen Reak über die Ursachen der Geschichtsereignisse, sondern auch über die tionen und Verhalten gab, die wir nie verstanden hatten. Dinge - Hin Ursachen in den Menschen, die die Geschichte ausspielen. tergründe von Gefühlen und Handlungen - die für unsere Zeit, unser Dieses Buch hat, als es zuerst erschien, teilweise zu heftigen Ausein Leben und auch für die Zukunft von höchster Wichtigkeit sein könn andersetzungen, sogar fast Boykotten geführt - besonders in Ameri ten. ka. Einigen Kritikern war es emotional unmöglich, diesen Versuch, Die Idee, daß Franz Stangl, ehemaliger Kommandant der Vernich hinter die Person Franz Stangl's zu kommen, zu verstehen oder zu bil tungslager Sobibor und Treblinka, der Richtige sein mochte, mit dem ligen. Sie sind daran gewöhnt, von solchen Büchern das direkte, d. h. es sich lohnen könnte zu sprechen, kam mir, als ich 1970 den Prozeß eigentlich das schon Gewußte, schon Angenommene und Annehm gegen ihn in Düsseldorfverfolgte (sowie ich vorher, im Rahmen jour bare zu erwarten. In diesem Fall erwarteten sie vor allem ein bereites, nalistischer Aufträge, anderen NS Prozessen beigewohnt hatte). Aber und breites und demütiges Schuldbekenntnis. Aber so einfach ist es Stangl schien mir, im Vergleich zu vielen anderen die ich unter densel und kann es - nicht sein. ben Umständen beobachtet hatte, als ein Mensch von gewisser Intelli Der Zweck dieses Buches war auch nicht das Herunterleiern von lee genz und weniger prirnitiv, und daher möglicherweise für das geeignet, ren Worten oder Bekenntnissen, sondern ein Suchen: ein Kampf nicht was ich versuchen wollte. gegen, sondern mit und in Stangl,.um die Schuld so weit wie möglich zu Es freut mich, daß dies~s Buch - welches bereits in fast allen wichtigen verstehen. Und in manchem Sinn - den auch ich erst viel später, mit Sprachen der Welt veröffentlich wurde - nun endlich auf Deutsch er Hilfe anderer, erkennen lernte - war dieser Kampf vielleicht (nicht scheint. Die lange Verzögerung dieser Veröffentlichung - genau wie seinet- sondern unsertwillen) sogar um Stangl. die jetzige Entscheidung es nun doch auf Deutsch zu bringen-war, Es ist mir nie eingefallen - und ich stehe weiter fest gegen die Ansicht zum Großteil, direkt auf die Aufnahmefähigkeit des deutschen Leser daß der Versuch einem Menschen wie Stangl zu diesem Zweck mit ei publikums, was diese Problematik anbelangt, zurückzuführen. In den nem Grad von Objektivität entgegen zu treten, unmoralisch, verfehlt letzten drei, vier Jahren - und vielleicht noch besonders nach den oder unmöglich ist, oder auch dazu führen muß, ihn zu »entschuldi deutschen Reaktionen auf den amerikanischen »Holocaust«-Fernseh gen«. Das Letztere ist unmöglich. Und das einzige was unmoralisch ist film - hat sich die Einstellung vieler Menschen und besonders der Ju oder gewesen wäre, ist das Lügen. gend in Deutschland geändert und entwickelt. Die ältere Generation, Stangl und alle anderen, mit denen ich im Laufe dieser Arbeit sprach, deren drückendes - oft quälendes - Schuldbewußtsein sie dazu führte, wußten genau, wo ich selber stand. Aber ebenso glaube ich, glaubten zu versuchen, als leichtesten und sogar einzigen Ausweg die Tatsachen auch fast alle an meine Absicht, immer wieder so vorurteilslos wie und Wahrheiten vor sich selbst und ihren Kindern zu verbergen und zu möglich zuzuhören, so schwierig dies auch oft war. Die andere Seite unterdrücken, ist, soweit sie noch da ist, jetzt selbst fähiger den Dingen der Münze, daß man, weil man selbst von der Aufgabe, in so einen in die Augen zu schauen, oder auch des Verleugnens müde. Menschen einzudringen, gefangen und fasziniert ist, unter der Gefahr Die jüngeren Generationen - und ganz besonders die heutigen Stu steht die Objektivität - andersherum - zu verlieren, ist allerdings ein denten und Schüler - sind nicht von der Vergangenheit persönlich be stichhaltiger Einwand: es könnte geschehep; es ist ein Risiko dessen schwert, wie es ihre Eltern waren. Diejenigen in ihren Familien, die di sich alle - ob Schriftsteller oder Psychiater - deren Aufgabe solche rekt darnit verbunden waren, sind jetzt eher die Groß- manchmal so »Menschenuntersuchungen « ist, bewußt sind: es bedarf Kraft, Distanz gar die Urgroßeltern, nicht mehr die eigenen Eltern. Und ihre Emo- zu bewahren und sich fortwährend zur Objektivität zu zwingen, und 8 9 kann nur gerechtfertigt werden durch die Berufsdisziplin die lange Er heil verstrickt war das in unserem Zeitalter geschehen ist. Es war wich fahrung mit sich bringt. Sicher war diese Arbeit mit Stangl in diesem tig, fand ich, die Umstände zu ergründen und zu bewerten, die so einen Sinn das Schwerste, Schwerwiegendste und auch Kostspieligste was Menschen da hineingeführt hatten. Und dies, wenigstens dieses eine ich selber je unternommen habe. Mal, von seinem Standpunkt aus - nicht von unserem. Hier, durch eine Die bisherigen Reaktionen aus aller Welt unterstützen meine Über intensive Untersuchung seiner Motivierungen und Reaktionen, wie er zeugung, daß es richtig war, es zu tun. Eines der großen Probleme unse sie uns beschreiben würde (anstatt wie wir sie uns vorstellten, oder er rer Zeit ist, daß unser Lehr-und Aufnahmevermögen heute viel mehr hofften), würde uns vielleicht die Möglichkeit geboten werden, auf von den Sinnen, als vom Gehirn beherrscht ist: wir wollen zwar infor eine ganz besondere Weise ein neues Verständnis über den Ursprung miert werden, aber auf bequeme und direkte Weise, mit allen Ur von Gut und Böse zu gewinnen: ob das Böse im Menschen durch äu sachen, Beweggründen und Konsequenzen, eins, zwei, drei, in schwarz ßere Umstände, oder durch Geburt und Vererbung bedingt ist und bis und weiß. Aber diese schweren Problematiken - die entsetzlichen zu welchem Grad der Mensch selbst, oder Einflüsse der Umwelt ver menschlichen Konflikte und Schwächen, die zu entsetzlichen Dingen antwortlich sind. Stangl - wie schon gesagt - war der letzte und führten - können und sollen nicht leichtfertig behandelt, ausgedrückt schließlich auch vielleicht der einzige Mann, mit dem es möglicher oder verstanden werden: bequeme Behandlung führt zu seichten Ge weise wert war, einen derartigen Versuch zu unternehmen. danken und Gefühlen. Auch dieser Weg kann nützlich sein, aber ist Die siebzig Stunden dieser Gespräche, in zwei Teile, über neun Wo selten von dauerndem Wert. chen verteilt, brachten den Beginn einer Antwort. Aber am Ende stellte es sich heraus, daß wesentlich mehr erfordert war, um das Bild zu Meine Gespräche mit Franz Stangl bilden den Rahmen dieses Buches: vervollständigen. Nicht nur, weil Stangl's Aussagen, die Worte eines seinen Kern. Aber zu guter Letzt sind sie nur ein kleiner Teil davon 1. offensichtlich schwer bedrückten Menschen, bei dem man zeitweise Stangl war der einzige Kommandant eines Vernichtungslagers der vor deutliche Symptome einer gespaltenen Persönlichkeit beobachten Gericht gestellt werden konnte:!. Es gab, überraschenderweise, nur konnte, der Korrektur durch die historischen Tatbestände bedurften vier Männer, die dasselbe Amt bekleideten: einer von ihnen war (da und auch der Aussagen anderer Menschen, die ihn gekannt und erlebt mals) schon tot, zwei waren verschwunden. hatten. Aber vor allem, weil es mir im Laufe dieser langen Gespräche Ich hielt es für unbedingt notwendig, wenigstens einmal, bevor es zu immer klarer wurde, daß man das Handeln eines Menschen nie isoliert spät sein würde, ohne Leidenschaft, ohne Vorurteil, überhaupt so weit von - sondern nur im Zusammenhang mit - den äußeren Einflüssen, wie möglich alle Gefühle ausschaltend, zu versuchen die Persönlich denen er sein Leben lang ausgesetzt ist, beurteilen darf. keit eines Menschen zu durchleuchten, der tief in das furchtbarste Un- Darum verbrachte ich weitere achtzehn Monate damit, die histori schen Unterlagen zu untersuchen und Menschen in allen Ecken der . Welt zu befragen, (Üe in irgendeiner Weise in die Ereignisse verwickelt 1 Die Gespräche selbst wurden im Oktober 1971 im DAILY TELEGRAPH MAGA ZINE in London und nachher in Zeitschriften in anderen Ländern in gekürzter Fassung waren, von denen Stangl mir erzählt hatte. veröffentlicht. Einige von ihnen, wie seine Familie in Brasilien, die ihn weiter lieben 2 R. Höss, Kommandant von Auschwitz, wurde in Polen zum Tode verurteilt und nachdem und zu ihm halten, waren indirekt, aber doch tief persönlich betroffen. er bei mehreren Verhören ausgesagt - und seine »Memoiren" niedergelegt hatte - ge Andere, wie die SS-Angehörigen, die unter ihm gearbeitet hatten und hängt. Auschwitz aber war ein Konzentrations-und Arbeitslager, nicht ein Vernichtungs lager per se: die Verantwortung von Höss war in erster Linie für den ganzen Komplex. Für nach Verbüßung von diversen Gefängnisstrafen nun in die Gesell Birkenau, das »Todeslager" von Auschwitz, 7 km vom Hauptlager entfernt, war ein schaft zurückgekehrt sind, waren natürlich in grauenhafter Weise un Kommandant, der Höss untergeordnet war, eingesetzt. Er war es, der Birkenau täglich er mittelbar beteiligt. Ebenso auch hochgestellte Nazibeamte, die einmal lebte; ihm ist es gelungen, nach dem Krieg unterzutauchen. Darum sind die Erfahrungen seine administrativen Vorgesetzten waren. und Gefühle von Höss - der übrigens in scharfem Kontrast zu den SS Kommandanten der Vernichtungslager, mit seiner Familie am Rande des Lagers ein normales Leben führte Die Überlebenden der Lager, die Stangl kommandierte, Menschen zwar mit Stangl's gewissermaßen »verwandt", aber im Sinn der psychologischen Bedeu die, nach einer nur durch Wunder geglückten Flucht, sich in den ver tung nicht zu vergleichen. schiedensten Teilen der Erde neue Leben aufgebaut haben, empfin- 10 11 den ihre Erinnerungen mit einer Mischung von Tragik, Schuld - und die sich bereit erklärten, mit mir noch einmal ihre Vergangenheit zu einem leisen Triumph: Triumph weniger für ihr Überleben, als für die erforschen, taten es mit einer außerordentlichen und bewundernswer Selbsterkenntnisse, die sie erfahren haben. Und wieder andere, mit ten Offenheit und unter beträchtlichem Risiko ihrer eigenen Seelen denen ich sprach, hatten nur am Rande der Ereignisse gestanden: Di ruhe. Am Ende verrieten - enthüllten - sie alle bedeutend mehr von plomaten oder unschuldige Beobachter der Katastrophe im besetzten sich selbst, als sie vielleicht eigentlich geplant hatten, oder sogar wuß Polen. Und schließlich sprach ich mit Priestern, die, nachdem das ten. Zu guter Letzt aber taten sie dies nicht für dieses Buch, sondern Dritte Reich gefallen war, Leuten wie Stangl geholfen hatten aus Eu aus ihrem eigenem, oft verzweifelten Bedürfnis, die Vergangenheit ropa zu entkommen. und ihren eigenen Anteil daran zu verstehen. Einiges, was diese Men Meine Gespräche mit solchen Priestern und anderen, denen daran lag, schen in Verlegenheit bringen - oder auch Dritten Schaden zufügen Papst Pius XII. und seine Berater zu rechtfertigen, stellten mich vor könnte - habe ich ausgelassen. Trotzdem, der Weg zwischen dem einen schwierigen Konflikt. Denn ich war mir immer sehr über die jet Augenblick einer derartig intensiven Selbstenthüllung und dem Mo zige Anfälligkeit der Kirchen und die Bedeutung ihrer Kontinuität und ment, Monate oder in diesem Fall sogar Jahre später, wenn man die Stabilität für die Gesellschaft bewußt. Aber, trotz meines Widerwil eigenen Gedanken, Überlegungen und Worte in einem Buch gedruckt lens, in den Chor der ja schon so viel geäußerten Vorwürfe gegen das sieht, ist ein weiter und für die meisten Menschen ungewohnt. So kann Verhalten des Vatikans während der NS Zeit einzustimmen, mußte ich ich nur hoffen, daß dieses Buch trotzdem zum Verständnis derer bei am Ende doch zu dem Schluß gelangen, daß die dunklen und noch tragef wird, die daran mitgeholfen haben, und daß es ihnen weder weitgehend unveröffentlichten Fakten, auf die ich bei meinen Nach peinlich sein, noch ihnen sonst in irgendeiner Weise weh tun wird. Es forschungen stieß, in diesem Buch nicht weggelassen werden konnten. ist Dank ihnen, daß dieses Werk entstehen konnte. Und es schien mir auch schließlich unerläßlich, auf die spezifischen »AM ABGRUND«, mit dem ich vor allem die Jugend anzusprechen Verantwortungen hinzuweisen, sei es aus keinem anderen Grund, als hoffe, die, meiner Erfahrung nach, eine gewisse Objektivität nicht nur noch einmal hervorzuheben, wie viele des Klerus' die Stellungnahme sucht, sondern - so glaube ich - sie auch versteht, soll ein weiterer Bei des Vatikans damals nicht teilten. trag zur Aufklärung dieser düsteren Ereignisse sein. Aber mein Buch So weit jemand, der die damalige Zeit als denkender junger Mensch ist nicht in erster Linie als Schreckensgeschichte gemeint - wenn auch durchlebt hatte, dazu imstande sein konnte, zwang ich mich während der Stoff Schrecken unvermeidbar macht. Noch ist es nur ein Versuch, den Recherchen - wie schon gesagt - Vorurteile auszuschalten. Ich einen Menschen verstehen zu lernen, der einmalig in die größte Tra will nicht behaupten, daß dies leicht oder. sogar immer möglich war, gödie unserer Zeit verstrickt war. aber bis zu einem gewissen Grad gelang es. Es ist eine Darlegung der fatalen Zusammenhänge alles menschlichen Die Art und Weise meiner Fragen - und der Fragestellung - mußte Handeins, und eine Bestätigung der Verantwortung des Einzelnen für den Befragten angepaßt werden. Mit Stangl selbst und seinesgleichen sein eigenes Tun und dessen Konsequenzen. ging ich in meinen Fragen langsam vorwärts, aber ohne Schonung. Um fair zu sein, muß gesagt werden, daß Stangl selbst keine Schonung er wartete. Dieselbe Methode, und dieselbe Einstellung trifft auch, bis zu gewissen Grenzen, auf seine Frau zu. Sie ist die erste und einzige Frau in dieser Lage, die sich je einer solchen Befragung freiwillig unterwor fen hat. Es war eine schwere Aufgabe für sie, der sie mit Mut entgegen trat. In meinen Gesprächen mit anderen: die Überlebenden der La ger, die unschuldigen Beobachtern, ja, auch Stangl's Kindern und Verwandten, die an nichts, was er tat, Anteil oder gar Schuld trugen, versuchte ich zwar eindringlich zu fragen, aber nicht zu verletzen. Dies konnte nicht immer, nicht ganz gelingen. Die meisten der Menschen, 12 13 Die Menschen, die sprechen schau, wo er in einer Fabrik arbeitet. Er ist der einzige Überlebende von Treblinka, der heute noch in Polen lebt. Er begleitete mich, als ich das ehemalige Vernichtungslager besuchte. Während der Nachforschungen und Vorarbeiten für dieses Buch habe Joseph Siedlecki, Häftling in Treblinka. Ich sprach mit ihm im Staat ich mit wesentlich mehr Menschen gesprochen, als ich nun zitiere. New York, wo er als Maitre d'Hötel in einem Hotel beschäftigt ist. Zum besseren Verständnis der Leser habe ich die bedeutendsten Ge sprächspartner in sechs Gruppen zusammengefaßt und im folgenden Zeugen von Ereignissen in Verbindung mit Sobibor und Treblinka: vorgestellt. Wladimir Genmg und seine Frau. Wladimir Gerung ist Oberförster von Sobibor und Verwalter des ehemaligen Lagergebietes. Seine Frau Der Mittelpunkt des Buches - Gespräche mit: lebte zu Betriebszeiten des Vernichtungslagers etwa 30 Kilometer von Franz Stangl, Polizeivorstand des"EutIianasie-Instituts, Schloß Hart Sobibor entfernt. heim, November 1940 bis Februar 1942; Kommandant von Sobibor, Horst Münzberger und seine Frau. Horst, ein junger Meistertischler, März 1942 bis September 1942; Kommandant von Treblinka, Sep ist der Sohn von Gustav Münzberger und half mir zu verstehen, was es tember 1942 bis August 1943; im Düsseldorfer Untersuchungsge bedeutet, der Sohn eines Mannes zu sein, dessen Dienst die Verant fängnis, wo er das Ergebnis der Berufung gegen das lebenslängliche wortung für die Vergasungen in Treblinka einschloß. Urteil erwartete: April und Juni 1971. Hubert Pfoch, jetzt Landespolitiker, wohnhaft in Wien. Als junger Theresa Stangl, seine Frau; in ihrem Haus in Säo Bernardo do Campo, Soldat auf dem Transport zur Front wurde er am 21. August 1942 Brasilien. " Zeuge der Ankunft eines Transportes in Treblinka. Er erlaubte mir, Helene Eidenböck, seine Schwägerin, in ihrer Wohnung in Wien. aus seinem Kriegstagebuch zu zitieren und Photos zu reproduzieren, die er damals gemacht hatte. . Frühere SS-Männer, die mit Stangl zusammengearbeitet haben: Franciszek Zabecki war von Mai 1941 an bis Oktober 1943, als das Franz Suchomel, der bei dem Euthanasie-Programm mitwirkte: 1940 Lager aufgelöst wurde, Stationsvorstand des Ortsbahnhofs von Tre bis 1942 in der T -4-Fotoabteilung, Berlin; später Treblinka. Gespräch blinka.Als Mitglied der »Heimatarmee« (des polnischen Widerstan in semem Wohnhaus in Altötting, Bayern. des) war es seine Aufgabe, deutsche Truppenbewegungen zu beob Otto Horn, erst 1941 beim Euthanasie-Programm, später in Rußland achten. Darüber hinaus war er in "der Lage, detaillierte Angaben über und von 1942 an in Treblinka. Gespräch in seiner Wohnung in West die Transporte zu machen, die auf der Bahnstation ankamen und zum Berlin. Vernichtungslager weitergeleitet wurden. Gustav Münzberger, erst beim Euthanasie-Programm und von August 1942 an in Treblinka. Gespräch im Haus seines Sohnes in Unter Im Zusammenhang mit dem Euthanasie-Programm: ammergau, Bayern. Dieter Alters und seine Frau. Dieter Allers, Rechtsanwalt!, war im De zember 1940 Leiter von T 4, der Abteilung, die im Auftrag der »Füh Oberlebende der Vernichtungslager von Sobibor und Treblinka: rerkanzlei« die »Gemeinnützige Stiftung für Heil- und Anstaltspfle Stanislaw Szmajzner, Häftling in Sobibor. Ich sprach mit ihm in Goia ge« (beschönigender Ausdruck für Euthanasie) und später - wenn nia, Brasilien, wo er dem Vorstand einer Papierfabrik angehört. Herr Allers dies auch bestritt-die »Endlösung2« verwaltete. Er wurde Richard Glazar, Häftling in Treblinka. Ich sprach mit ihm an seinem in einem Euthanasie-Prozeß zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe Wohnort in der Nähe von Bern in der Schweiz. Er arbeitete damals in verurteilt und war wieder in seiner Heimatstadt Hamburg, als ich ihn einem Ingenieurbüro. Samuel Rajzman, Häftling in Treblinka. Ich sprach mit ihm in Mont real, wo er seinen eigenen Holzgroßhandelleitet. 1 Seit Erscheinen der Originalfassung dieses Buches gestorben. 2 '"" durch die Aktion Reinhard in den vier Vernichtungslagern Kulmhof, Belzec, Berek Rojzman, Häftling in Treblinka. Ich sprach mit ihm in War- Sobibor und Treblinka. 14 15 und seine Frau besuchte. Frau Allers war während des Krieges Sekre Erster Teil tärin in der T 4 (und kurz auch im Euthanasie-Institut Schloß Hart heim, bis sie um ihre Zurückverlegung nach Berlin ansuchte). Wäh rend dieser Zeit traf sie ihren späteren Mann. Albert Hart! gab seinen Beruf als Priester der römisch-katholischen 1 Kirche im Jahr 1934 auf, trat der SS bei und wurde Sturmbannführer. 1935 wurde er Leiter der Informationsabteilung für Kirchenfragen im Mein erstes Gespräch mit Franz Stangl war am Morgen des 2. April Reichssicherheitshauptamt. Diese Position verhalf ihm zu einer ein 1971. Wir trafen uns in einern Zimmer des Düsseldorfer Untersu maligen Kenntnis der Verhältnisse zwischen der NSDAP und den chungsgefängnisses, das normalerweise als Wartezimmer für Anwälte Kirchen im Hinblick auf das Euthanasie-Programm. dient. Es war ein bißchen - vielleicht einen halben Meter - größer als In Verbindung mit dem Fluchtnetz-Untemehmen der römisch-katholi die Zellen in dem Gefängnisneubau, dem Block, in dem Stangl unter schen Kirche in Rom und den Beziehungen zwischen dem Vatikan und gebracht war. Aber es hatte das gleiche vergitterte Fenster, den glei NS-Deutschland: chen öden Ausblick auf den kahlen, gepflasterten Innenhof - auf dem Monsignore Karl Bayer, Leiter der Caritas in Wien. Er hatte während die Gefangenen ihre tägliche Freiluftzeit verbrachten - und die gleiche des NS-Regimes eine entsprechende Funktion in Rom. minimale Einrichtung. Der Raum war unpersönlich, neutral. Er ent Dr. Eugen Dollmann, Hitlers Dol~etscher in Rom. E~ lebt heute in hielt nichts, was erfreuen oder erbauen - aber ebenso nichts, was Au München. gen oder Geist ablenken konnte: Es war genau richtig für gerade diese Gertrude Dupuis, die schon seit vor Ausbruch des Zweiten Weltkrie siebzig Stunden mit gerade diesem Mann. ges eine wichtige Position beim Internationalen Roten Kreuz in Rom Nachdem Franz Stangl am 22. Dezember 1970 wegen Beihilfe zum innehat. Mord an 900 000 Menschen (während seiner Amtszeit als Komman Seine Exzellenz, Monsieur Kazimierz Papee, polnischer Botschafter dant von Treblinka) zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verur beim Vatikan vorn 14. Juli 1939 bis Dezember 1948. Ich besuchte ihn teilt worden war, sagte »Nazi-Jäger« Simon Wiesenthal, der zur Er ,in Rom, wo er unterdessen gestorben ist. greifung von Stangl beigetragen hatte, am Ende einer Erklärung an die Anton Weber, ein Palottiner-Priester in Rom, der eng mit der Unter Presse: »Der Fall Stangl war die bedeutendste Strafsache West stützung von Flüchtlingen und Deserteuren verbunden war. deutschlands in diesem Jahrhundert. Wenn ich in meinem Leben Bischof Jakob Weinbacher, Weihbischof von Wien. Er wurde 1952 nichts anderes getan hätte, als diesen Mann der Gerechtigkeit auszu Nachfolger des inzwischen verstorbenen Bischofs Alois Hudal als liefern, hätte ich nicht umsonst gelebt.« Pfarrer des Collegium Anima in Rom. Es war Bischof Hudal, der Es war schwer, den Eindruck, den der stille höfliche Mann, den mir der Stangl einen Rotkreuzpaß und Geld verschaffte, um ihm die Flucht Gefängnisdirektor diesen Morgen vorstellte, vermittelte, mit dieser nach Syrien zu ermöglichen. Beschreibung zu vereinbaren. Professor Burkhart Schneider!, Mitglied des Jesuiten-Historiker Der damals 63jährige Stangl war groß, gut gebaut, mit schütterem, teams, das die zehn Bände »Actes et Documents du Saint Siege grauem Haar, einern zerfurchten Gesicht und rotgeränderten Augen. relatif a la Seconde Guerre Mondiale« zusammengestellt hat. Er trug graue Flanellhosen, ein weißes Hemd, eine Krawatte und ei nen grauen Pullover. Als ich ihn kennenlernte, hatte er bereits vier Jahre und zwei Wochen im Gefängnis verbracht, den Großteil der Zeit in Einzelhaft. Während der drei Jahre bis zum Beginn seines Prozesses »beherbergte« dieses Gefängnis auch einige seiner früheren Unterge benen, und die strcengsten Sicherheitsrnaßnahmen waren angewendet worden, um zu verhindern, daß diese Männer miteinander in Verbin 1 Seit Erscheinen der Originalfassung dieses Buches gestorben. dung treten konnten. Aber auch nachdem die andern nach ihrer Ur- 16 17 teils bestätigung in Strafanstalten verlegt wurden, blieb Stangl isoliert nug - Kriege gab es immer und überall. »Schauen Sie sich nur Katyn in seiner 1,80 x 3,30 m großen Zelle, weil junge Häftlinge gedroht hat an«, sagte er, »Dresden, Hiroshima und jetzt Vietnam.« Er fühlte mit ten, ihn totzuschlagen. Ein paar Tage vor meinem Besuch hatten seine - fühlte tief mit für diesen jungen amerikanischen Leutnant, der - wie zunehmenden Depressionen die Anstaltsleitung veraniaßt, ihm tägli er auch - in My Lai nichts anderes getan hatte, als Befehle zu befolgen che Rundgänge auf dem Gefängnishof und einigen Kontakt mit ein und nun die Suppe auslöffeln mußte. paar ausgesuchten Häftlingen zu gestatten. »Aber selbst jetzt redet er Ich hörte ihm an diesem ersten Morgen fast ohne Unterbrechung zu. kaum mit jemandem«, erzählte mir später ein Beamter. »Er ist ein Gegen sein Urteil war Berufung eingelegt worden. Und es war klar, Einzelgänger.« Die meiste Zeit des Tages verbrachte er mit Lesen daß er den Rat erhalten oder sich selbst davon überzeugt hatte, daß ich oder Radiohören in seiner Zelle, seine wenigen Besitztümer in fast ihm vielleicht nützlich sein konnte. Vielleicht würde es ihm gelingen, symmetrischer Ordnung um sich herum. sich in den Gesprächen mit mir so darzustellen, wie es andem Leuten Trotz seiner schon seit Jahren beinahe bewegungslosen Lebensweise seines Schlages schon manchmal gelungen war. Der Präzedenzfall da war Stangl muskulös, hielt sich gerade und erschien gleichzeitig gelöst für war Nürnberg. Damals hatten die Verteidiger einiger Angeklagter und diszipliniert. Argumentationen erfunden, die nahe genug an eine Art Wahrheit Er und der Gefängnisdirektor, Herr Eberhard Mies, ein früherer An herankamen, um zumindest einen Hauch von Zweifel an der Art ihrer walt, verbeugten sich und reichten sich die Hand. Als er mir vorgestellt Schuld aufkommen zu lassen. Diese Taktik war nach Nürnberg in na wurde, verbeugte Stangl sich noch einmal; aber in beiden Fällen war es hezu allen NS-Prozessen angewandt worden, ganz egal, welche Straf eine Geste der Höflichkeit und nicht Unterwürfigkeit oder gar Re taten dabei zur Debatte standen. spekt. Herr Mies erkundigte sich nach Stangls Gesundheit. In seinem Aber ich war nicht nach Düsseldorf gekommen, mir Polemiken anzu weichen, österreichischen Dialekt und in einem gelassenen Konversa hören. tionston sagte Stangl, es gehe ihm besser. Er sprach das weiche, nicht Kurz vor der Mittagspause - man hatte mir gesagt, ich müßte ihm für ganz hochdeutsche Hochdeutsch der österreichischen Provinzschulen. das Essen und eine anschließende Ruhepause soviel Zeit lassen, wie er »Ich habe mich für den Schachklub angemeldet«, erzählte er. »Und wünschte - erklärte ich Stangl, nachdem ich ihm nun zweieinhalb Stun ich glaub', ich werd' mich in ein paar Kursen einschreiben, nach den lang zugehört hatte, nun aber den Zeitpunkt für gekommen hielt, Ostern. Literatur vielleicht - das wäre vielleicht interessant, glauben ihm genau zu sagen, warum ich da war, was ich wirklich von ihm wollte. Sie nicht? Das soll doch zweimal die Woche sein, nein?« Überra Dann könne er sich während der Mittagspause meine Vorschläge in al schend für mich, erschien es wie ein Gespräch zwischen zwei Gleich ler Ruhe überlegen und entscheiden, ob wir mit den Gesprächen fort rangigen. Keineswegs der »kleine Mann«, den man mir angekündigt fahren wollten oder nicht. Alle Argumente und Entschuldigungen, die hatte, vermittelte Stangl den beunruhigenden Eindruck einer relativ er am Morgen vorgebracht hatte - sagte ich - kannte ich in-und aus imposanten und dominierenden Persönlichkeit, der sich selbst und wendig. Unzählige Leute hatten dasselbe schon unzählige Male vor seine Umgebung voll unter Kontrolle hatte. gebracht. Ich hatte nicht die Absicht, darüber zu diskutieren. Es würde Bis zu einem gewissen Grad blieb dieser erste Eindruck den Rest die zu nichts führen. Ich war zu einem ganz anderen Zweck da: Er sollte ses ersten Morgens bestehen; trotz der offensichtlichen Unruhe, die er sagte ich - wirklich mit mir sprechen: über seine Kindheit, sein Leben dem Gespräch mit mir entgegenbrachte. Kaum waren wir allein, be als Bub, als junger Mensch, als Mann. Er sollte mir von seinen Eltern, gann er sofort damit, verschiedene Beschuldigungen, die während des seinen Freunden, seiner Frau und seinen Kindern erzählen. Nicht da Prozesses gegen ihn erhoben worden waren, zu entkräften. Die Argu von, was er getan oder nicht getan hatte, sondern was er geliebt oder mente, die Phrasen, die er dabei benutzte, waren mir von anderen gehaßt hatte. Und was er selbst fühlte über die Ereignisse in seinem NS-Prozessen nur zu bekannt: Er hatte nichts Unrechtes getan; stets Leben, die ihn hierhergebracht hatten, wo wir jetzt saßen. Wenn er das hatte es Höhere über ihm gegeben; er hatte nie anderes getan, als Be nicht tun wollte, sondern es vorzog, in denselben Phrasen wie am fehle befolgt; niemals hatte er selbst einen einzigen Menschen verletzt. Vormittag weiterzureden, dann würde ich ihm auch zuhören - bis zum Was geschehen war, war eine Tragödie des Krieges, und - traurig ge- Ende dieses einen Tages. Dann würde ich nach England zurückfahren, 18 19 irgendeinen kleinen Bericht darüber schreiben, und dann würd's aus Niemand in Deutschland hatte etwas von den Greueltaten der Nazis sein. Wenn er aber - nach wirklichem Nachdenken - sich entscheiden gewußt, und keiner, der nicht unter einer Diktatur gelebt habe, könne würde, mir zu helfen, tiefer in.die Vergangenheit einzudringen (seine das verstehen oder sich ein Urteil erlauben. Dennoch einigten sich Vergangenheit, denn ihm und in ihm waren ja Dinge geschehen, wie schließlich bis auf wenige Ausnahmen fast alle - daß nichts anderes wohl wenigen anderen Menschen), dann könnten wir vielleicht zu übrigblieb: Solange Menschen, die mit den Schreckenstaten der Nazis sammen ein Stückchen Wahrheit finden; eine neue Art von Wahrheit, zu tun hatten, noch am Leben waren, sagten sie, mußte man etwas tun. die dazu beitragen könnte, Dinge zu verstehen, die bisher noch nicht Nichts zu tun, wäre unmoralisch. Einer, mit dem ich an diesem ersten verstanden werden konnten. Wenn er dazu bereit sei, würde ich so Tag sprach, war 24 Jahre alt, also zur Zeit von Treblinka noch nicht lange in Düsseldorf bleiben, wie er wolle, Tage, Wochen, was immer. einmal geboren. »Stangl«, meinte er nachdenklich, »kommt uns wie Ich sagte Stangl auchl, daß er sich von Anfang an darüber klar sein ein Mensch vor. Verstehen Sie, was ich meine? Uns beeindruckt er wie müsse, daß ich alles, was die Nazis getan oder geplant hatten, zutiefst ein intelligentes menschliches Wesen, nicht ein brutales Vieh wie der verabscheute. Aber daß ich ihm trotzdem verspräche, genau das zu Franz.« (Kurt Franz, früher einmal Koch, berüchtigt wegen seiner schreiben, was er sagen würde - was immer es auch wäre. Was immer Brutalitäten, fungierte als Stangls Adjutant, kommandierte dann Tre meine eigenen Gefühle waren, wiederholte ich, ich würde versuchen blinka nach Stangls Ablösung, und zwei Monate später liquidierte er zu verstehen - ohne Vorurteil. das Lager, als alle Spuren verwischt werden mußten. Er büßt jetzt eine Als ich fertig war, sagte er nichts, nickte nur, und als der Wärter her lebenslängliche Haftstrafe in Westdeutschland ab.) »Vielleicht«, fügte einkam, um ihn in seine Zelle zurückzuführen, verbeugte er sich nur der junge Beamte hinzu, »vielleicht hat jetzt endlich einer von diesen ganz leicht und ging wortlos hinaus. Ich war absolut nicht überzeugt, Männern den Mut, meiner Generation einmal zu erklären, wie ein daß ich ihn wiedersehen würde. menschliches Wesen mit Verstand und Herz ... ich will nicht einmal sagen so etwas tun konnte - es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu ur Ich aß an jenem Tag in der Gefängniskantine und sprach mit mehreren teilen, ob ein Mann im Sinne der Anklage schuldig ist oder nicht-, Beamten. Es wurde schnell klar, daß sie Stangl gern mochten. »Wenn sondern wie sie es auch nur mitansehen und dann weiterleben konn die nur alle so wie Stangl wären«, sagten sie. »Dann wären wir hier ja ten.« auf Rosen gebettet.« Einige von ihnen sagten »wie der Herr Stangl«. Als Stangl gegen zwei Uhr in den kleinen Raum im zweiten Stockwerk Einen der älteren Beamten befragte ich über diese Anrede. Er zuckte zurückgebracht wurde, schaute er irgendwie anders aus. Er hatte seine mit den Schultern: »So sollen wir sie jetzt ansprechen. >Her/"(<< - wie Krawatte abgenommen und den obersten Knopf seines Hemdes auf derholte er spottend. gemacht. Aber das war es nicht. Er war genauso sorgfältig rasiert wie Gefängnispersonal in Westdeutschland - ich sah es bald - ist bemer am Vormittag - wahrscheinlich hatte er sich sogar nach Tisch noch kenswert gut ausgebildet (unter anderem: 200 Stunden Psychologie). einmal rasiert. Und doch sah er plötzlich weniger gepflegt, weniger Fast alle, mit denen ich an diesem Tag oder in den folgenden Wochen glatt - und älter aus als am Morgen. Schon vorher hatten mich seine sprach, beeindruckten mich als nachdenkliche, mitfühlende Men breiten, roten Hände, die so gar nicht zu seiner übrigen Erscheinung zu schen, die sich intensiv für die möglichen Resultate meiner Gespräche passen schienen, überrascht. Aber jetzt schoß es mir plötzlich durch mit Stangl interessierten. Sie diskutierten ganz offen mit oder vor mir den Kopf, daß sie vielleicht im Gegenteil gerade gut zu ihm paßten über die inneren Konflikte, in die Stangls Inhaftierung in diesem Ge oder wenigstens zu einem Teil von ihm. fängnis sie gebracht hatte. Viele von ihnen fragten sich - wie ja so viele »Ich habe nachgedacht über das, was Sie gesagt haben«, erklärte er seit so langer Zeit in Deutschland-, ob die Fortführung der NS-Pro sofort, seine Stimme eine Spur unsicher. »Ich hab' vorher nicht ganz zesse so lange nach den eigentlichen Taten noch sinnvoll sei. Einige verstanden ... nicht richtig verstanden, was Sie wollten. Ich glaub', wenige - brachten die abgenutzten altbekannten Argumente vor: jetzt versteh' ich's ... und ich möcht's machen. Ich möcht's wenigstens versuchen ... « 1 und auch später seiner Frau, bevor meine Gespräche mit ihr begannen. Noch bevor wir begannen, über seine Kindheit zu sprechen, hatte er 20 21

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