Philip Carter ALTAR DER EWIGKEIT Roman Aus dem Englischen von Fred Kinzel Buch Endlich hat Lena wieder Hoffnung, obwohl sie sich unter Stalins Diktatur in einem sibirischen Ge- fangenenlagerbefindet.DochnunwirdsiegemeinsammitdemMann,densieliebt,fliehen.Dennnur so kann sie sein Leben retten. Auch wenn sie dafür ein Geheimnis offenbaren muss, für das beinahe jeder zu töten bereit wäre. Drei Generationen später: Die Staatsanwältin Zoe Dmitroff traut ihren Augen nicht, als sie in einer ermordetenObdachlosenihreGroßmuttererkennt,dieangeblichbereitsvoreinemhalbenJahrhundert starb. Ihre Ermittlungen führen zurück bis in die Zeit, als Zoes Urgroßmutter Lena aus einem russi- schenStraflagerfloh–undzudemunfassbarenGeheimnis,dasihreFamilieseitGenerationenhütet. IstUnsterblichkeitwirklichmöglich?MächtigeMännerundFrauensinddavonüberzeugtundsetzen allesdaran,ZoeihrWissenzuentreißen.DieSuchederjungenFrauwirdzurFluchtbisinstiefsteSi- birien. Dorthin, wo der Altar der Ewigkeit auf seine Hüterin wartet … Autor Philip Carter ist das Pseudonym eines weltweit bekannten Autors. Prolog San Francisco, Kalifornien Gegenwart SobaldderFremdeindenLichtkreis trat,dendasFeuerwarf,wussteRosie,dassergekom- men war, um sie zu töten, SiebefandensichtiefimGehölzdesGoldenGateParks,wodiePolizeisienichtbelästigte– einekleineKolonieObdachloser,dietagsüberaufderHaightStreetbettelte undnachtsdrau- ßenimParkkampierte.RosiewarneuinderGruppe,abereswarihreIdeegewesen,dieEin- kaufskarrenwieeineWagenburgimKreisanzuordnenunddannPappkartonsundDeckendar- überzulegen, um einen behelfsmäßigen Unterstand zu schaffen. Dennoch zitterte sie in dem bitteren Februarwind, als sie in die Augen des Fremden blickte. In die Augen eines Killers. SiehatteimLaufdesTagesuntenamStowLakeeineEntegefangenundbrietsiemiteinem KleiderbügelalsSpießüberdenFlammen.DerFremdetat,alshabeihnderBratengeruchan- gelockt, aber Rosie wusste es besser. »Hallo«, sagte er. »Ich habe heute Abend einen Müllcontainer geplündert und das hier ge- funden.« Er hielt eine Halbliterflasche Wild Turkey in die Höhe. Sein Englisch war gut, aber das Gutturale vonMütterchen Russland lag noch schwer auf seiner Zunge. »Ich bin bereit zu teilen, wenn ich einen Happen von eurem Essen kriege.« Willard, ihr Anführer, stellte sein Bier ab und stand auf, um seine Faust an die des Mannes zu schlagen.»Nur her damit, mein Freund.« DerFremde,eingroßer,grobknochigerKerlmiteinemfettigenbraunenPferdeschwanzund einemkantigenGesicht,setztesichmitüberkreuztenBeinennaheansFeuer.Ergrinstebreit, als er sein Mitbringsel überreichte. Willardwarhochgewachsen,miteinerBillardkugelvonKopfundTätowierungenamganzen Körper. Selbst sein Gesicht war tätowiert – zwei Tränen unter jedem Auge. Dennoch sah er dieWhiskeyflaschemitkindlichemStaunenan.»Mann,daswarabereinGlücksfallvonCon- tainer.« Der Fremde lächelte erneut. »Ein Schnapsladen drüben an der Polk Street hat letzte Nacht gebrannt,undbeimLöschenhabensieihntotalruiniert.DasmeisteZeugdarinistzerbrochen, und was noch heil war, haben sich wahrscheinlich die Bullen und die Feuerwehrleute unter den Nagel gerissen. Ich hatte wohl Dusel.« Rosiebezweifeltenicht,dassderausgebrannteSchnapsladenmitseinemMüllcontainerexis- tierte. Solche Einzelheiten stimmten bei Männern wie ihm normalerweise. Er hatte auch den Obdachlosen-Look gut hinbekommen: Jeans, so dreckig, dass man kaum sagenkonnte,obsieeinmalblaugewesenwaren,eineCrackpfeifeinderJackentasche,festge- backenerSchmutzindenHautfalten.AnseinenAugenaberstimmtenichts.Siewarenweder leer noch besiegt oder verloren. Sie waren scharf, aufmerksam. Augen, die nicht blinzelten, wennihrBesitzereinemdieKehledurchschnittoderauszweihundertMeternEntfernungvon einem Dach eine Kugel in den Kopf schoss. Rosie schwieg und beobachtete den Fremden, während der Whiskey am Lagerfeuer herum- ging: von der transvestitischen Nutte namens Buttercup über den Einbeinigen mit den kaput- ten Zähnen, der als Gimpy Sam bekannt war, bis zu Dodger, einem großen Mann mit Hän- geschulternundeinemKopfvollgrauerRastalocken,dieerirgendwieuntereinerosafarbene Kindermütze stopfte. Nichtdassichnochsowahnsinnigvielhermachenwürde,dachteRosie.Allerdingswarich malhübsch…AberdazwischenlagenvieleJahreundeinhartesLeben,undjetztspieltedas alleskeineRollemehr,weilsieandemKrebsstarb,derdengrößtenTeilihresBauchsbereits wie Säure zerfressen hatte. DieFlaschefandschließlichihrenWegzuRosie.SieenthieltnochgenügendSchnaps,um sieschönangesäuseltzumachen,undeswürdenochetwasfürdenFremdenbleiben.Siebe- obachteteihn,währendsiesieganzaustrank.SollteerruhigbezahlenfürdasPrivileg,siezu töten. Sie ließ die leere Flasche in ihre Jackentasche gleiten und bedeutete ihm mit einem Blick, dass er sie mal konnte. Er zeigte auf das bratende Fleisch.»Das riecht aber gut. Was ist es?« Rosie entblößte ihre Zähne beim Lächeln.»Gebratene Ratte.« SiesaheinenMuskelunterseinemlinkenAugezucken,abererfingsichschnell.»Mächtig große Ratte.« Buttercup kicherte, dann errötete sie, senkte den Blick und kratzte an den wunden Stellen an ihrem Hals, wo schmutzige Nadeln gewütet hatten. RosiefingdenEkelimBlickdesFremdenauf,alserwegsah.Vielleichtbistdujadochkein so harter Bursche, hm, Großer? »Abendessen ist fertig«, sagte sie und lächelte wieder. SieschlangendieEntemiteinpaarschalenHamburger-Brötchenhinunter,dieGimpySam von einem McDonald’s erbettelt hatte. Niemand hatte viel zu sagen, vor allem Rosie nicht, die auch nicht viel aß. Mit dem Krebs und den Schmerzmitteln, die sie von der Klinik be- kommen hatte, war es mit ihrem Appetit so ziemlich vorbei. Eswurdespät.RosiewarffrischesHolzaufsFeuer.Solangedieanderenwachblieben,wür- de sie vielleicht leben. Dodger stocherte mit einem Stock in den Flammen, dann zündete er sich eine Crackpfeife damit an. Er machte einen tiefen Zug und gab sie an Gimpy Sam weiter. Sam machte seinen Zug, dann hielt er die Pfeife dem Fremden hin. »Brauchst du einen Schuss, Kumpel? Du kriegst einen für wenig Geld.« DodgerrisssichdieMützevomKopfundschlugsieSamüberdenSchädel.»Hörstduauf, unser Crack zu verhökern, du Blödmann!« »He,he,schongut«,sagtederFremde.ErklopftesichaufdieManteltasche.»Ichhabmein eigenes Zeug. Für später.« Wäre sich Rosie nicht bereits absolut sicher gewesen, dass der Mann nur schauspielerte, hätte es nach dieser dummen Bemerkung keinen Zweifel mehr gegeben. In einer Welt, in dermanfüreinpaaralteSchuheerstochenwerdenkonnte,würdekeinechterJunkielauthals kundtun, dass er einen Vorrat an Stoff hatte. Dodger und Gimpy Sam stoppten ihr Gerangel lange genug, um einen Blick zu wechseln, und rauchten dann weiter ihr Crack. Buttercupwarschonfrühergegangen,umsichumeineprivateAngelegenheitzukümmern. JetztwarsiemiteinerSpritzeinderHandwiederda.SienahmihrenPlatzamFeuerwieder ein, schabte mit der Nadel über einen Stein, um die Ablagerung zu lösen, und rammte sie sich dann ruhig in den Hals. RosiestießsichvonihremPlatzhoch,ihrealtenKnochenächzten.»Ichmussmalfürkleine Mädchen.« Sie benahm sich wie eine betrunkene alte Säuferin, schwankte und brabbelte vor sich hin. Als sie außerhalb des Feuerscheins war, rannte sie los. SiehörteSchritteaufdemWeghinterihr.WindbraustedurchdieBaumwipfelundinihren Ohren. Schon jetzt war sie außer Atem. SiehatteeinenVorsprunggehabt,aberderKillerholteschnellauf.IhrealtenBeinemachten nichtmehrsorechtmit.Siekonnteaufgeben–hol’sderTeufel,siestarbohnehinanKrebs. Abererwürdeesnichtschnellerledigen,erwürdesieerstzumRedenzwingenwollen,und sie wusste nicht, wie viel Schmerz sie ertragen konnte. Jeder hatte einen Punkt, an dem er zerbrach. Das Stechen in ihrer Seite war bereits unerträglich. Sie verlangsamte so weit, dass sie tief undkeuchendLuftholenkonnte,undwühlteindemMüllinihrenTaschennacheinemklei- nen Zettel. Dumm,dumm,wiekonntestdunursodummsein?DuhättestihninFetzenzerreißensollen, sobald du den Brief abgeliefert hattest. Und jetzt… EslagandiesenSchmerzmedikamenten.SievernebeltenihrGehirn,machtensiesoverge- sslich und dumm. Leichtsinnig. IchmussdiesesStückPapierfinden,ichmussesfinden…OGott,wennermichdurchsucht, nachdem er mich erwischt hat, wird er es finden, und dann… Wo war das verdammte Ding? Pfeife, Apfelbutzen, Zigaretten, leere Whiskeyflasche, Pa- pier … Sie knüllte es zu einer Kugel zusammen und steckte es in den Mund. Links von ihr hörte sie einen Ast brechen. Rosie lief. Sie fiel über eine Baumwurzel und schlug hart auf dem Boden auf. Sie spürte, wie die leereSchnapsflascheanihremBauchzerbrach,Glasscherbenbohrtensichdurchihrendicken Wollmantel bis in ihr Fleisch. SiefuhrmitderHandindieTascheundzogeinegroßeScherbeheraus,fühlte,wiesieihre Handfläche zerschnitt, wie das Blut rann, aber sie lächelte. Sie konnte ihn jetzt verletzen. Wie dumir, so ich dir …Sie wollte ihm wehtun, auch wenn es nurein bisschen war, bevor er ihr das Schlimmste antat. Sie rappelte sich wieder auf die Beine. Ihr Knöchel knickte um, und sie taumelte gegen einenBaum.EinAstschlugihrinsGesichtundmachtesienahezublind.SieblinzelteTränen fort, doch sie rannte weiter. Er war nahe, sehr nahe. Sie hörte seinen rauen Atem, das Knir- schen der toten Blätter und Nadeln unter seinen Füßen. Vor ihr spiegelte sich das Mondlicht in Glas. Sie wusste jetzt, wo sie war – bei diesem Treibhaus,wosiedievielenschönenBlumenzüchteten.SienannteesfürsichdasPetticoat- Gebäude,weilessoweißundmitKrausenbesetztwar.VordemGebäudeverliefeineStraße, dort würde vielleicht ein Wagen vorbeikommen, jemand, der ihr helfen konnte … EinkräftigerArmschlosssichumihreKehleundrisssienachhinten.SiespürteeineMes- serspitze inihrenHalsschneiden, nichttief,abertiefgenug,damit Blutwarmunddickher- aussickerte.SiehörtedenschnellenAtemdesMannes,fühlteseineErregung,alserdieMes- serspitze noch ein wenig weiter in ihre Haut stieß. Erdrehtesieherum,sodasssieihnansah,undhieltihrdasMesserunterdasKinn.»So,jetzt sagst du mir, wo er ist. Und zwar haargenau, in allen Einzelheiten.« »Ichweißnicht…?«Abersiewusstees,oja,siewusste,waserwollte.SiemussteaufZeit spielen, jeden Moment konnte ein Auto kommen, sie konnte schreien, sie konnte … »Rede, oder ich schneide dir den dürren Hals durch, als wärst du ein Huhn.« Er würde sie ohnehin töten, aber erst wenn sie es ihm gesagt hatte. Dann wäre sie nichts weiter für ihn und für die Leute, die ihn geschickt hatten, als ein loses Ende, das man ab- schneiden musste. Sie wollte nicht sterben, nicht vor ihrer Zeit … Also das war ja fast ko- misch, so sehr, dass sie lachen musste. Aber es klang mehr wie ein Wimmern. Er glaubte, gewonnen zu haben. Sie spürte, wie er sich entspannte, wie sein Atem leichter ging. Sie stieß ihm die Glasscherbe, die sie in der Hand hielt, tief in den Arm. Er schrie, fiel nach hinten, fasste sich an den Arm, fluchte. Sie holte noch einmal mit der Scherbe aus, diesmal zielte sie auf sein Auge. Seine Bewegung kam so schnell, dass sie die Hand nur verschwommen wahrnahm. Sie spürte etwas an ihre Brust schlagen. Er hatte sie getroffen,gut,aberdasmachtenichts.Siehattesichvonihmbefreit,undjetztwürdesiedem SchweinehunddieAugenausstechen,aberzuihrerÜberraschungwolltesichihreHandnicht bewegen. Dann lauf, lauf. Sie musste fliehen … Benommen taumelte sie den Pfad entlang und stürzte auf die Straße hinaus. Nur noch ein Stück, dann würde ein Auto kommen. Sie bekam keine Luft. Siesahansichhinabunderstarrte.ErhatteeinMesserinsiegestoßen.SiesahnurdasHeft, unddashieß, esgingtief, vielleicht biszuihrem Herzen. Aberestat nicht weh,unddaser- gab keinen Sinn, und dann merkte sie, dass sie ihre Beine nicht spürte. SiefielaufHändeundKnie.BluttropftevonihremHalsaufdenBoden.SiesahseineFüße auf sich zukommen, seine alten, abgenutzten Stiefel, seine alberne Verkleidung, die sie so- fortdurchschauthatte.Siehätteihmgerngesagt,dasserverlorenhatte,dassereinNarrwar, aber die Worte blieben in ihrem Kopf. Sie sah seine Stiefel näher kommen und an ihre Brust stoßen. Spürte die Stiefelspitze an ihrem Hals, als er sie auf den Rücken drehte. Er kauerte neben ihr nieder. »Du hast die Wahl. Sag mir jetzt, wo er ist, und du stirbst schnell und leicht. Wenn ich dafür arbeiten muss, stirbst du langsam und schmerzhaft.« Sie rang sich ein Grinsen ab.»Leck mich, du Arschloch.« SiefühlteseineWut,dieUnsicherheit,aberesberührtesienicht.SiesahzumNachthimmel hinauf.SiewolltedenMondeinletztesMalsehen,aberdiedunklenWolkenhattenihnvoll- ständig verschluckt. Nur noch einmal, bevor sie starb, nur noch einmal … »Naschön,dudummealteKuh.«SeinAtembliesihrheißundsäuerlichinsGesicht.»Mal sehen, wie tough du noch bist, wenn ich dir die Augen aussteche.« Siesah,wieerdieHandnachdemMessergriffinihrerBrustausstreckte,undihrwarnach Weinenzumute,weilsienundenMondnichtmehrsehenwürde,abergenauindiesemMo- mentzogendieschwarzenWolkenweiter,undsiesahnichteinenMond,sondernzwei.Zwei große, runde gelbe Monde, genau wie im Kino. Nein, das waren keine Monde … Das waren Scheinwerfer. Quietschende Reifen, eilige Schritte. »Mann, sie hat ein Messer in der Brust stecken«, sagte jemand. »Halt den Mund, Ronnie.« »Aber …« »Halt den Mund und ruf die Notrufnummer an.« DasGesichteinesFremdenschwebteüberihr–einwenigweichumsKinnundobenkahl, aber sie sah Mitgefühl, und sie brauchte dringend jemanden, der mitfühlte. »Hilfeistunterwegs«,sagtederFremde,»alsobleibenSieschönliegen,okay.BleibenSie schön liegen.« Nein, nein, zu gefährlich. Ich kann nicht… Nur war sie anscheinend zu keiner Bewegung fähig, also würde sie vielleicht doch liegen bleiben müssen. Und es gab etwas, das sie ihm sagen musste. Sie musste ihn dazu bringen, dass er verstand. Sieversuchte,ihreHandzuheben,umihnnäherheranzuziehen,undihreBrustmachteein komisches saugendes Geräusch. Es fühlte sich an, als versuchte sie, unter Wasser zu atmen. »Ich habe ihn zurückgeholt«, stieß sie in einem blutigen Sprühnebel hervor. »Ich habe ihn zurückgeholt.« Die Hand des Fremden legte sich warm und stark auf ihre Hände, und er beugte sich über sie.»Alles wird gut«, sagte er.»Alles wird gut.« Nein, nein, Sie verstehen nicht… Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, aber er wollte sich nicht bewegen. Sie konnte über- hauptnichtsbewegen,undsiekonnteseinGesichtnichtmehrsehen,weilderMondimWeg war, groß und hell, und ihre Augen mit einem wunderschönen weißen Licht erfüllte. Sie konntedieSirenenjetzthören,dieZeitliefihrdavon.DieWahrheit.ErmusstedieWahrheit sehen. Musste verstehen, dass sie … »Siehättenihnnichttötenmüssen«,sagtesie,undleuchtendrotesBlutergosssichmitdem letztenAtemzugausihremMund.»ErhatnievomKnochenaltargetrunken.Ichhabeihnzu- rückgeholt.« Erster Teil Die Hüterin 1 Straflager Norilsk, Sibirien, UdSSR Februar 1937 LenaOrlowasahdieWölfe.SielauertenamRandderDunkelheit,unmittelbaraußerhalbdes Scheinwerferbereichs, ihre Ruten strichen über den Schnee. Siegingschneller,ihreFilzstiefelrutschtenindengefrorenenFurchenderStraße.Siekonnte ihrenAtemsehen.Ihrwarkalt,sehrkalt,undjedeplötzlicheBewegungschiendieLuftrings- um wie Papier knistern zu lassen. Sie bemerkte den Leichnam erst, als sie fast dagegengestoßen wäre. Er hing kopfüber vom Lagertor, nackt, die Hände mit Draht auf den Rücken gefesselt, die Augen halb offen. Ober- halb der gefesselten Füße hatten sie ein Brett an den Pfosten genagelt, auf dem in leuchtend roter Schrift stand:ESGIBTKEINENTKOMMENAUSNORILSK. Die Tür zum Wachhäuschen flog krachend auf, und Lena fuhr herum, das Herz hämmerte laut in ihrer Brust. Lena, du Närrin, benimm dich nicht so fahrig. Sonst ahnen sie, dass du etwas im Schilde führst, bevor du überhaupt angefangen hast. EinManninderblauenUniformdesNKVDkamausdemWachhaus,strecktedieHandaus und schnippte mit den Fingern.»Papiere.« LenatasteteinderTascheihrerwattiertenJackenachihremAusweisundihrerReisegeneh- migung. Als sie beides überreichte, ließ ein Windstoß die Leiche am Torpfosten schaukeln. Draußen in der Dunkelheit begannen die Wölfe zu heulen. Der Wachposten hielt ihre Papiere unter das Licht der Lampe, die über der Tür hing. Seit zweihundertzweiundsiebzigTagenwarsiejedenAbendvondenPersonalbarackendurchdie- ses Tor zu ihrem Dienst als Nachtschwester im Krankenrevier marschiert, und jeden Abend hattederimmergleicheWachmannsieumihrePapieregebeten.ErließsichgenüsslichZeit, sieanzusehen,verglichihrGesichtmitdenFotografien,prüfteSiegelundUnterschriftenund wer weiß was noch, als könnte irgendetwas daran plötzlich anders sein als am Abend zuvor. Eswarsokalt,siehätteEiszapfenspuckenkönnen.LenaklopftesichmitdenFäustenaufdie Armeundstampfte mitdenFüßenauf,womitsienichtserreichte, außerdasssichderfestge- backene Schnee von ihrer Jacke löste. »Alles in Ordnung«, sagte der Wachposten und gab ihr die Papiere zurück. Ihr Ausweis wies sie als freie Arbeiterin aus, womit sie das Tor in jede Richtung passieren durfte, ohne Gefahr zu laufen, dass man auf sie schoss. Dass sie nur die »Freiheit« besaß, in einemBerufzuarbeiten,denderStaatfürsieausgesuchthatte,undandiesemOrt,andender Staat sie geschickt hatte – ein Straflager obendrein –, war eine Ironie, die offenbar nur Lena zuwürdigenwusste.IhreReiseerlaubniswareinweiterersolcherWitz.SiedurftenachBelie- benindiesemkleinenZipfelSibiriensherumreisen,aufderHalbinselTaimyr,abereswarihr verboten, einen Fuß außerhalb davon zu setzen. DerWächterdachteoffenbar,sieseifestgefroren,dennerfuchtelteungeduldigmitderHand. »Ich sagte, alles in Ordnung. Sie dürfen passieren.« »Ich Glückliche«, murmelte Lena.