© Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Allerlei Ergötzliches und Wissenswertes über das Alpenmurmeltier (Marmota m. marmota) G. AUBRECHT Abstract The Alpine marmot (Marmota m. over a period of almost 2000 years from marmota) is a very well-known animal in PLINIUS until BREHM, "folklore and tradi- the alpine countries and therefore leaves tion" around the Alpine marmot and its many traces in the everyday life of man. effective use in "advertising". This paper gives a summary about the The contribution concentrates geogra- importance of the Alpine Marmot for peo- phically on the German-speaking area of ple which is reflected in various spheres of the alps. It comprises a number of infor- life. Special emphasis is put on "trivial mation but does not correspond to a syste- names", "descriptions in natural history" matic approach. Stapfia 63, zugleich Kataloge des OÖ. Landesmuseums, Neue Folge Nr. 146 (1999), 177-206 177 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Einleitung lungskatalog werden ausführlich aktuelle For- schungsergebnisse über das Murmeltier prä- sentiert. In diesem Beitrag soll unter anderem Das Alpenmurmeltier Marmota marmota darauf eingegangen werden, wie frühere (LlNNAEUS, 1758) erfreut sich in den Alpen- Naturbeschreiber von PLINIUS (KÖNIG 1973) ländern und darüber hinaus allgemeiner überGESSNER (1551-1558, Ausgabe 1583) bis Bekanntheit und Beliebtheit. Das läßt sich TSCHUDI (1853, Ausgabe 1928) und BREHM wohl darauf zurückführen, daß Lebensweise (1863-1869, Ausgabe 1893) über das Murmel- und Verhalten der Murmeltiere von einigen tier berichteten und wie verschiedene „Mär- Besonderheiten gekennzeichnet sind, die chen" über die Lebensweise der Murmeltiere bereits in Kinder- und Schulbüchern sowie in fast unausrottbar überliefert wurden. Die Zeit- vielen populären Darstellungen zur Naturge- spanne dieser Betrachtungen beginnt somit im schichte Erwähnung finden. Das gilt bis in die 1. Jahrhundert, PLINIUS lebte von 23 bis 79 n. aktuellste Zeit auch für das "World Wide Chr., und reicht bis zu BREHM im auslaufenden Web" im modernen Kommunikationsmedium 19. Jahrhundert. Internet. Das Murmeltier wird häufig als Fallbeispiel Wenn in kurzen Worten über das Murmel- für das biologische Phänomen des Winter- tier in Volkskunde und Brauchtum bis zur schlafes angeführt und das ausgeprägte Sozial- Fremdenverkehrswerbung berichtet wird, so verhalten der Familiengruppen erweckt eben- muß klargestellt werden, daß es sich hier nicht falls Interesse. Die Futterzahmheit der Mur- um eine systematische Untersuchung handelt, Abb. 1: Die Erscheinungsform des meltiere in hochalpinen Tourismusgebieten, sondern um die Zusammenstellung von Hin- Alpenmurmeltieres bewirkt den Ein- wie z. B. an der Großglocknerstraße, läßt viele weisen, die dank der Mithilfe zahlreicher Kol- druck eines „possierlichen und net- ten" Tieres, was u. a. zu seiner allge- Menschen das Murmeltier als Wildtier haut- legen zusammengetragen werden konnten. meinen Bekanntheit und Beliebtheit nah erleben, wobei das „possierliche" Verhal- Auch bezieht sich der Inhalt besonders auf beiträgt (Foto Javier Ära Cajal). ten den allge- den ostalpinen bzw. deutschsprachigen Alpen- mein positiv raum, hauptsächlich deswegen, weil dem besetzten Ein- Autor in der zur Verfügung stehenden Zeit nur druck eines „lie- eine eingeschränkte Nachsuche in der weit ben und netten" verstreuten Literatur möglich war. Tieres vermittelt Um die Fülle der Beziehungen zwischen (Abbl). Mensch und Murmeltier einigermaßen zu glie- Natürlich dern, werden folgende Themen schwerpunkt- läßt sich die mäßig abgehandelt: Bekanntheit des Murmeltiernamen, Murmeltierbeschrei- Murmeltieres bungen, volksmedizinische Bedeutung, auch auf seine Brauchtum und Murmeltiere als Werbeträger. jagdliche Bedeu- tung zurück- Murmeltiernamen führen. Überra- schend ist die Nach HOFFMANN-KRAYER & BACHTOLD- Tatsache, daß bis STÄUBLI (1934/35) leitet sich der Name „Mur- in unsere Zeit das mel"tier aus dem lateinischen „Mus montis" Murmeltier auch (Alpenmaus) ab: „Althochdeutsch .muremun- in der Volksheil- to', später ,murmenti', mittelhochdeutsch kunde nicht in ,mürmendin'. Aus lateinisch ,mur(rem) montis' Vergessenheit ist rätoromanisch ,murmont' entstanden, das geraten ist (vgl. der althochdeutschen Form zugrunde liegt. RÜFENACHT & Anders KLUGE (Etymologisches Wörterbuch): MESNIL 1991). ,Mus montanus' oder ,mus montis1 ist Romani- Im vorliegen- sierung des von Hause aus rätischen Wortes den Ausstel- 178 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Auf lateinische Ursprünge lassen sich 22) Munk (Glarus nach BREHM 1863-1869, wohl auch die romanischen Bezeichnungen Ausgabe 1893) „Marmotte" und „Marmontane" sowie „Mon- 23) Muramentl (Tirol nach DALLA TORRE tanella" zurückführen. Mundartliche Bezeich- 1894) nungen sind aus Entstellung oder Verballhor- 24) Murbele (Tirol nach MENARDI, briefl. Mitt.) nung entstanden oder aufgrund von Beschrei- 25) Murbentle (Graubünden nach BREHM bungen wie „Bergmännle" oder „Mistbellerle". 1863-1869, Ausgabe 1893) Die zahlreichen Dialekte der Alpentäler und 26) Mure montana (Tessin nach TSCHUDI 1853, die Schwierigkeit Dialektausdrücke in Ausgabe 1928) geschriebene Worte zu kleiden haben zu einer 27) Muremunto (althochdt. nach HOFFMANN- ganzen Menge von Murmeltiemamen geführt. KRAYER & BÄCHTOLD-STÄUBLI 1934/35) 28) Murm-endin (mittelhochdt. nach DALLA TORRE 1894) Murmeltiernamen, 29) Murmel (DATHE & SCHÖPS 1986) alphabetisch geordnet: 30) Murmele (Tirol nach MENARDI, briefl. Mitt., und TSCHENETT 1911) 31) Murmeli (Bern nach BREHM 1863-1869, 1) Alpenmaus(ratte) (nach PuNIUS in KÖNIG Ausgabe 1893) 1973) 32) Murmeltier 2) Armenta (Tirol nach MENARDI, briefl. 33) Murmendel (HOVORKA & KRONFELD 1909) Mitt.) 34) Mürmendin (Mittelhochdt. nach HOFF- 3) Bergmännle ( DATHE & SCHÖPS 1986) MANN-KRAYER & BÄCHTOLD-STÄUBLI 4) Furmenta (Tirol nach MENARDI, briefl. 1934/35) Mitt.) 35) Murmenten (Tirol nach MENARDI, briefl. 5) Hurmenta (Tirol nach MENARDI, briefl. Mitt.) Mitt.) 36) Murmenti (althochdt. nach HOFFMANN- 6) Mangai (Lungau nach PRAMBERGER, 1911- KRAYER & BÄCHTOLD-STÄUBLI 1934/35, St. 1927, 1948) Gallen nach TSCHUDI 1853, Ausgabe 1928) 7) Mange (Tirol nach MENARDI, briefl. Mitt.) 37) Murmenti (Tirol nach DALLA TORRE 1894) 8) Mangele (Tirol nach MENARDI, briefl. 38) Murmentle (GESSNER 1551-1558, Ausgabe Mitt.) 1583) 9) Mankei (Tirol nach TSCHENETT 1911) 39) Murme(n)tli (Wallis nach BREHM 1863- 10) Mannl (Stilfs nach TSCHENETT 1911) 1869, Ausgabe 1893) 11) Marbetle (Graubünden nach BREHM 1863- 40) Murmont (rätoromanisch nach HOFFMANN- 1869, Ausgabel893) KRAYER & BÄCHTOLD-STÄUBLI 1934/35) 12) Marmontane (Trentino nach Dioskuriden- 41) Murmontana (Italienisch nach DALLA TOR- schriften, MATTHIOLI 1621) RE 1894) 13) Marmot (Tirol nach MENARDI, briefl. Mitt.) 42) Mus alpinus (PLINIUS, in KÖNIG 1973) 14) Marmotella (Engadin nach BREHM 1863- 43) Ormenta (Tirol nach MENARDI, briefl. 1869, Ausgabe 1893) Mitt.) 15) Marmotta (Savoyarden nach BREHM 1863- 44) Uramentl (Tirol nach DALLA TORRE 1894) 1869, Ausgabe 1893) 45) Urmenten (Tirol nach TSCHUDI 1853, Aus- 16) Marmotte (französisch) gabe 1928) 17) Mentl (Tirol nach TSCHENETT 1911) 18) Mistbelleri (Wallis nach BREHM 1863-1869, Murmeltierbeschreibungen Ausgabe 1893) 19) Mistbellerle (GESSNER 1551-1558, Ausgabe Es gibt eine große Zahl wissenschaftlicher 1583) und populärer Beschreibungen des Murmeltie- 20) Montanella (Engadin nach TSCHUDI 1853, res, die historisch weit zurückreichen. Um sich Ausgabe 1928) vergleichend dazu ein Bild über den aktuellen 21) Munggen (W. ARNOLD, Kap. in diesem Wissensstand zu verschaffen, sei hier auf die Katalog) neuesten monographischen Arbeiten von 179 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at BlBlKOV (1996) und KRAPP (1978) hingewie- stammt und bis :um Ende des 19. Jahrhunderts reicht. Eine der ältesten Quellen, die auf das sen. 1. Jahrhundet nach Chr. zurückgeht, ist die Für den vorliegenden Beitrag wurde eine „Naturkunde, Buch VIII, Zoologie: Landtiere" Auswahl getroffen, die von bedeutenden und von C. PLINIUS Secundus d. Ä. (KÖNIG 1973) bekannten naturwissenschaftlichen Autoren (Abb. 2): Abb.2: PLINIUS Secundus der Älte- re (23 bis 79 n. PLINIUS weist bereits auf den Winterschlaf Chr.) gilt als eine der ältesten Quel- der Murmeltiere hin und deutet an, daß er len , wo das Mur- neben dem Alpenmurmeltier auch andere meltier aus natur- Murmeltierarten kennt. geschichtlicher Sicht beschrieben Besonders interessant ist der Hinweis auf wird (aus Porträt- die „Heuernte der Murmeltiere, die einander samml. OÖ. Lan- desmuseum, Foto als Heuwagen benützen". Dieses genau B. Ecker). beschriebene Verhalten wird von zahlreichen Autoren ungeprüft über Jahrhunderte hinweg übernommen. Es wird zur Murmeltierfabel. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Zweifel daran so groß, daß dieses Verhalten dem „Märchenreich" zugeordnet werden konnte. Auch das abgeriebene Rückenfell der Murmeltiere wurde deswegen erst sehr spät durch realistische Erklärungen ersetzt. AMSTEIN (1782). Nach RiBl (1976) ist wohl eine der ältesten Murmeltierabbildungen in der Kosmographie des Sebastian MÜNSTER (1544) zu finden (Abb. 3). Conrad GESSNERs Thierbuch aus 1551- 1558 (Ausgabe 1583) ist eine berühmte Quel- le naturkundlichen Wissens dieser Zeit und besonders bekannt geworden durch die Abbil- dungen (Abb. 4) der abgehandelten Tierarten (RlEDL-DORN 1989): Conduntur hieme et Pontici mures, dumtaxat Im Winter verbergen sich auch die pontischen albi. Mäuse, freilich nur die weißen; quorum palatum in gustu sagacissimum auctores woher aber die Schriftsteller entnahmen, daß sie quonam modo intellexerint miror. das feinste Geschmacksempfinden im Gaumen haben, frage ich mich. conduntur et Alpini, quibus magnitudo melium Auch die Murmeltiere, von der Größe des Dach- est, sed hi pabulo ante in specus convecto. ses, vergraben sich, jedoch erst dann, wenn sie vorher Nahrung in ihre Höhle zusammengetra- genjiaben. quidam narrant alternos marem ac feminam sub- Einige erzählen, daß Männchen und Weibchen rosae conplexos fascem herbae supinos, cauda abwechselnd, indem sie einen Büschel an der mordicus adprehensa, invicem detrahi ad specum Wurzel abgenagter Halme umschlungen halten, ideoque illo tempore detrito esse dorso. sich auf dem Rücken liegend mit den Zähnen am Schwänze fassen und so gegenseitig zur Höhle ziehen, weshalb auch zu dieser Zeit ihr Rücken abgerieben ist Abb. 3: Murmeltierabb. aus MÜNSTER sunt his pares et in Aegypto similiterque resident Gleiche Tiere gibt es auch in Ägypten; sie sitzen (1544): „Die Deutschen nennen es in dunes et binis pedibus gradiuntur prioribus- ebenfalls auf den Hinterbacken, können auf zwei Murmeltier, vielleicht darum, weil es que ut manibus utuntur. Beinen gehen und gebrauchen die Vorderpfoten murmt und körzet allemal wenn es wie Hände. schlafet". 180 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Abb. 4: Alpenmurmeltier aus Conrad GESSNERS Thierbuch (1551-1558, Ausgabe 1583). GESSNERS Tierbuch ist eine berühmte Quelle naturkundlichen Wissens dieser Zeit. Seine Beschreibungen und vor allem die Abbildungen galten über einen langen Zeitraum als vorbildlich (Foto B. Ecker). Thierbuch. Das ist ein kürzte beschreybung aller vierfüssigen Thieren I so auff der erden und in wassern wonend I samptirer waren conterfactur: alles zu nutz und gut- em allen liebhabern der künsten / Artzeten / Maleren / Bildschnitzern fWeyd' leuten und Köchen gesteh. Erstlich durch den hochgeleerten herren D. Cun- rat Qeßner in Latin beschriben / yetzunder aber durch D. Cunrat Fozer zu mererem nutz aller mengklichem in das Teutsch gebracht / und in ein kurtze komliche Ordnung gezogen. Qetruckt zu Zürich bey Christoffel FROSCHOUWER / im Jar als man zalt M.D. LXXXIII [1583, S. 111-113]. Von dem Murmelthier. Mus Alpinus, Murmelthier oder Murmentle, Mistbellerle. Von form und gestalt disz thiers I und wo es zu finden. Vom gestalt und grösse difi thiers verglycht sich eine grossen Künele /doch nide- rer mit einem breiten ruggen/seine haar reücher dann deß Künelis I an der färb schier rot an etlichen heiter an etlichen dünckler / als braun mit frossen / baußechtigen äugen I hat an seinem maul oben unnd unden zwen lang zän I welche sich schier den Biberzänen vergleychend / an der färb gällächt: die len- ge seines schwantzes zwo spang oder mer: kurtze I dicke I haarechtige bein / tapen als ein Bär / mit schwartzen I langen klawen / auf welcher hilffsölich thier / tieff in das erdtrich hineyn grabt I hat einen feißten ruggen I so doch der and leyb mager ist / wiewol söliches eigentlich zu reden nit feißte zu nemmen I sonder etwas mittels under dem fleisch unnd feißte / als der Euter an der Ku oder anderen thieren. Sölich thier wirt allein in den aller höchsten spitzen der Alpen gefunden / als dann der weyt berümbt herr Doctor Conrat Qeßner solche höchinen selbs durchwandlet und erstigen I diser thieren wargenommen hat. Von natur und eigenschaft diß thiers. So dise thier mit einandere spilend oder gopend so fürend sy ein geschrey wie die Katzen: wo sy aber zornig I oder sunst enderung deß wätters anzeigen wollend I so habend sy ein scharpfe I laut geschrey I gleych der stimm einer I kleinen laut / 181 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at hoch oder starcker geblasne pfeiffen / welche stimm dem gehör der menschen nit wenig widrig ist: von solcher scharpff und lautz tönender stimm werdend sy von etlichen Mistbellerle genant: Dises thier wandlet zu zeyten auff zweyen hinderen beinen I braucht die vor- deren an statt der henden / erfaßt die speyß in die vorderen tapen / sitz auff die hinderen bein biß er die speys gar gössen / wie derEychhorn: frißt nit allein ops I sonder mancherley speyß I vorauß so er von Jugend auferzogen I als brot I käß I fleisch I fisch / muß I unnd an der kocht I hat far alle andere speyß zu der milch I küß I und ancken ein groß begird. Auß welcher urach er zu zeyten in den Alpen ob den milchbrente von den Sennen ergriffen und gefangen wirdt / dann so er milch saufft I so schnötzlet es wie ein jung schweyn. Ein gar schläferig thier ist das Murmentle / dann er schlaffe vil und ein lange zeyt: Sy sollend in ire näster oder hülinen zwen außgeng machen / einen dem berg nach auf hür / den anderen dem gebirg nach härab / zu dem oberen wand' lend sy auß unnd eyn / in den underen aber legend sy ir kat oder track I wand- lend durch den selbigen aufgang nit auß noch eyn. Söliches zeigt an die fürge- setzte figur. A. der ober außgäng. C. der under in welchen er sich beschmeitt. B. aber sein kamer oder näst I welches sy machend mit höuw I strouw oder lychtem gestreud. Als dann so die berg mit schnee bedeckt werdend I ungefärlich umb S. Michaelstag / so verbergend oder verschliessend sy sich in ihre herberg / ver- schliessend und verschoppend die außgäng so hart mit erden I daß man leich- ter durch nachligende ort / dann üben durch sölich erdterich so er in die löcher geschoppet hat / mit eysen fljickel oder houwen graben mag. Sllso ligend sy sicher vor wind I ragen unnd kelte bewart / schlaffend also den gantzen Winter biß auff das Qlentz one speyß und tranck zusamen gekrumpt wie ein Igel. Es sollend aber der merer teil 5. 7. 9. oder 11. Auch zu zeyten mit in einem loch bey einander schlaffen liegen. Dannenbar ist ein Sprüchwort bey den eynwo- neren der Alpen im brauch I Er muß sein ?eyt geschlaffen haben wie ein Mur- melthier. Sy schlaffend auch den Winter ob man sy schon in heuseren erzeucht unnd speyset. Es spricht der hochgelert mann Doctor Cünrat Qeßner / er habe ein zeyt lang ein sölichs thier in seinem hauß gespeyset / unnd anfangs Winters al die zeyt des schlaffs hie was / hob er in in ein denne fäßlin so halb vol höuw geschoppet was / verschlossen und mit einem deckel verwaret damit die Kelte im mit überlägen möchte seyn: und nach etlichen tagen habe er in todt gefun- den I vermeint deshalb er seye erstickt / welches nit geschähen wäre / so nun ein loch in den boden geboret wäre gewäsen: verwunderet sich auch nit weni- ger wie es zugange / daß so er sich selber so tieff in das erdterich vergrabe I die löcher oder außgäng so hart verschoppe I nit gleycher wey/5 auch ersticke. Ein wunderbare kunst oder list braucheend sy zu der zeyt so sy das höuw eyn- füred. Dann so sy etwan vil höuws gehauffet / so bdörffend sy eines karrens. Als dann legt sich einer nider an ruggen streckt alle viere gen himmel / machet also vier stützen als ein höuwgestel / solches ladend unnd hauffend die anderen vol I als dann so das höuw geladen I so begreyffend sy in bey seinem schwantz mit irem maul /streckend also unnd ziehend den karren gen hauß / entladend das höuw in ihre näster oder hüle. Solch karren ampt lassend sy umbgon / wächßlend es / auß welcher ursach sy zu der selbigen zeyt auff dem ruggen kein haar haben sollend. So dises thier wachet so ist es sähen ruwig I gadt nimmer müssig / tregt one underlaß höuw / strouw / lumpen oder ander ding in sein näst I mit welchem sy das maul so vol füllt I daß es nit zu glouben ist I so es solches mit dem maul nit alles erfassen mag / so ergreyfft sy das überig mit seinen tapen / unnd schlei- pfft es auch härnach. Sy befleckend oder bescheyssend inen selber ihre näster 182 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at mit hem kadt oder track gar nit I sonder gond alle zeyt an ein ort / an welches sy ir kadt von inen werffend und seiched. Zu zeyten durchgnagend und kiflend sy auch das holtz oder wend / der massen daß sy auch durch die löcher schlief- fen mögend. Es schreibt Johannes Stumpff in seinen Chronic bücheren / daß söllich thier zu aller teyt übel rieche I wiltele / vorauß Sommers zeyt ee dann er anhebt feißt zu werden. Von natürlichem anmut und lustigkeit dises thiers. Zu zeyten sollend sy an der Sonnen vor iren löcheren mit einanderen spilen oder gopen I etwas murmlen I ballen gleych den jungen Hunden oder Katzen / sölchs sollend sy auch vor den menschen treyben / wo sy in heüseren erzogen werdend. So er auß zom ergrimpt so beyßt er hart: aber so er heimlich gemacht I so gopet er mit dem menschen mer anheimsch / verletzt underweylen mit seynem biß die Hund I so sich von beywäsen ires herren nit dörffend zu weer stellen. So sy auß den löcheren des gebirgs härauß louffend auff die weid / zu spilen I höuw zusamen zuhäuffen / so beleybt einer bey dem loch / sieht von oben härab gantz fleyssig / so er dann ein menschen I ein vech oder ander geivild ersieht / so bilt er / oder pfeyfft ein hohe / stareke stimm I wien ein kleine stareke geblaß- ne pfeyffen I welches geschrey so es von den anderen erhört so louffend sy all hauffächtig zusamen in das loch / unnd loufft der Wächter oder hüter zu lerst hineyn / so ungwitter oder ragen vorhanden ist I so gond sy nit auß iren löche- ren I sonder allein so es schön ist. Mit irer hüllen kleinen stimm wie oben gesagt I verkündend sy eintwäders eruierung des luffts I oder unbill / unnd übertrang so inen angethon ist. So sy wiissend ragen wätter oder kelte vorhanden seyn / so begäred sy zu schlaffen: so sy aber schön I warm wätter vorwüssend I so zeigend sy das selbig an mit spi- len /wunderbarer /holdsäliger iveyß unnd bärd. Was nutzbarkeit man von solchem thier habe. Solchem thier wirdt nachgestelt von üwgen seines fleischs / wirdt von den Jege- ren verkoufft unnd das galt genutzet / werded allein Winterszeyt von den Jege- ren gefangen I zu welcher zeyt sy schlaffend und feißt sind I auff solche weyj3. Die eynwoner so an dem grund der Alpen wonend I nemmend Sommers zeyt war mit dieselbigen ob dem schnee mögind ersähen werden: Als dann umb die Wienacht so wandlend sy äff dem tieffen schnee I mit breiten höltzinen ringen I tragend mit inen houwen unnd bickel zu graben gerüst / grabend den schnee hinwäg unnd den löcheren nach / findends I ergreyffends sy also schlaffend I tragend nemmend sy war des erdterichs mit welchem das thier imselbs die löcher verschoppet I und als mit einem zapffen vermacht hat I wie lang dersel- big seye: dann so er etlch schüch lang / so bedeutet es ein harwen / rauchen I kalten Winter. So er aber kurz I so bedeutet es ein mitten Winter. In dem so man inen nachgrabt / sol man nit vil gerüsch oder geschrey machen I dann so sy von dem klpffen erweckt / so mag inen hart nachgegraben werden / dann sy grabend weyter hineyn und scharrend mit den hinderen fassen das auff gegra- ben erdterich dem Jegewr one underlaß für das loch / unnd verwirrend in im graben. Iren werded alle zeyt ungrad bay einander gefunden 7.9. 11 zu zeyten auch mer. Inen werdend auch strick I und etliche andere rüstung für die löcher gelegt und also gefangen. ... 183 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at GESSNER liefert eine ausführliche Beschreibung der Gestalt des Murmeltieres I Discorsi und führt einige biologische Aussagen an, die Di M. Pietro Andrea Sanese MAT- THIOU, Venetia, 1621 nur durch empirische Naturbeobachtung zustande gekommen sein konnten, z.B. Win- (übersetzt von Mag. M. FALKINQER) terschlaf und Murmeltierbau, Sozialverhalten Die Bergmäuse haben einen so und Ernährung. Auch die Zähmung von Mur- dicken Körper wie Kaninchen und manchmal einen noch dickeren, meltieren in Gefangenschaft wird erwähnt. aber sie haben kurze Beine. Umso erstaunlicher ist es, daß GESSNER das Sie haben einen Kopf wie ein Hase, schon bei PLIN'IUS erwähnte „Heuwagen"-Ver- aber so kurze Ohren, daß man sie halten der Murmeltiere unkritisch über- fast nicht am Kopf erkennen kann. nimmt. Er bezieht sich auch auf die Volksheil- Sie haben ein Fell wie der Dachs, kunde und berichtet von der Zubereitung des einen kurzen Schwan?: und kurze Murmeltieres als Speise. Beine - die Klauen sind bewehrt mit ziemlich scharfen Nägeln. Diese Tiere wachsen mehr in die Breite als In einer italienischen Übersetzung der in die Länge und werden wunderbar Dioskuridenschriften (MATTHIOL1 1621) wie- fett. Unten im Trentino (in dessen derholen sich Angaben, die wir bereits von Bergen - und am meisten in Tavole • PLINIUS kennen (Abb. 5). Dioskurides war ein wo sie häufig vorkommen) nennt griechischer Arzt aus dem 1. Jahrhundert nach man sie Marmontane - diese Christus, der die bedeutendste Arzneimittel- Bezeichnung will nichts anderes lehre der Antike schrieb; sie blieb bis in die sagen als Mus montanus. Neuzeit hinein autoritativ (SCHNEIDER 1968). Diese Tiere stehen gerne auf den Hinterfüssen wie es die Bären machen und häufig verwenden sie die Vorderbeine zum Fressen als ob sie Hände hätten. Sie haben vorne sehr spitze Zähne, mit denen sie die- jenigen, die ihnen nicht gefallen, grausam beißen. Es ist jedoch eine große Sache, daß wenn man ihnen die Zähne mit einer Zange schnei- det, damit sie nicht beißen (wie ich es öfter selbst erlebt habe) • diese in einem Tag und einer Nacht wieder nachwachsen. Wenn man sie im Haus hält, obwohl sie von den Qipfel der höchsten Ber- ge aus der Wildnis kommen, lassen sie sich ganz gut zähmen, aber sie Abb. 5: Alpenmurmeltier aus einer richten viel Schaden an; sie zer- Übersetzung der Dioskuridenschriften reißen Tücher und jede andere (MATTHIOLI 1621). Dioskurides war ein Sache die herumliegt. griechischer Arzt aus dem 1. Jahrhun- Im Winter werfen sie sich gerne in dert nach Christus, der die bedeutend- ste Arzneimittellehre der Antike Berge aus Heu und Stroh, wo sie schrieb (Foto B. Ecker). monatelang schlafen, wie es die Sie- benschläfer auch machen. Sie schreien, wenn sie Angst haben mit dünnen, abgehackten, gellenden Schreien - sodaß ihre Stimme mehr einem Pfeifen gleicht als etwas ande- rem. 184 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at tung, da frühere Autoren mit durchaus ande- Man ißt ihr Fleisch lieber eingesal- ren Anschauungen spekulierten: zen als frisch. Das Salz nimmt ihnen „Der gelehrte Jesuit Athanasius KlRCHER nicht nur die große Feuchtigkeit son- (gest. 1680) hielt das Murmeltier für einen dern darüber hinaus den wilden Bastard von Dachs und Eichhorn, ..." (HOFF- Qeruch, den sie ausströmen. Aber MANN-KRAYER & BÄCHTOLD-STÄUBLI 1934/35 sowohl gesalzen als auch frisch ist und TSCHUDI 1853, Ausgabe 1928). ihr Fleisch sehr schwer zu verdauen „... Der aufgeklärte J. G. ALTMANN weist - es beschwert den Magen und und erzeugt eine überflüssige Hitze in der solche .Einbildungen, mit Ironie und Indigna- ganzen Person. Man lobt jedoch ihr tion ab, ... charakterisiert aber das Murmeltier Fett, um damit die Nerven und als einen kleinen Dachs, der mit dem rechten Qelenke weich einzubetten. Dachs :u den Schweinen gehöre, ..." (TSCHU- Es gibt noch viele andere Arten von Dl 1853, Ausgabe 1928). Mäusen wie die vom Schwarzen Das Murmeltier erhielt von LlN'NE den Meer, von Noricum, Pannoni- wissenschaftlichen Namen Marmota marmota, en, Indien und andere die nach der beschrieben in „Systema Naturae, Tomus I., Provinz benannt sind, in der man sie 1758": findet. Die vom Schwarzen Meer sind weiß wie der Schnee, außer am Schwanz, der nicht länger als ein Finger ist, aber am oberen Teil schwarz. Marmota. 4. M. cauda abbreviata subnuda, Das rasche Nachwachsen der Schneide- auriculis rotundatis, buccis gibbis. zähne wird übertrieben dargestellt. Hier fin- Mus cauda elongata nuda, corpore den wir auch den Hinweis auf die Heilkraft rufo. Syst.nat.10. u.13., des Murmeltierfettes (-Schmalzes). Mus montanus, Matth. Diosc. 2, c. 63. 1758 ist das Geburtsjahr der systemati- schen Beschreibung von Tier- und Pflanzenar- Mus alpinus, Raj. Quadr. 221. ten, untrennbar verbunden mit dem schwedi- Wagn. Helv. 179. Dodant. mem. 3. p. 31. T. 31. Qesn. Quadr. 743. schen Naturforscher Carl von LlNNE. Die Aldr. Quadr. 445. binäre Nomenklatur ordnet jeder Tier- und Pflanzenart einen eindeutigen lateinischen Habitat in alpibus Helveticis, Tri- dentinis. Namen zu, der aus zwei Teilen besteht. Der erste Teil bezeichnet die Gattung (genus) und Dentes primores inferiores apice der zweite Teil die Art (species). Diese Form divergentes. der wissenschaftlichen Namensgebung gilt bis Mystaces utrinque serie sextuplici. heute und verhalf den biologischen Wissen- Aures parvae, vestitae, Bucca utrin- schaften zu einer heute nicht mehr wegzuden- que: admodum gibba. Cauda palma- ris, nigra. Verruca supra oculos setis kenden Klarheit im Sprachgebrauch. Zum 6; sub oculis setis 7. Uorsum cinere- Namen einer Tierart gehört auch deren Erst- um. Inguina & pedes cinereoflaves- beschreibung, bei LlNNE in lateinischer Spra- centia. Sutura a gula ad anum. che, die Angabe des ursprünglichen Fundortes Pedes 4 -5. U.Z. Hallman. (locus classicus) und in weiterer Folge die Profunde & celerrime fodit; hybernat Angabe des wissenschaftlichen Typusexem- alto somno, manibus cibum ori plares. Das ist jenes Präparat, oder auch jene admovet, saepe erecta incedit; facili- Abbildung, die der Beschreibung einer Tier- us in planitie, quam sub terra asse- oder Pflanzenart zugrunde liegt. quitur. Die Beschreibung des Murmeltieres als eigenständige Art ist auch deshalb von Bedeu- 185 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at sechsfacher Reihe. Ohren klein, Murmeltier bedeckt, auf beiden Seiten 4. M. mit verkürztem, auf der Backentaschen: ganz geschwol- Unterseite nacktem Schwanz, mit len. Schu/an* handbreit und abgerundeten kleinen Ohren und schwarz- Über den Augen eine Backentaschen. Warze mit 6 Borsten, unter den Maus mit länglichem, nackten Augen mit 7 Borsten. Rücken Schwanz und rotem Körper (S.n...) aschgrau. Bauch und Füße asch- Bergmaus (M.D.) grau. Naht von der Kehle bis zum Anus. Füße 4-5. H.Z... Alpenmaus (R.Q., W.H., D.m., Qräbt tief und schnell; überwin- Bewohnt die helvetischen und tri- tert im Tiefschlaf, führt die Nah- dentinischen Alpen. rung mit den Händen zum Mund; geht oft aufrecht; Untere Schneidezähne an der Spitze auseinanderstrebend. leichter auf ebener Erde als unter der Erde zu verfolgen. Barthaare auf beiden Seiten in (Übersetzung von Mag. REPPJ Abb. 6: Alpenmurmeltier aus BUFFONS sämtli- chen Werken (1770-1783, Übersetzung von SCHALTENBRANDT 1837). (OÖ. Landes- museum, Bibliothek, Foto B. Ecker). i • - f V -•• s.:<- *-- |M - |j / 1 1L : 1 I 186