Reihe WERKSTATTBERICHTE Bettina Alesi und Nadine Merkator (Hg.) Aktuelle hochschulpolitische Trends im Spiegel von Expertisen Internationalisierung, Strukturwandel, Berufseinstieg für Absolventen WERKSTATTBERICHTE – Band 72 Internationales Zentrum für Hochschulforschung Kassel Kassel 2010 WERKSTATTBERICHTE Copyright © Internationales Zentrum für Hochschulforschung Kassel Universität Kassel Mönchebergstr. 17, D-34109 Kassel Redaktion: Christiane Rittgerott Druck: Druckwerkstatt Bräuning + Rudert GbR, Espenau ISBN: 978-3-934377-11-0 Verlag Winfried Jenior Lassallestr. 15, D-34119 Kassel Inhalt Einleitung: Der Stellenwert von Expertisen als begleitende Aktivität der Hochschulforschung Barbara M. Kehm, Harald Schomburg und Ulrich Teichler 5 Internationalisierung von Hochschule und Forschung: Politik, Instrumente und Trends in Europa und Deutschland Bettina Alesi und Barbara M. Kehm 13 Rascher Wandel mit offenem Ausgang: Strukturwandel des tertiären Bildungssystems 77 Nadine Merkator und Ulrich Teichler Humankapitalpotenziale der gestuften Hochschulabschlüsse: Weiteres Studium, Übergang in das Beschäftigungssystem und beruflicher Erfolg von Bachelor- und Master-Absolventen in Deutschland Bettina Alesi, Harald Schomburg und Ulrich Teichler 129 Einleitung: Der Stellenwert von Expertisen als begleitende Aktivität der Hochschulforschung Barbara M. Kehm, Harald Schomburg und Ulrich Teichler I. Hochschulpolitik tut sich nicht ohne weiteres leicht mit Hochschulforschung. Nicht selten wird auf die Hoffnung gesetzt, dass politische Aussagen desto mehr überzeugen, je inbrünstiger und öfter sie wiederholt werden. Einzelbeobachtungen werden oft zu gesicherten Erkenntnissen hochstilisiert. Maßnahmen werden nicht selten als sichere Lösungen bisheriger Probleme gepriesen, ohne dass dafür viel mehr als die Hoffnung ihrer Protagonisten spricht. „Evidenzbasierte Politik“ ist keine Selbstverständlichkeit, und Spötter meinen, dass „politikbasierte Evidenz“ viel höher im Kurs stehe. Ebenso tut sich Hochschulforschung nicht ohne weiteres leicht mit der Hoch- schulpolitik. Auf der einen Seite ist die Hochschulforschung in ein wissenschaftli- ches Umfeld einbettet, in dem die Auseinandersetzung mit Fragen der Praxis oft als Mangel an Theoriebasiertheit gebrandmarkt wird und in dem nicht selten Fi- nanzierung von Projekten aus Politik und Praxis als sicherer Indikator für zweit- klassige Forschung abgetan wird. Auf der anderen Seite ist seitens der Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich auf Politik einlassen, nicht selten die Neigung ausgeprägt, sich expertokratisch zu gerieren und Politik als ignorant zu geißeln, wenn diese sich nicht umstandslos der vermeintlich richtigen wissen- schaftlichen Einsicht anschließt. II. Bei näherem Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass im Themenbereich „Hoch- schule“ günstige Voraussetzungen für einen Diskurs von Politik und Wissenschaft bestehen: − Es gibt hochschulpolitische Akteure, die gerade wegen geringer direkter Macht- und Kontrollfülle den Stellenwert systematischer Analysen hoch schät- zen, derartige Studien fördern und ihre Bedeutung daraufhin prüfen, ob sie An- 6 Barbara M. Kehm, Harald Schomburg und Ulrich Teichler regungen für zukünftige Politiken implizieren. Dazu gehört zweifellos das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das seine hochschulpolitische Autorität stärker als die entsprechenden Länderministerien auf die Plausibilität seiner Konzepte stützen muss, und ebenfalls die Europäische Kommission, die bei gestaltenden Maßnahmen immer der Anforderung ausgesetzt ist, diese nach einiger Zeit evaluieren zu lassen, weil nur dann diese Maßnahmen – unverän- dert oder modifiziert unter anderem infolge der Ergebnisse der Evaluation – fortgeführt werden können. − Hochschulen sind ein Ort reflektierender Praktiker. Obwohl wir im Hochschul- alltag zuweilen erleben, dass die Akteure bei innerorganisatorischen Macht- spielen ihre sonst gepflegten intellektuellen Mindestansprüche deutlich unter- schreiten, gibt es doch auch viele Beispiele von besonders reflektierter Ausei- nandersetzung mit der eigenen Situation. Ein Zeichen dafür ist auch, dass die Grenzen zwischen Publikationen von Forschern einerseits und Praktikern ande- rerseits im Themenbereich „Hochschulen“ besonders fließend sind. − Hochschulforschung – wie auch andere gegenstandsdefinierte Bereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften – schöpft ihr Existenzrecht nicht ohne wei- teres aus der Tradition von Disziplinen oder aus der Freiheit der Wissenschaft, sich jedem Gegenstand zuzuwenden. Sie verdankt ihre Entstehung und Förde- rung vielmehr dem Problembewusstsein, dass an den Hochschulen nicht alles naturwüchsig und selbstregulierend „läuft“. Auch wächst Hochschulforschung immer dann, wenn das Problembewusstsein über die Lage der Hochschulen zu- nimmt. − In jüngster Zeit hat sich unter den Akteuren des Hochschulsystems die Vorstel- lung verbreitet, dass viele wichtige Fragen zu vielschichtig sind, um deren Analyse einfach auf Alltagsbeobachtungen zu stützen. Auch sind die Entschei- dungsstrukturen so komplex geworden, dass genauere Aufarbeitungen der Situ- ation immer häufiger für erforderlich gehalten werden. Auf der Suche nach Lösungen werden zwar immer Evaluationen aller Art etabliert, nimmt die Pro- fessionalisierung verschiedener Akteure an den Hochschulen zu und wird vermehrt der Rat von „Consultants“ gesucht, aber zweifellos wächst auch das Interesse an der Hochschulforschung. III. Für die Hochschulforschung in Deutschland ist kennzeichnend, dass sie überwie- gend anwendungsnah angesiedelt ist: Entweder außerhalb der Hochschulen (so das Bayerische Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung in München sowie die Forschungsbereiche innerhalb der Hochschul-Informations- Systems GmbH in Hannover und innerhalb des Centrums für Hochschulentwick- lung in Gütersloh) oder innerhalb der Hochschulen in Verknüpfung mit prakti- schen Funktionen (so die Hochschuldidaktischen Zentren). Andererseits wird Der Stellenwert von Expertisen als begleitende Aktivität der Hochschulforschung 7 innerhalb der wissenschaftlichen Einheiten der Hochschulen das Thema „Hoch- schule“ zumeist nur von einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder nur von kleinen Teams – und dann meistens auch nur für eine kurze Zeit – als Forschungsgegenstand gewählt. Dass Hochschulforschung als ein Schwerpunktbereich einer Universität im Be- reich der Geistes- und Sozialwissenschaften gesehen und unterstützt worden ist, hat sich in Deutschland über mehrere Jahrzehnte hinweg nur an der Universität Kassel ergeben (und ist daneben an der Universität Halle-Wittenberg inzwischen für mehr als ein Jahrzehnt realisiert). Damit ist das Internationale Zentrum für Hochschulforschung der Universität Kassel (vormals Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamthochschule Kassel) ein interes- santer Fall, an dem beobachtet werden kann, wie Hochschulforschung operiert, die von der Unabhängigkeit der Forschung an Universitäten und von den Qualitätsan- sprüchen der Universität in Theorien und Methoden getragen wird und sich zugleich dem Anspruch der Praxisrelevanz ähnlich wie anwendungsnah institutio- nalisierte Forschung stellt. IV. Das Internationale Zentrum für Hochschulforschung (INCHER-Kassel) ist eine zentrale interdisziplinäre Forschungseinrichtung der Universität Kassel. Die ein- zelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bzw. Teams sind für die For- schungsprojekte verantwortlich. In Kolloquien bzw. im gemeinsamen Entschei- dungsgremium, dem Direktorium, kann gegenseitiger Rat erfolgen. Dass ein Pro- jekt vor Beginn „grünes Licht“ vom Direktorium erhalten muss, wirkt nur selten hart eingrenzend, aber es erinnert an den Konsens über forschungsstrategische Grundsätze – und das heißt auch, zu eigenen oder von außen herangetragenen Ideen „nein“ zu sagen, wenn diese im Hinblick auf die Grundsätze voraussichtlich wenig ergiebig sein werden. Das im Laufe der Jahre gewachsene forschungsstrategische Grundverständnis lässt sich als unabdingbare Verknüpfung von vier Elementen beschreiben: − praxisrelevant, − theoretisch ergiebig, − empirisch anspruchsvoll und offen für überraschende Ergebnisse, − zurückhaltend in der Formulierung praktischer Folgerungen. Praxisrelevant: Diskurse von Politik und Praxis über Probleme der Hochschulen und über wünschenswerte Veränderungen werden ebenso wie externe Anfragen, ob das Internationale Zentrum für Hochschulforschung bestimmte Analysen durchführen könnte, mit Aufmerksamkeit geprüft, ob sie lohnenswerte Ausgangs- punkte für eine zugleich theoretisch und methodisch anspruchsvolle wie auf Pra- xisrelevanz achtende Hochschulforschung sein können. Auch wird regelmäßig zu 8 Barbara M. Kehm, Harald Schomburg und Ulrich Teichler klären versucht, welche Probleme „hinter dem Rücken“ des Bewusstseins der Akteure virulent sind. Schließlich wird versucht, sich anbahnende Probleme und neue Entwicklungsrichtungen so frühzeitig zu erkennen, so dass schon Untersu- chungsergebnisse vorliegen, wenn ein entsprechendes öffentliches Problembe- wusstsein entsteht. Theoretisch ergiebig: Aus der Fülle der verschiedenen potenziellen For- schungsthemen werden in der Regel von den Mitgliedern des Internationalen Zentrums für Hochschulforschung in Kassel nur diejenigen aufgegriffen, die inte- ressante theoretische und methodische Erträge erwarten lassen. Dazu gehört erstens die Auseinandersetzung mit den Alltagstheorien der Akteure: Was wird als wichtiges Problem gesehen? Welche Ideen von einer wünschenswerten Funktions- fähigkeit der Hochschulen liegen dem zugrunde? Welche Ursachen für die wahr- genommenen Probleme werden vermutet? Welche Lösungen werden von den Maßnahmen erwartet, die zu ergreifen vorgeschlagen wird? Zweitens gehört es dazu, den Bestand wissenschaftlicher Konzeptionen daraufhin zu überprüfen, welches Erklärungspotenzial sie haben bzw. inwieweit sie durch ein zur Diskussi- on stehendes Forschungsprojekt weiterentwickelt werden können. Drittens wird in der Regel geprüft, wie ein Forschungsprojekt konzeptionell und methodisch so angelegt werden kann, dass es sich im Falle konkurrierender Konzeptionen zur Prüfung eignet, welche dieser Konzeptionen einen höheren Erklärungswert hat. Empirisch anspruchsvoll und offen für überraschende Ergebnisse: Die Siche- rung methodischer Qualität im Rahmen der bestehenden Bedingungen hat hohen Stellenwert – welche methodischen Vorgehensweisen auch immer gewählt wer- den. Aber darüber hinaus wird versucht, Forschungsprojekte so anzulegen, dass sie eine große Chance haben, Ergebnisse zu erbringen, die einerseits „Überra- schungen“ sind gegenüber „conventional wisdom“ und andererseits „schneidend“ sind gegenüber kontroversen wissenschaftlichen „Lehrmeinungen“ und politi- schen Positionen. Zurückhaltend in der Formulierung praktischer Folgerungen: Für die Diskus- sion der praktischen Folgerungen aus den gewonnenen Erkenntnissen empfiehlt sich Zurückhaltung, denn praktische Folgerungen lassen sich in der Regel nicht aus der wissenschaftlichen Interpretation von Forschungsergebnissen „ableiten“; sie sind im Diskurs der Akteure zu entwickeln, wobei sich die Plausibilität von Lösungsversuchen aber durchaus durch die Einbeziehung der Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftler in den Diskurs erhöhen kann. V. Forschungsstrategische Grundsätze gelten im Prinzip als hilfreich, aber die meis- ten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen sich im Forschungsalltag eingestehen, dass sie die an sich selbst gestellten Ansprüche nicht in allen Fällen erreichen. In der Hochschulforschung gibt es zweifellos viele im Prinzip interes-
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