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(Wieder-)Entdeckung der Medien. Das Affordanz- konzept in der Mediensoziologie PDF

20 Pages·2009·0.14 MB·German
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Preview (Wieder-)Entdeckung der Medien. Das Affordanz- konzept in der Mediensoziologie

Erscheint in: Sociologia Internationalis. Internationale Zeitschrift für Soziologie, Kommunikations- und Kulturforschung 2/2009. Nicole Zillien Die (Wieder-)Entdeckung der Medien. Das Affordanz- konzept in der Mediensoziologie Zusammenfassung Soziologische Untersuchungen von Informations- und Kommunikationstechnologien sind oft merkwürdig objektlos. Das heißt, die Merkmale der technologischen Artefakte, deren Nutzung und Wirkung unter- sucht werden soll, werden nur selten explizit in die empirischen Studien mit einbezogen – wenn dies geschieht, erfolgt es oft unsystematisch und ohne Theoriebezug. Der vorliegende Artikel entwickelt unter Rückbezug auf das wahrnehmungspsychologische Konzept der Affordanz einen Ansatz, der die systema- tische Berücksichtigung technologischer Artefakte erlaubt und gleichzeitig die Bedeutung des Rezipien- ten im Prozess der Mediennutzung anerkennt. Exemplarisch werden Untersuchungen von Mobiltelefonen, Präsentationstechnologien, Datenbanken und Chatforen diskutiert, wobei sich herausstellt, dass das Af- fordanzkonzept aus Perspektive der Medienforschung einer soziologischen Rahmung bedarf. Aus diesem Grund wird ein Vorschlag zur soziologischen Einbettung des Affordanzkonzeptes unterbreitet und ab- schließend dargelegt, welchen Gewinn die Medienforschung aus der Anwendung dieses Konzeptes zie- hen kann. I Einleitung In unserem Alltag findet sich eine erstaunliche Anzahl an Gegenständen: Von Bett, We- cker, Zahnbürste über Teller, Tasse, Treppe bis hin zu Bus, Fahrticket und Regenschirm lassen sich zahlreiche Objekte aufzählen, auf die wir allein in der Morgenstunde treffen. Norman (1988: 11f.) spricht von etwa zwanzig, unter Umständen sogar dreißig Tausend einfachen Gegenständen, auf die wir im Alltag stoßen. Aus soziologischer Perspektive stellt sich die Frage, wie diese Objekte unsere Handlungen strukturieren und wie sich Alltagshandeln wiederum auf die Beschaffenheit der Objekte auswirkt. Dass ein solches Wechselspiel zwischen Akteuren und den im Alltag verfügbaren Objekten besteht, lässt sich vorerst anekdotisch belegen. Es zeigt sich beispielsweise, dass die Bauart von Bus- häuschen das Verhalten von Vandalen beeinflusst (vgl. Norman 1989: 19): Sind die Wartehäuser aus Glas, so werden sie eher zertrümmert, sind sie aus Holz, werden sie eher vollgeschrieben und zerschnitzt. Die ökologische Wahrnehmungspsychologie be- hauptet in diesem Zusammenhang, dass Menschen die Handlungsmöglichkeiten, die ihre Umwelt anbietet, direkt erfassen: „Glas eignet sich zum Durchgucken und Zer- schlagen […]. Flache, poröse, glatte Flächen sind zum Darauf-Schreiben“ (Norman 1989: 21). Die zum Bau eines Wartehäuschens dienenden Werkstoffe weisen demnach 1 bestimmte Eigenschaften auf. Diese determinieren zwar nicht das Handeln von Akteu- ren, bieten aber Handlungsoptionen an, die das Auftreten bestimmter Verhaltensweisen wahrscheinlicher machen. Diese Position, die der Beschaffenheit von Artefakten soziale Bedeutung zuweist, stößt vielfach auf Unbehagen. So äußerte beispielsweise David Sarnoff, der Vater des ameri- kanischen Rundfunks, dass die Menschen fälschlicherweise dazu neigten, die (media- len) Artefakte und nicht die Nutzer derselben für (ungewollte) Wirkungen verantwort- lich zu machen: „Die Schöpfungen der modernen Wissenschaft sind an sich weder gut noch schlecht; die Art und Weise aber, wie sie verwendet werden, bestimmt ihren Wert“ (zitiert nach McLuhan 1968: 17). Marshall McLuhan karikiert Sarnoffs Position als „Nachtwandlermentalität“: „Nehmen wir an, wir wollten sagen […] ‚Schusswaffen sind an sich weder gut noch schlecht; nur die Art wie sie verwendet werden, bestimmt ihren Wert‘. Das heißt, wenn die Schusswaffen die richtigen Leute treffen, sind Schusswaffen gut. Wenn die Fern- sehröhre auf die richtigen Leute mit der richtigen Munition trommelt, ist das Fernsehen gut. Ich will jetzt nicht boshaft sein, aber in dieser Behauptung steckt einfach gar nichts, was einer genaueren Überprüfung standhielte, denn es entgeht ihm das Wesen des Medi- ums, jedes einzelnen Mediums und aller Medien in der echt narzisstischen Art des Men- schen, der von einer Abtrennung und Ausweitung seiner eigenen Person durch eine neue Technik hypnotisiert ist“ (McLuhan 1968: 17). McLuhan behauptet an dieser Stelle weiterhin, jedes Medium habe die Macht, dem Nut- zer die eigenen Postulate aufzuzwingen, was die inzwischen sprichwörtliche Aussage „The Medium is the Message“ auf den Punkt bringt. Harold A. Innis, ein Vordenker von Marshall McLuhan, geht in „The Bias of Communication“ (1949) davon aus, dass die in einer Gesellschaft genutzten Medien zur Erklärung der vorherrschenden Gesellschafts- form beitragen. Beispielsweise vergleicht er die Merkmale von Steintafeln mit jenen von Papyrus und weist darauf hin, dass erstere lange Zeiträume überdauerten, während Papyrus wegen der leichteren Transportierbarkeit eher Raum überwindend sei (vgl. In- nis 1997: 95 ff). Die Verwendung von Papyrus begünstige demnach die räumliche Aus- dehnung von Wissen und Macht und könne so – wie Innis am Beispiel von Ägypten zeigt – zur Ausweitung eines Reiches beitragen. Der Rückbezug auf die Mediumtheorie zeigt, dass der naheliegende Gedanke, die Merkmale medialer Artefakte seien in der Medienforschung zu berücksichtigen, alles andere als neu ist. Dennoch fällt auf, dass empirische Analysen der Nutzung und Wirkung von Infor- mations- und Kommunikationstechnologien im deutschsprachigen Raum oft merkwür- dig objektlos sind. Vor zwei Jahrzehnten schon weist Hertha Sturm darauf hin, dass sich 2 wohl kaum Einwände gegen die Feststellung fänden, dass Medienwirkungen abhängig seien von „Persönlichkeitsmerkmalen des Rezipienten (wozu auch Sozial- und Situati- onsvariablen wie gesamtgesellschaftliche Einschätzungen gehören) und von Form und Inhalt medienspezifischer Darbietungen“ (Sturm 1988: 115), was sich in einer glei- chermaßen exakten Erfassung von Rezipient und Medium niederschlagen müsse. Die Merkmale technologischer Artefakte werden jedoch nur selten explizit in Untersuchun- gen mit einbezogen – wenn dies geschieht, erfolgt es meist unsystematisch und ohne theoretischen Rückbezug. Die wenig eindeutigen Schriften von McLuhan und die eher auf der Makroebene angesiedelten Argumentationen von Innis bieten in diesem Zu- sammenhang genau wie die Arbeiten von Flusser (1997), Kittler (1995), Meyrowitz (1989) oder Giesecke (2002) zwar Anknüpfungspunkte, sind aber nicht als theoretischer Bezugsrahmen für empirische Untersuchungen zu verstehen. Im Folgenden soll deshalb ein Ansatz entwickelt werden, der die empirische Analyse der Nutzung und Wirkung neuer Technologien erlaubt, ohne dass die den medialen Artefakten inhärenten Eigen- schaften in Vergessenheit geraten. Hierzu wird in einem ersten Schritt das aus der ökologischen Wahrnehmungspsy- chologie stammende Konzept der Affordanz erläutert, das einen Zusammenhang zwi- schen Umweltgegenständen und Subjekten konzipiert. Zahlreiche, vor allem englisch- sprachige Studien, die sich mit der Gestaltung, Nutzung und Wirkung von Informations- und Kommunikationstechnologien beschäftigen, beziehen sich auf dieses Konzept. Ent- sprechende Untersuchungen von Mobiltelefonen, Datenbanken, Präsentationstechnolo- gien und Chatforen werden exemplarisch diskutiert, wobei sich herausstellt, dass sich der Affordanzbegriff in seiner Originalfassung nur bedingt zur Verwendung in der Me- diennutzungs- und Medienwirkungsforschung eignet. Es wird gezeigt, dass der Rückbe- zug auf den Affordanzbegriff zur Untersuchung neuer Medien eine soziologische Rah- mung erfordert. Daraufhin wird ein Vorschlag unterbreitet, wie eine soziologische Ein- bettung des Affordanzkonzeptes aussehen könnte. Abschließend wird dargelegt, wel- chen Gewinn die Medienforschung aus der Verwendung des soziologisch gerahmten Affordanzkonzeptes ziehen kann. II Zum Begriff der Affordanz Der Begriff der affordance geht auf den amerikanischen Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson (1979) zurück und lässt sich als Angebotscharakter eines Objektes defi- nieren. Während das englische Verb to afford im Wörterbuch auftaucht und sich mit 3 bieten, erlauben oder ermöglichen übersetzen lässt, hat Gibson das Nomen affordance selbst geprägt und liefert folgende Definition: „Unter den Angeboten (affordances) der Umwelt soll das verstanden werden, was sie den Lebewesen anbietet (offers), was sie zur Verfügung stellt (provides) oder gewährt (fur- nishes), sei es zum Guten oder zum Bösen […] Ich meine damit etwas, das sich auf die Umwelt und das Lebewesen gleichermaßen bezieht und zwar auf eine Art, die kein ge- bräuchliches englisches Wort auszudrücken vermag. Zum Ausdruck bringen soll es die Komplementarität von Lebewesen und Umwelt“ (Gibson 1982: 137). Gibson untersucht, welche Affordanzen die natürliche Umwelt (Felsen, Flüsse, Berge usw.) für Menschen und Tiere bereithält. Ein flacher, auf dem Boden liegender Stein hat beispielsweise für einen Menschen andere Affordanzen als für einen Frosch. Ein Mensch kann den Stein aufheben, ihn werfen oder darüber stolpern, während ein Frosch beispielsweise unter dem Stein Deckung vor Feinden suchen kann (vgl. Guski 1996: 5). Der Begriff der Affordanz beinhaltet somit, dass Lebewesen die Gegenstände in ihrer Umwelt vor dem Hintergrund der eigenen Körperausstattung beziehungsweise den ent- sprechenden Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen. In diesem Sinne bietet beispiels- weise ein Stuhl einem Menschen – bei entsprechender Kniehöhe – das Darauf-Sitzen an (vgl. Gibson 1977: 68). Die Affordanz eines Gegenstandes ist dabei unabhängig von den Bedürfnissen, der Aufmerksamkeit oder Einschätzung eines Beobachters. Das heißt, die Affordanz eines Objektes ist invariant: „For example, a glass of water affords drinking whether or not I am thirsty, a ball affords throwing, whether or not anybody sees it, and a pit af- fords falling even if it is concealed by brush“ (vgl. Gaver 1991: 80). Gibson nimmt da- mit Abstand von kognitionspsychologischen Ansätzen und vertritt die Idee einer direk- ten Wahrnehmung der Affordanz von Gegenständen, welche durch die Invarianz der- selben ermöglicht werde. Die Wahrnehmung der Affordanz von Gegenständen ist inso- fern direkt, als dass sie nicht durch kognitive Schlüsse ergänzt werden muss. Diese Vor- stellung einer direkten Wahrnehmung beinhaltet jedoch nicht, dass das Erkennen von Affordanzen keine Erfahrungen erfordert, „im Gegenteil, Affordanzwahrnehmung will weitgehend gelernt sein“ (Guski 1996: 48). Dies wird deutlich am Beispiel der struktu- rellen Invarianzen von Objekten: Eine Klasse von Gegenständen kann sich zwar im Detail unterscheiden, die strukturellen Relationen bleiben aber gleich. Deshalb nimmt ein Mensch – der in einer Gesellschaft, die Stühle als Sitzgelegenheiten definiert, auf- gewachsen ist – direkt wahr, dass ein Sessel ebenfalls die Affordanz des Darauf-Sitzens hat. Gibson betont somit, dass im Alltagsleben nicht das Erfassen von konkreten Ge- 4 genstandsmerkmalen im Vordergrund steht, sondern die direkte Wahrnehmung der Handlungsoptionen, die sich aus der Verfügbarkeit der Gegenstände ergeben (vgl. Fay- ard/ Weeks 2007: 609). Für einen erwachsenen Menschen gilt dann beispielsweise ein Apfel als „ess-bar“, eine Klippe als „herunterfall-bar“ oder ein Feuer als „damit-koch- bar“ (vgl. Scarantino 2003: 950). Ebenso verhält es sich mit Werkzeugen: Ein längli- ches Objekt, das an einem Ende schwer und am anderen Ende zu fassen ist, bietet sich zum Schlagen an (Keule, Hammer), ein Objekt, das sich greifen lässt und eine scharfe Kante hat, bietet sich zum Schneiden an (Messer, Axt, Hacke) und ein spitzes Objekt bietet sich zum Durchbohren an (Speer, Pfeil, Nadel) (vgl. Gibson 1982: 43). Diese Werkzeuge sind somit grundsätzlich greifbar, tragbar, zum Schlagen, Schneiden, Boh- ren einsetzbar, erhalten aber im Falle ihres Einsatzes noch eine ganz neue Qualität: „Ist ein Werkzeug in Gebrauch, so wird es zu einer Art Verlängerung der Hand, zu deren Zubehör, ja fast zu einem Teil des Körpers des Benutzers und ist somit nicht länger ein Teil seiner Umwelt […] Diese Fähigkeit, dem Körper etwas anzufügen, legt den Gedan- ken nahe, dass die Grenze zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt nicht unverrück- bar an seiner Hautoberfläche liegt, sondern sich verlagern kann, allgemeiner gesagt, dass die absolute Dualität von ‚subjektiv’ und ‚objektiv’ falsch ist. Ziehen wir die Angebote, die die Dinge uns machen, mit in Betracht, so entgehen wir dieser Dichotomie der Philo- sophen“ (Gibson 1982: 43). Es lässt sich demnach zusammenfassen, dass das Affordanzkonzept eine wechselseitige Bezugnahme von Subjekt und Objekt voraussetzt. Die Affordanzen eines Gegenstandes sind einerseits als objektiv zu bezeichnen, da sie invariant sind – das heißt unabhängig von der Interpretation oder Einschätzung eines Akteurs existieren. Sie haben jedoch gleichzeitig subjektiven Charakter, da sie sich auf die Handlungsmöglichkeiten eines Akteurs beziehen. McGrenere und Ho (2000: 2) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Überwindung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes: „By cutting across the subjec- tive/ objective barrier, Gibson’s affordances introduce the idea of the actor-environment mutuality; the actor and the environment make an inseparable pair” (McGrenere/ Ho 2000: 2). Diese im Affordanzkonzept angelegte Wechselseitigkeit von Artefakt und Wahrnehmendem ist einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte für die Mediensoziolo- gie. Wendet man das Affordanzkonzept in der Analyse der Nutzung und Wirkung von Medien an, so richtet sich der Scheinwerfer nicht allein auf den Nutzer, aber auch nicht ausschließlich auf das technologische Artefakt, sondern stellt eine Verbindung zwischen den beiden her. 5 III Das Affordanzkonzept in der neueren Medienforschung Im Folgenden werden mehrere Studien zur Gestaltung, Nutzung und Wirkung von In- formations- und Kommunikationstechnologien vorgestellt, die sich auf das Affordanz- konzept beziehen. Dabei soll gezeigt werden, inwiefern die Mediennutzungs- und Me- dienwirkungsforschung von den Ideen des Affordanzkonzeptes profitieren kann. Es wird jedoch auch deutlich, dass sich der ursprüngliche, Gibsonsche Affordanzbegriff zur Anwendung in der Medienforschung in verschiedener Hinsicht als problematisch erweist. Oft wird Mediennutzern erst mit der Verbreitung einer neuen Technologie bewusst, welche Affordanzen die vorherigen Technologien oder Gegenstände beinhalteten. Dabei führen neue Technologien nur selten lediglich zum effizienteren Ablauf älterer Prakti- ken, vielmehr verändern sie bestehende Verhaltensweisen oder erfordern gar völlig neue. Gaver (1996) zeigt, dass die Einführung von computerbasierten Datenbanken in Bibliotheken zum Beispiel dazu führte, dass die Besonderheiten der zuvor benutzten Karteikarten deutlich wurden. Die im Vergleich zu den Karteikarten neuen Affordanzen der Datenbanken (z.B. ortsungebundener Zugriff, automatisierte Durchsuchbarkeit, in- dividuelle Abspeichermöglichkeit) entsprachen dabei den intendierten Vorteilen der Implementierung. Die den Karteikarten eigene Affordanz der Beschreibbarkeit – hand- geschriebene Anmerkungen waren in den elektronischen Datenbanken nicht mehr mög- lich – ging jedoch beispielsweise verloren (vgl. Gaver 1996: 117). Wird in einem sol- chen Fall der Verlust bestimmter Affordanzen von Nutzern als Problem angesehen, so wird oft versucht, dies durch technologische Weiterentwicklungen zu lösen: So sind Textverarbeitungsprogramme, die das Einfügen von Anmerkungen oder farbigen Mar- kierungen zulassen, beispielsweise eine Weiterentwicklung, die auf die Affordanzen von Papierdokumenten Bezug nimmt. Die Affordanzen elektronischer Medien verän- dern aber wiederum auch die Wahrnehmung älterer Medien: So hat die Möglichkeit der unbemerkten Bearbeitbarkeit elektronischer Texte zur Folge, dass auch die Authentizität von papiernen Schriftdokumenten eher angezweifelt wird. Vertragsunterzeichnungen sind deshalb teilweise nur noch mit blauem statt schwarzem Stift erlaubt, um die elekt- ronische Reproduzierbarkeit von Unterschriften zu erschweren (vgl. Gaver 1996). Neue Technologien sind üblicherweise so variationsreich und formbar, dass sie eine breite Palette an möglichen Handlungsoptionen anbieten; gleichzeitig ist jedoch der Zusam- menhang zwischen Funktionalität und Gestaltung neuer Technologien meist wenig sichtbar. 6 Dass neue Technologien nur wenige Informationen zu ihren Affordanzen preisgeben, lässt sich am Mobiltelefon veranschaulichen. Ertelt (2007) gibt einen Überblick zu den vielfältigen technischen Möglichkeiten des Handys und bezeichnet dieses als das „Schweizer Messer in der Mediennutzung Jugendlicher“. Die Gemeinsamkeit zwischen Taschenmesser und Taschentelefon liege nicht nur in der großen Anzahl unterschiedli- cher Funktionen, sondern auch in der unterschiedlichen Intensität, in der die verfügba- ren Optionen genutzt würden. Die Allensbacher Computer- und Technikanalyse 2006 untersucht unter anderem, welche Handyfunktionen tatsächlich verwendet werden: Knapp drei Viertel der Handynutzer geben an, das Mobiltelefon neben dem Telefonie- ren auch zum Versenden von Kurznachrichten einzusetzen, etwa jeder dritte Handybe- sitzer nutzt noch Adressbuch, Mobilbox oder Fotofunktion. Die zahlreichen, darüber hinausgehenden Funktionen wie Spiele, Terminkalender oder Internetzugang werden jedoch maximal von einem Fünftel der Handybesitzer genutzt. Das mag daran liegen, dass diese Funktionen per se überflüssig sind. Eine weitere Erklärung könnte aber auch sein, dass die entsprechenden Affordanzen erst gar nicht wahrgenommen werden. Der ein oder andere mag sich zwar auch mit den Funktionen des Schweizer Messers schwer tun – „besonders der Mehrweg-Zahnstocher war in seiner Anwendung nicht sofort zu erschließen“ (Ertelt 2007: 14) – doch im Unterschied zu manchen softwarebasierten Optionen des Handys nimmt der Nutzer zumindest die Existenz eines langen, weißen, unter Umständen rätselhaften Stäbchens wahr. Gaver (1991: 80) spricht in diesem Fall, wenn die Affordanz eines Objektes zwar vorhanden ist, aber keine wahrnehmbaren In- formationen dazu vorliegen, von versteckten Affordanzen. Eine direkt wahrnehmbare Affordanz liege hingegen vor, wenn ein Artefakt so gestaltet ist, dass die vorhandenen Gebrauchseigenschaften unmittelbar ersichtlich sind – was zumindest aus der Perspek- tive der Technikgestaltung anzustreben ist. Wenn letztlich Gestaltungselemente fälsch- licherweise auf eine Affordanz hinweisen und auch entsprechend interpretiert werden, so handelt es sich nach Gaver (1991: 80) um eine falsche Affordanz. Hier müsste jedoch eher von einer falsch wahrgenommenen Affordanz die Rede sein, da nicht der Ange- botscharakter an sich, sondern höchstens die dazu vorhandenen Informationen für den Nutzer falsch beziehungsweise missverständlich sein können. Die erläuterte Klassifikation von Gaver (1991) setzt dabei voraus, dass eine von Technikgestaltern intendierte Nutzungsweise existiert, deren Ausübung als korrekte Wahrnehmung der gegebenen Affordanzen interpretiert werden kann. Zahlreiche Stu- dien belegen jedoch, dass technologische Artefakte oftmals nicht in der von den Ent- 7 wicklern intendierten Form eingesetzt werden: „Whether through error (misperception, lack of understanding, slippage) or intent (sabbotage, inertia, invention), users often ignore, alter, or work around the inscribed technological properties“ (Orlikowski 2000: 409). Baerentsen und Trettvik erläutern in diesem Zusammenhang, dass es zwar meist einen Konsens zur üblichen Gebrauchsform von Gegenständen gibt – so bietet bei- spielsweise eine Tasse die Affordanz der „Heißgetränke-Aufbewahrung“ an – dass aber weitere, nichtintendierte Nutzungsformen vielfach auftreten. So mag manch einer der Tasse auch die Affordanz der „Werfbarkeit” zusprechen: „[T]hese activities are affor- dances in their own right, but they are not the affordances that the cup has been pro- duced for“ (Baerentsen/ Trettvik 2002: 57). Das heißt, dass zumindest im ursprünglichen Affordanzkonzept kulturelle und sozi- ale Faktoren einen geringen Stellenwert einnehmen. An der Geschichte des Telefons lässt sich beispielhaft aufzeigen, dass dies hinsichtlich der Analyse von technologischen Gebrauchsweisen problematisch ist. Sowohl in der Geschäftswelt als auch im Haushalt diente das Telefon lange Zeit in erster Linie der Übermittlung von Anweisungen: Ge- schäftsmänner nutzten das Telefon zum Abwickeln beruflicher Anliegen, während de- ren Frauen es zum Managen des Haushaltes einsetzten (vgl. Hutchby 2001: 445, Flichy 1994: 149). Darüber hinaus wurde das Telefon zum Abhören von Wetterberichten, Sportergebnissen oder Fahrplänen eingesetzt, Konzerte und Tagesnachrichten wurden über das Telefon übertragen und auch über ungewöhnliche Gebrauchsformen wurde berichtet: „Industry magazines eagerly printed stories about the telephone being used to sell products, alert firefighters about forest blazes, lullaby a baby to sleep, and get voters out on election day“ (Fischer 1988: 38). Vor allem Frauen nutzten die pauschal gezahl- ten Telefonleitungen jedoch mehr und mehr in einer von den Telefongesellschaften als unnütz angesehenen Form: zum Plaudern (vgl. Flichy 1994: 151). Die Erhebung eines amerikanischen Telefonbetreibers im Jahr 1909 ergab, dass knapp ein Drittel der Tele- fongespräche in Seattle „purely idle gossip” (Fischer 1988: 48) dienten, wogegen Tele- fonbetreiber mit zeitlichen Beschränkungen von Telefonaten und – teils gereimten – Fernsprechregeln vorgingen: „Die Kürze, so des Witzes Seele, daher beim Fernspruch niemals fehle“ (zitiert nach Ruchatz 2004: 130). Als sich eine Kostenberechnung für einzelne Telefonate durchsetzte, wandelte sich die Bewertung des Telefonplauschs zum Positiven, da die Telefonbetreiber nun Geld damit verdienen konnten (vgl. Fischer 1988: 52). Doch auch wenn das Telefon nicht von Anfang an als Mittel zum sozialen Austausch konzipiert war, enthielt es stets die entsprechende Affordanz: 8 „While it may be the case that the telephone was not originally marketed as a means of two-party interpersonal communication, the point is, it affords that form of interaction (along with the other forms mentioned and, no doubt, other forms to be found)“ (Hutchby 2001: 449). An den unterschiedlichen Gebrauchsformen des Telefons lässt sich ablesen, dass sich die Wahrnehmung der Affordanzen des Telefons im Zeitverlauf oder auch nach Ge- schlechtszugehörigkeit unterscheidet. Solcherart Analysen sind jedoch nicht ohne weite- res mit dem Affordanzkonzept zu vereinen, da Gibson sozialen und kulturellen Ein- flussfaktoren kaum Aufmerksamkeit zukommen lässt. Wenn im Falle von neuen Technologien eine Vielzahl an möglicherweise auch noch versteckten Affordanzen vorliegt, stellt sich die Frage, wie sich Alltagspraktiken in der Verwendung dieser Medien herausbilden. Unter Rückbezug auf das Affordanz- konzept untersucht Lee (2007), wie sich die sozialen Praktiken der Textherstellung von jugendlichen Internetnutzern ausbilden. Auf der Basis einer Analyse der Chatnutzung von in Hong Kong aufgewachsenen Jugendlichen behauptet sie, dass die Praktiken der Textherstellung von den wahrgenommenen Affordanzen der verfügbaren Sprachen (Englisch, Chinesisch, Kantonesisch) und Technologien abhängen, wobei diese Fakto- ren im Fall der elektronisch vermittelten Schriftsprache schwer zu trennen sind. So kann Lee beispielsweise zeigen, dass Chatnutzer aufgrund der aufwändigeren Eingabe der kantonesischen Schriftzeichen auf die englische Sprache ausweichen, in der sie sich jedoch nicht so gut ausdrücken können: „In other words, the factor of expressiveness is often shaped by the factor of technical constraints“ (vgl. Lee 2007: 242). Dabei spielt auch eine Rolle, dass Chatkommunikation in Echtzeit stattfindet und somit eine gewisse Tippgeschwindigkeit erforderlich ist. Lee (2007: 245) betont, dass „the factor of speed had to be considered together with the technical affordances of inputting methods, and vice versa“. Die Studie weist somit nach, dass sich die sozialen Praktiken des schrift- sprachlichen Austauschs im Wechselspiel mit den wahrgenommenen Affordanzen der verfügbaren Ressourcen ausbilden. Stark und Paravel (2007) untersuchen, wie sich die Verwendungspraktiken der Prä- sentationssoftware PowerPoint im Zusammenspiel mit den Affordanzen der Technolo- gie manifestieren. Die herausgestellten Affordanzen der Präsentationssoftware be- schreiben sie folgendermaßen: „Its digital character provides affordances 1) that allow heterogeneous materials to be seamlessly represented in a single format that 2) can morph easily from live demonstrati- 9 on to circulating digital documents that 3) can be utilized in counter-demonstrations” (Stark/ Paravel 2007: 23). Die Autoren gehen demnach von einem Dreischritt aus: PowerPoint bietet die Integrati- on von Text, Grafiken, Bildern, Tönen und Filmen an. Weiterhin ermöglicht das Pro- gramm, die multimedial gestalteten Vortragsfolien in Internetseiten umzuwandeln oder auch per E-Mail zu versenden, wodurch der Foliensatz innerhalb kurzer Zeit weite Verbreitung finden kann. Das dann weithin verfügbare Material bietet sich letztlich un- ter anderem zur Weiterverwendung in kritischen Auseinandersetzungen mit der am An- fang stehenden Live-Präsentation an. Stark und Paravel (2007) veranschaulichen diese Abfolge anhand einer Folienpräsentation, die hohes Aufsehen erregte: Der ehemalige US-Außenminister Colin Powell griff im Februar 2003 zu PowerPoint, um den UN- Sicherheitsrat davon zu überzeugen, dass der Irak Biowaffen baue und Verbindungen zu Al-Quaida habe. Das vielfältige Material, das unmittelbar nach dem Vortrag auf den Regierungsseiten zum Download bereit stand, verbreitete sich rasch im Internet und führte zu kritischen Auseinandersetzungen beispielsweise mit dem verwendeten Bild- material (vgl. Stark/ Paravel 2007: 22). Dabei kann von einer Art Aneinanderreihung der Affordanzen verschiedener Medien gesprochen werden: Während die Präsentations- software die Integration multimedialer Elemente auf den Vortragsfolien und in einem nächsten Schritt deren Umwandeln in HTML-Dokumente anbietet, ist die daraufhin bestehende Möglichkeit der schnellen Verbreitung als Affordanz der Internettechnolo- gie anzusehen. Im Allgemeinen sind Studien, die sich mit den Affordanzen des Internets auseinan- dersetzen, der Usability-Forschung zuzuordnen. Das heißt, im Fokus dieser Studien liegt die Benutzerfreundlichkeit von Internettechnologien. In der Usability-Forschung wird dabei weniger auf die Affordanzdefinition von Gibson als vielmehr auf deren Va- riation durch Donald A. Norman rekurriert. Norman hat in „The Design of Everyday Things“ (1988) den Affordanzbegriff im Zusammenhang mit der Benutzerfreundlichkeit eines Gegenstandes eingeführt. Benutzerfreundlichkeit liegt nach Norman dann vor, wenn sich die vom Entwickler intendierte Nutzung eines Objektes aufgrund seines De- signs direkt erschließen lässt: „The term affordance refers to the perceived and actual properties of the thing, primarily those fundamental properties that determine just how the thing could possibly used“ (Norman 1988: 9). In der deutschen Übersetzung ist hier „affordance“ mit „Gebrauchseigenschaft“ (Norman 1989: 21) wiedergegeben, was 10

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