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Von der Lust am Einknicken PDF

176 Pages·2016·1.08 MB·German
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Henryk M. Broder Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken wjs Für mich, zum Sechzigsten »An appeaser is one who feeds a crocodile, hoping it will eat him last.« Winston Churchill Dieses ebook ist nicht zum Verkauf bestimmt! scanned by bloodronin »Und dafür haben wir überlebt?« Um ein Haar wäre auch ich ein Terrorist gewor- den. Alle Voraussetzungen waren gegeben. Meine Eltern hatten beide unter abenteuerlichen Umständen den Krieg überlebt, fielen sich nach der Befreiung in die Arme und setzten mich in die Welt. Sie waren in höchstem Maße traumatisiert und ich diente ihnen als Beweis, dass es ein Leben nach dem Überleben ge- ben konnte. Entsprechend waren ihre Erwartungen, die ich nicht erfüllen konnte. Wollte ich keinen Spinat essen, bekam ich zu hören: »Was hätten wir dafür gegeben, wenn es im Lager Gemüse gegeben hätte!« Weigerte ich mich, mir die Haare schneiden zu las- sen, erzählten sie, wie wichtig die Hygiene im Lager war und dass eine einzige Kopflaus den Tod bedeuten konnte. Kam ich nach Mitternacht nach Hause, war eine Geschichte über die Sperrstunde im Ghetto fäl- lig. Ging ich mit den falschen Bräuten aus - richtige gab es nicht, weil alle deutschen Väter in der SS ge- dient hatten -, schrien sie mich an: »Und dafür haben wir überlebt?« Aber auch nachdem meine Eltern mich einiger- maßen in Ruhe ließen, hörten die Demütigungen und Erniedrigungen nicht auf. Beim Völkerball blieb immer ich übrig; die Mannschaft, die mich abbekam, konnte gleich einpacken. Bei den »Bundesjugendspielen« be-  kam ich nicht einmal einen Trostpreis fürs Mitmachen, und die ersten Erfahrungen mit den Mädels waren so verheerend, dass sie sogar den Liegesitzen in meinem Opel Kadett peinlich waren. Ich lief durch die Gegend, und das Gefühl, das mich antrieb, war Wut: auf meine hysterischen Eltern, die blöden Pauker und auf meine Freunde, die sich meine Armstrong-Platten ausliehen und dann die Mädchen nach Hause brachten, mit denen ich zur Party gekommen war. Ich ärgerte mich dermaßen, das ich eine Gastritis bekam, die mich erst verließ, als sich ersatzweise Asthma einstellte. Während andere noch den Umgang mit Kondomen lernten, wusste ich schon über psychosomatische Krankheiten Bescheid. Warum ich trotz alledem nicht auf die Idee gekom- men bin, Terrorist zu werden, kann ich mir rückbli- ckend schwer erklären. Ich las »Die Verdammten dieser Erde« von Frantz Fanon und »Die Massenpsychologie des Faschismus« von Wilhelm Reich, die Schriften von Horst Eberhard Richter und Margarete Mitscherlich kannte ich zum Glück nicht. Ich wäre der idealtypische Amokläufer gewesen: Kind einer dysfunktionalen Familie, einsam, verzwei- felt, frustriert und geladen wie ein Fass mit Dynamit auf der Bounty. Jeder Sozialarbeiter hätte seine Freude an mir gehabt, jeder Therapeut wäre glücklich gewe- sen, mich behandeln zu dürfen. Das »M« in meinem Namen stand nicht für »Modest«, sondern für »mil- dernde Umstände«. Was mir freilich fehlte, war der Drang, mich an der Welt zu rächen. Es gab noch  kein Internet und keine Videokameras, und ich wäre nicht in der Lage gewesen, jemandem den Kopf abzu- schlagen, weil mir schon im Biologieunterricht beim Sezieren eines Regenwurms schlecht wurde. Da ich nicht Terrorist werden konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als Journalist zu werden. Das ist kein sehr angesehener Beruf, er rangiert sogar noch unter dem des Terroristen. Ein Terrorist kann mit Verständnis der Gesellschaft rechnen, damit, dass ihm bei einer Festnahme nicht nur seine Rechte vor- gelesen, sondern auch umgehend Mutmaßungen über seine Motive angestellt werden: Warum er gar nicht anders handeln konnte und warum nicht er, sondern die Gesellschaft für seine Taten verantwortlich ist. Ich gebe zu, ich bin ein wenig neidisch auf die Terroristen. Nicht nur wegen der Aufmerksamkeit, die sie erfahren, sondern wegen der idealistischen Motive, die ihnen unterstellt beziehungsweise zuge- sprochen werden. Wer ein Auto klaut und damit ei- nen Menschen an einer Kreuzung totfährt, der ist ein Verbrecher. Wer sich mit einer Bombe im Rucksack in einem Bus in die Luft sprengt und andere Passagiere mitnimmt, der ist ein Märtyrer, ein gedemütigter, er- niedrigter, verzweifelter Mensch, der sich nicht an- ders zu helfen wusste. Worum ich die Terroristen am meisten beneide, ist der Respekt, der ihnen gezollt wird. Haben sie einmal bewiesen, wozu sie imstande sind, betreten Experten den Tatort und erklären, man dürfe sie nicht noch mehr provozieren, man müsse mit ihnen reden, verhandeln, sich auf Kompromisse  einlassen und ihnen helfen, das Gesicht zu wahren. Nur so könne man sie zur Vernunft bringen und Schlimmeres verhüten. Dieses Verhalten nennt man Appeasement. Davon handelt dieses Buch.  »Deeskalation beginnt zu Hause« Vor zehn Jahren, im Frühjahr 1996, war die Welt noch weitgehend in Ordnung. Die Türme des World Trade Centers dominierten die Skyline von Manhattan, der amerikanische Präsident hatte ein Problem mit ei- ner Praktikantin, in Deutschland neigte sich die Ära Kohl ihrem Ende zu, die Intellektuellen vertrieben sich die Zeit mit Debatten, ob Francis Fukuyama mit seiner Behauptung vom »Ende der Geschichte« rich- tig lag und ob der Kapitalismus wirklich gesiegt oder der Sozialismus nur einen Probelauf verloren hatte. So genannte »Ehrenmorde« kamen nur im tiefsten Anatolien vor, die feinsinnige Unterscheidung zwi- schen Islam und Islamismus war noch nicht erfunden und in Berlin sprach sich das Bezirksamt von Spandau für den Abriss von zwei Oberstufenzentren aus - nicht weil die Lehrer vor gewalttätigen Schülern kapituliert hatten, sondern weil die Gebäude asbestverseucht wa- ren. Man musste schon sehr genau hinschauen, um die ersten Anzeichen einer heraufkommenden Krise zu bemerken: In Berlin spielte die Theatergruppe »Rote Grütze« ein Aufklärungsstück mit dem Titel »Was heißt hier Liebe?« Es richtete sich naturgemäß an Jugendliche im kritischen Alter. Um sie auf das Stück aufmerksam zu machen, wurden an Schulen Plakate  verteilt, auf denen ein Junge und ein Mädchen zu se- hen waren. Sie standen da, als wären sie einem baye- rischen Biologiebuch entsprungen, nackt und voller Unschuld. Die Schulen hatten kein Problem damit, die Plakate aufzuhängen, bis eine Schulrätin aus dem Bezirk Tiergarten eine Genehmigung des Berliner Landesschulamtes verlangte. Diese wurde verweigert. Das Plakat, entschied die Behörde, wäre dazu ange- tan, »die Gefühle islamischer Schüler« zu verletzen. Das Landesschulamt handelte präventiv, aus überzogener Fürsorge gegenüber einer kulturellen Minderheit, die noch nicht in der permissiven Gesellschaft angekommen war. Weder hatten sich isla- mische Schüler über eine Verletzung ihrer Gefühle be- klagt noch deren Eltern über die unsittliche Anmache beschwert. Heute, zehn Jahre später, hat das Landesschulamt ganz andere Sorgen: Schulen mit einem achtzigprozen- tigem Anteil an »Schülern mit Migrationshintergrund«, wo Schülerinnen mit deutschem bzw. christlichem Hintergrund in der Minderheit sind und deswegen als »Schlampen«, »Nutten« und »Schweinefleischfresser« angepöbelt werden; Schüler aus durchaus intakten Familien mit »Migrationshintergrund«, die noch nicht strafmündig aber schon wegen gefährlicher Körperverletzung und Hehlerei aufgefallen und ohne zu zögern in der Lage sind, eine Diskussion mit ei- ner Lehrerin mittels eines gezielten Faustschlags für sich zu entscheiden; Eltern, die ihre Töchter weder am 

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