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Prolegomena zu einer Textkritischen Edition der Ästhetischen Theorie Adornos PDF

32 Pages·2014·2.31 MB·German
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Martin Endres, Axel Pichler, Claus Zittel „Noch offen“ Prolegomena zu einer Textkritischen Edition der Ästhetischen Theorie Adornos AdornosÄsthetischeTheorie1 zähltzweifellos zu den wirkmächtigsten Schriften zur Ästhetik des 20.Jahrhunderts. Gleichwohl liegt sie bis heute nur in einer Text- edition vor, die sich selbst als Leseausgabe versteht und als solche zwangsläufig gängige editionsphilologische Standards textkritischer Editionen unterläuft. Im Unterschied zu anderen Leseausgaben gab es jedoch in diesem Fall keinen ge- druckten Text, der als Vorlage dienen konnte, sondern nur einen riesigen Fundus an Typoskripten, aus dem posthum ein lesbarer Text von den Editoren erarbeitet wurde. Diese herkulische Aufgabe hatten Rolf Tiedemann und Gretel Adorno mit solcher Bravour erledigt, dass die meisten Interpreten des Textes ihn nicht anders behandelten als die anderen Schriften aus der Feder Adornos.2 Die Suhr- kamp-Ausgabe der Ästhetischen Theorie ist daher zweifellos als großer Erfolg zu werten, diese Edition hat in ganz unterschiedliche Diskursbereiche hinein eine enorme Wirkung entfaltet und wichtige Debatten erst ermöglicht. Wir wollen mit den nachfolgenden Überlegungen die Verdienste der älteren Edition keines- wegsschmälern,sondernneuePerspektivenaufAdornosTexteröffnen,diedurch die bisherige Textausgabe verstellt sind. So hat unter anderem die bestehende Edition durch eine linearisierte Textdarbietung die eigentliche Materialität der Textträger verdeckt, was für die Rezeption relevant wird, da damit zugleich das interne Referenzsystem der Typoskripte zur Ästhetischen Theorie verändert und partiell außer Kraft gesetzt wurde. Die Leseausgabe gibt so den Interpreten die Lizenz, den Text als ,Steinbruch‘ zu verstehen, aus dem jeweils passende Stücke 1DieÄsthetischeTheorieAdornoswirdimFolgendenimLauftextinrunderKlammerdurchdieSigle ÄTsowienachdenSeitenangabendes7.BandesderSuhrkamp-AusgabederGesammeltenSchriften (hrsg.vonRolfTiedemannunterMitwirkungvonGretelAdorno,SusanBuck-MorssundKlaus Schultz. Frankfurt/Main 2003) ausgewiesen. Die im Frankfurter ,Theodor W. Adorno-Archiv‘ einsehbaren Handschriften und Typoskripte werden nach der dortigen Zählung dem Schema ,Ts und Typoskriptnummer‘ folgend zitiert, z.B.: Ts 18075. – Wir möchten an dieser Stelle dem Frankfurter ,Theodor W. Adorno Archiv‘ und dem ,Walter Benjamin Archiv‘ derAkademie der KünsteBerlinsowieder,HamburgerStiftungzurFörderungfürWissenschaftundKultur‘fürdie freundlich-sachlicheZusammenarbeitsowiedieErlaubnis,ausgewählteHandschriftenAdornosin diesemArtikelabzudrucken,danken. 2SelbstStudien,diesichexplizitAdornosSchreibweiseninderÄsthetischenTheoriewidmen,reflek- tieren nicht, dass diese Resultat editorischer Entscheidungen sind. Siehe z.B. Antje Giffhorn: In derZwischenzone.TheodorW.AdornosSchreibweiseinder„ÄsthetischenTheorie“.Würzburg 1999. editio27,2013 DOI 10.1515/editio-2013-011 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 174 MartinEndres,AxelPichler,ClausZittel zur Affirmation oder Kritik herausgelöst werden können. Es verwundert daher kaum, dass auf der Grundlage eines derartigen Textverständnisses zahlreiche bis- herigeInterpretationenderÄsthetischenTheoriezumeistjeneDeutungsmöglichkeit marginalisieren, nach welcher Adornos Aufzeichnungen zur ästhetischen Theorie nicht nur eine „Untersuchung über die Möglichkeit solcher Theorie“3 sind, son- dern zugleich den Versuch einer ,ästhetischen‘ Theoriebildung darstellen, die di- rekt auf ihre eigenen Darstellungsprinzipien reflektiert.4 Erst auf Grundlage des überlieferten Materialbestandes lässt sich philologisch und philosophisch adäquat überprüfen, ob für die Darstellungsform dieser Theorie gilt, was Adorno Kunst- werken bescheinigt: „Der geistige Gehalt schwebt nicht jenseits der Faktur, son- derndieKunstwerketranszendierenihrTatsächlichesdurchihreFaktur,durchdie Konsequenz ihrer Durchbildung“ (ÄT 195). I. Das hier vorgestellte Editionsprojekt versucht diesem Sachverhalt gerecht zu wer- den, indem es erstmals den tradierten Textbestand von Adornos ,fragmentum magnum‘ in einer textkritischen Neuedition der Öffentlichkeit zugänglich ma- chen wird. Die editionsphilologischen Kriterien dieser Neuedition, deren erster BandsichaufdiePublikationeinesausgewähltenAbschnittsderÄsthetischenTheo- rie beschränken wird, werden wir im Folgenden offenlegen. Grundannahme die- ses Projektes ist, dass der „materielle Text niemals unabhängig von seiner physi- schen Erscheinung wahrgenommen werden kann und dass seine jeweilige physische Erscheinungsform wesentlich die kognitive Leistung, die bei der Lek- türe erbracht werden muss, steuert“.5 Dementsprechend wird dieser Aufsatz in einemerstenSchrittquaKonfrontationderEntstehungsgeschichtederÄsthetischen Theorie mit der bisherigen Edition einen ersten Einblick in den Materialstand und dieGenesedesTextesliefern,umdannausgehenddavondieEditionskriteriender projektierten Neuausgabe zu entwickeln und die interpretatorischen Konsequen- zenderdarausresultierendenEditionanhandvonparadigmatischenLektürenvor- zuführen. Wie bereits eingangs erwähnt, liegt die bislang einzige Textausgabe von Ador- nos Ästhetischer Theorie mit der von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann besorg- 3RuthSonderegger:ÄsthetischeTheorie.In:Adorno-Handbuch.Leben–Werk–Wirkung.Hrsg. vonRichardKlein,JohannKreuzerundStefanMüller-Doohm.Stuttgart2011,S.414. 4SiehedazuinsbesondereRüdigerBubner:KannTheorieästhetischwerden?ZumHauptmotivder PhilosophieAdornos.In:MaterialienzurästhetischenTheorieTh.W.Adornos.Konstruktionder Moderne.Hrsg.vonBurkhardtLindnerundW.MartinLüdke.Frankfurt/Main1980,S.108–137. 5Wolfgang Neuber, Karl A.E. Enenkel: Einleitung. In: Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation ofKnowledge inthePrinted BookoftheEarly ModernPeriod.Hrsg.von dens.Leiden,Boston2005,S.1. editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 175 TextkritischeEditionderÄsthetischenTheorieAdornos ten Leseausgabe von 1970 im Suhrkamp Verlag vor. In einem dem Text beige- stellten editorischen Nachwort geben die beiden Herausgeber einen kurzen Überblick über die der Ausgabe zugrunde gelegten Handschriften und Typo- skripte und begründen ihr editorisches Vorgehen, das den letzten Arbeitszeugnis- sen und Aufzeichnungen Adornos gerecht werden möchte (vgl. ÄT 535–544). Die Schwierigkeit einer solchen Aufgabe manifestiert sich nicht zuletzt im überlieferten Textbestand von beinahe 2900Handschriften und Typoskripten so- wieinderüberdiesenachvollziehbaren,vonAdornoselbstnichtabgeschlossenen Textgenese. Diese sei hier nun kurz vorgestellt: Bereits 1931/32 erstellt Adorno Aufzeichnungen zur Ästhetik-Vorlesung von 1931/32,6 es folgen später mehrere Ästhetik-Vorlesungen, die den Grundstock bilden für die 1961 von Adorno dik- tierteersteVersiondesvonihmlangegeplantenBuches,dessenTranskription,die 152Typoskriptseiten umfassende sogenannte ,Paragraphen-Ästhetik‘, überliefert ist (Ts20364–20515; s.Abb.1). Nach einer durch die Arbeit an der Negativen Dialektik und anderen Projekten bedingten Arbeitspause wurde von ihm vom 25.Oktober1966biszum24.Januar1968einzweitesDiktaterstellt,dessenhand- schriftliche Fassung zwar nicht überliefert ist, dafür jedoch das redigierte Typo- skript. Dieses nach seiner Einteilung in Kapitel als ,Kapitel-Ästhetik‘ bezeichnete Konvolut umfasst inklusive der Einfügungen sowie der ,Frühen Einleitung‘ 765Typoskriptseiten (,Frühe Einleitung‘: Ts19578–19638 [=61S.], ,Einfügun- gen zur frühen Einleitung‘: Ts19639–19692 [=54S.], ,Kapitel-Ästhetik‘: Ts19712–20282 [=571S.], ,Einfügungen zur Kapitel-Ästhetik‘: Ts20283–20361 [=79 S.]).7 Es handelt sich bei ihm um die letzte von Adorno selbst fertiggestellte Textfassung. In ihr traten an die Stelle von Paragraphen sieben in ihrem Umfang stark variierende Kapitel, von denen fünf einen Titel tragen. Von diesen wurden zwei – nämlich diejenigen der KapitelI „Situation“ und II „Begriff des Ästheti- schen“ – erst nachträglich per Hand in die Typoskripte eingefügt, während die anderen drei – diejenigen der Kapitel III „Verhältnis zu den traditionellen Kate- gorien“, V „Gesellschaft“ und „VII (Metaphysik)“ – im Zuge der Transkription des Diktats abgetippt wurden (s.Abb. 2, Ts19954).8 6TheodorW.Adorno:AufzeichnungenzurÄsthetik.In:FrankfurterAdornoBlätter1.Hrsg.vom Theodor W. Adorno Archiv. Frankfurt/Main 1993; s. auch Theodor W. Adorno: Ästhetik (1958/59).Hrsg.vonEberhardOrtland.Frankfurt/Main2009. 7Der eigentliche Lauftext der ,Frühen Einleitung‘ wird zusätzlich noch flankiert von 21 weiteren Typoskriptseiten, die sechs Seiten von Separatabschriften (Ts19693–19696 und Ts20362f.), eine ausgeschiedene Seite aus dem Lauftext (Ts19697), sechs Seiten von sogenannten Desideraten (Ts19698–19703) sowie ein achtseitiges ,Verzeichnis der Headings zur Frühen Einleitung‘ (Ts19704–19711)umfassen. 8DieeinzelnenKapiteldeseigentlichenLauftextesder,Kapitel-Ästhetik‘besitzenfolgendenSeiten- umfang: KapitelI (Ts19712–19784): 73S., KapitelII (Ts19785–19953): 169S., KapitelIII (Ts19954–20105):152S.,KapitelIV(Ts20106–20158):53S.,KapitelV(Ts20159–20222):64S., KapitelVI(Ts20223–20265):43S.,KapitelVII(Ts20266–20282):17S. editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 176 MartinEndres,AxelPichler,ClausZittel Nach Abschluss dieser Textfassung im September 1968 machte sich Adorno an eine weitere Redaktion. In einem seiner letzten Briefe schreibt er von einer „verzweifelten Anstrengung“, die für die Erstellung einer endgültigen Druckfas- sung aus den vorliegenden Entwürfen nötig sei, die „wesentlich“ in der „Orga- editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 177 TextkritischeEditionderÄsthetischenTheorieAdornos editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 178 MartinEndres,AxelPichler,ClausZittel nisation“ des vorhandenen Materials bestehen würde (ÄT 537). Diese letzte Re- daktion, deren Resultate als vermeintliche ,Fassung letzter Hand‘ überliefert sind, bestand vorwiegend in handschriftlichen Überarbeitungen sowie der Einfügung von Strukturierungsverweisen auf und neben der Grundschicht der ,Kapitel- Ästhetik‘. Folgt man den Herausgebern der Suhrkamp-Ausgabe, hätte diese Re- daktion „zahlreiche Umstellungen innerhalb des Textes, auch Kürzungen ge- bracht; ihm [diesem Arbeitsgang] war die Eingliederung jener Fragmente vorbehalten,diejetztalsParalipomenaabgedrucktsind;diefrüheEinleitungwäre durch eine neue ersetzt worden. Schließlich hätte Adorno an sprachlichen Details noch manches zu verbessern gefunden“ (ÄT 537). AdornobegannmitdiesenArbeitenimOktober1968.Umsicheinenbesseren Überblick über das bisher vorhandene Textmaterial zu verschaffen, fügte er im Zuge dieser Redaktion am Kopf der bestehenden Typoskripte sogenannte ‘Hea- dings’ ein, in welchen er die Thematik der jeweiligen Seite in kurze thesenartige Sätze fasste, und erstellte im November desselben Jahres zwei insgesamt 100Ty- poskriptseiten umfassende Listen derselben, von denen ein Auszug, nämlich der Anfang der Liste der ‘Headings’ des III.Kapitels der ,Kapitel-Ästhetik‘ als Abb.3 wiedergegeben ist (Ts19497). Zur selben Zeit entstanden auch die sogenannten ,Regiebemerkungen‘, bei denen es sich um textkompositorische und poetologische Metareflexionen Ador- nos handelt. Diese für ein Verständnis des weiteren Überarbeitungsprozesses zen- tralen Reflexionen und Überarbeitungsvorgaben sind sowohl als Handschrift als auch in abgetippter Form überliefert. Letztere Variante, die von der handschrift- lichen Version dadurch abweicht, dass sie nur die Anmerkungen von Adornos Hand vollständig verzeichnet, nicht jedoch diejenigen seiner Frau, umfasst 18Typoskriptseiten(indreiExemplaren:Ts19419–19472).Derenhohetextkom- positorische und zugleich philosophische Relevanz belegt zum Beispiel die fol- gendeBemerkung:„Entschluß,nichtinfortlaufendemGedankengangsondernin konzentrischer, quasi parataktischer Darstellung zu schreiben. Darüber einen zen- tralen Absatz in die Einleitung. Konsequenz aus der ND ziehen!“ (Ts 19428, s.Abb.4). Auf die aus Äußerungen wie dieser zu ziehenden editorischen Kon- sequenzen wird später noch ausführlicher eingegangen werden. Der überlieferte Textbestand der ,Fassung letzter Hand‘ umfasst mehr als 1600 Typoskriptseiten(exakt:1678),derenKernbestand675Typoskriptseitenbilden,zu denen auch drei Kapitel der ,Kapitel-Ästhetik‘ zählen, die im Zuge des ersten Überarbeitungsganges außerhalb des Haupttextes verblieben waren und von denen zwei – die Kapitel „Parolen“ (Ts18358–18406) und „Situation“ (Ts18294–18357) – von Adorno noch im März 1969 und ein weiteres, das Ka- pitel „Metaphysik“ (Ts18407–18424), bis zum 15.Mai 1969 umgearbeitet wur- den.9 Im Zuge dieser Überarbeitungen hat Adorno 67Seiten, die Mehrheit von 9VonTeilendiesertemporärausgegliedertenKapitelexistierenauchposthumeSeparatabschriftenin editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 179 TextkritischeEditionderÄsthetischenTheorieAdornos editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 180 MartinEndres,AxelPichler,ClausZittel ihnen,nämlich58,ausdemursprünglichII.Kapitelder,Kapitel-Ästhetik‘,ausder ,Fassung letzter Hand‘ ausgegliedert (vgl. Ts 18533–18599).10 Der sich daraus er- gebende Kernbestand wird ergänzt von elf Konvoluten von ,Einfügungen‘, die 739 Typoskriptseiten umfassen. Ein Teil dieser zumeist in zahlreichen Varianten vorliegenden ,Einfügungen‘ wurde in der Suhrkamp-Ausgabe in die Paralipo- mena aufgenommen. Zugleich istaus dem einzigenEinfügungskonvolut, das kei- ne römische Ziffer trägt (vgl. Ts 18425–18532), der von den Herausgebern als viertes Kapitel der Leseausgabe publizierte Abschnitt „Das Naturschöne“ (vgl. ÄT97–121) hervorgegangen. ImeditorischenNachworthabenGretelAdornoundRolfTiedemannsichauf Äußerungen Adornos zur ,parataktischen Textorganisation‘ und zur ,konzentri- schen-konstellativen Ordnung des Gesagten‘ berufen, wie sie sich unter anderem in den ,Regiebemerkungen‘ finden, sowie auf philosophische Überlegungen Adornos, die der Kritik „des in sich Geschlossenen, abschlußhaft Systematischen“ (ÄT537) gelten. Ohne die beeindruckende editorische Leistung der beiden Her- ausgeber per se in Zweifel zu ziehen – immerhin ist es ihnen in nur einem Jahr gelungen, aus dem umfangreichen und in seiner Genese nur schwer überblick- baren überlieferten Textmaterial einen die Forschung bis heute bestimmenden Lesetext zu konstituieren –, stellt sich an diesem Punkt jedoch die Frage, inwie- weit die editorische Maxime, den Text „so getreu wie möglich [zu] veröffentli- chen“ (ÄT537), in der Darstellung der vorliegenden Edition realisiert wurde. Denn auch wenn die Herausgeber an ihre Edition „keine Ansprüche einer kri- tisch-historischen“ Ausgabe stellen, so beanspruchen sie doch, dass die erstellte Version „den vollständigen Text der letzten Fassung“ (ÄT542) enthalte. Ange- sichts der Überlieferungsträger ist hier jedoch Skepsis anzumelden. Zunächst re- lativieren Gretel Adorno und Rolf Tiedemann ihre Aussage selbst, wenn sie ihr mitunter selektives Vorgehen bezüglich der Textträger rechtfertigen. So seien „PassagenderDiktatversion[fortgelassenworden],dieindenzweitenArbeitsgang nicht einbezogen wurden; auch wo Adorno sie nicht ausdrücklich gestrichen hat, müssen sie als von ihm verworfen gelten“ (ÄT537). Hingegen habe man Ab- schnitte im Anhang abgedruckt, deren „sachliches Gewicht“ es verböte, „sie aus- zuscheiden“ (ÄT537). Auch an anderer Stelle sind es die beiläufig eingestreuten Formulierungen, die an der ,Texttreue‘ gegenüber dem Überlieferten zweifeln lassen: So habe man „zurückhaltend korrigiert“, „von Konjekturen möglichst ab[ge]sehen“ oder nur in den Fällen konjiziert, „in denen es Mißverständnisse des jeweilsdoppelterAusführung.EshandeltsichdabeiumdieTyposkripteTs20516–20589(zweimal 37S.; fortlaufende Abschrift aus „Situation“), Ts20590–20639 (zweimal 25S.; fortlaufende Ab- schriftaus„Parolen“)undTs20640–20671(zweimal16S.;fortlaufenderTextaus„Metaphysik“). 10Es handelt sich dabei um die Seiten 41–63, 70, 73–78, 82–87, 90–100, 109–118, 126 und 127 sowie160desursprünglichII.Kapitelsder,Kapitel-Ästhetik‘.BeidenrestlichenneunSeitendieses KonvoluteshandeltessichumsiebenausdemIII.Kapitelder,Kapitel-Ästhetik‘sowiezweiwohl ursprünglichalsEinfügunggedachteEinzelblätter. editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 181 TextkritischeEditionderÄsthetischenTheorieAdornos Sinns auszuschließen galt“ (ÄT543; Hervorhebung von den Verf.). Am stärksten wirken sich die editorischen Eingriffe jedoch auf die Ordnung der Überliefe- rungsträgeraus.Angaben,anwelcherStelleeinePassageodereinAbschnittindie editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32 182 MartinEndres,AxelPichler,ClausZittel Grundschicht der Aufzeichnungen einzufügen sei, wurden zwar von Adorno in Form von Randnotizen vorgenommen. Die Herausgeber rechtfertigen die Or- ganisationihrerTextfassungsowiediePlatzierungvonaufEinzelblätternnotierten Ergänzungen und Erweiterungen jedoch zusätzlich durch den „Gang des Ge- dankens“, der mitunter „zwingend“ die von ihnen gewählte Abfolge der Kapitel nahelege(ÄT543).Dort,wosichdiesealleinaufInterpretationbegründeteLogik nicht einstellt und sich eine „Integration dieser Fragmente in den Haupttext als undurchführbar“erwies,wurdendieseals„Paralipomena“imAnhangabgedruckt. Welche Folgen dieses Prozedere zeitigt, sei hier an einem kurzen Beispiel ver- anschaulicht. Es handelt sich dabei um die Typoskriptseiten Ts18085 und Ts18086, mit denen ursprünglich das III.Kapitel der ,Kapitel-Ästhetik‘ eröffnet wurde (s.Abb.5 und 6). Der Textbestand wurde von den Herausgebern der Suhrkamp-Ausgabe getrennt, und so findet sich ein Teil, nämlich die zweite HälftevonTs18086,alsAbsatzimHaupttext(ÄT268)inderMittedersiebenten Seite der publizierten Fassung des Abschnitts ,Zur Theorie des Kunstwerks‘, der andere Teil als ein Paralipomenon im Anhang (ÄT392f.). Die im Typoskript nachvollziehbare Verschränkung der auseinandergerissenen Elemente ist, wie ein Blick auf deren Inhalt zeigt, nicht nur von topographischer Natur, sondern auch von hoher interpretatorischer Relevanz: Die Lesart der ersten Textfassung – d.h. der Fassung des noch nicht überarbeiteten Diktats der sogenannten ,Kapitel- Ästhetik‘ – des Anfangs von Ts18085 lautet (s. Abb.5): Wie Konstruktion ein Moment aller traditionellen Kunst von Rang ist, heute aber in Reflexion ihrer selbst, anstelle der vorgegebenen Formen tritt – der Terminus dafür lautet„Auskonstruktion“1–,durchihreEmanzipationzueinemAnderenwird,schließ- lich, sich selbst negierend, in ein qualitativ anderes übergeht, so ist es wohl um die traditionell ästhetischen Kategorien insgesamt bestellt. Der Forderung, Ästhetik habe konkrete künstlerische Erfahrung in sich einzubeziehen, ohne ihren dezidierten theo- retischen Charakter aufzuweichen, ist wohl am besten dadurch zu genügen, daß man modellartigjenerBewegungansolchenKategoriennachgehtundsiederkünstlerischen Erfahrung konfrontiert. (Ts18085) Dieser vermeintliche Exkurs findet sich in der von den Herausgebern der Suhr- kamp-Ausgabe erstellten Anordnung der Typoskripte der ,Fassung letzter Hand‘ des Abschnitts ,Zur Theorie des Kunstwerks‘ zwischen dem Ende der Seite266 der Suhrkamp-Ausgabe (=Ts18084) und dem Anfang des zweiten Absatzes der Seite268 (=Ts18086, Z.26ff.), von welcher er auch im Typoskript eindeutig abgesetztwird.DiematerialeGrundlagedervondenHerausgebernanstelledesals viertes Paralipomenon abgedruckten ,Exkurses‘ bilden hingegen die Typoskripte Ts18092 und Ts18093, bei denen es sich um die überarbeitete Fassung der Sei- ten7 und 8 der ,Kapitel-Ästhetik‘ handelt. Auf deren erster Seite (Ts18092) fin- det sich folgende mit Bleistift eingefügte Randbemerkung Adornos: „Muß das nicht an den Anfang des Abschnitts über Kunstwerk?“, und dann darunter mit Kugelschreiber in fremder Hand: „Ja“. editio27,2013 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Leipzig Angemeldet Heruntergeladen am | 09.06.16 13:32

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Martin Endres, Axel Pichler, Claus Zittel. „Noch offen“. DOI 10.1515/editio-2013-011. Prolegomena zu einer Textkritischen Edition der Ästhetischen
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