ebook img

Das ist ein Nulleck. Ach nee, ein Kreis PDF

24 Pages·2014·0.81 MB·German
by  
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Das ist ein Nulleck. Ach nee, ein Kreis

nifbe-Themenheft Nr. 20 „Das ist ein Nulleck. Ach nee, ein Kreis ...“ Gemeinsame Lernkultur im Übergang Ulrike Graf Schutzgebühr 2 Euro Gefördert durch: 3 „Das ist ein Nulleck. Ach nee, ein Kreis ...“ Gemeinsame Lernkultur im Übergang Abstract: Welchen Sinn kann es haben, Kinder des Elementar- und des Primarbereiches in gemeinsamen Bildungskontexten zusammenzuführen? Und worauf sollen sich die BildungsbegleiterInnen aus Kindergarten und Grundschule beziehen, wenn sie Angebote oder „Aufgaben“ institutionenübergreifend gestalten? Ihre Ausbildungswege und Aufträge weisen dazu mehr Differenzen aus, als bisher an Gemeinsamkeiten in manch öffentlichem Diskurs ausgemacht wur- de. Oder doch nicht? Im vorliegenden Themenheft wird an einem Beispiel herausgearbeitet, wie gegenwärtige Erkenntnisse über die Weltaneignung von Kindern pädagogisch wie didaktisch-methodisch fruchtbar gemacht werden können, indem sie als gemeinsamer Bezugspunkt für die Gestaltung koope- rativer Bildungskontexte am Übergang genutzt werden. Fach- und Lehrkräfte werden dabei in ihrer Expertise, Bildungsräume (immer neu) zu gestalten, an- gesprochen. Gliederung 1. Einleitung 2. Der Kinder-Campus-Tag 3. Weltaneignungsprozesse von Kindern 4. „Angebot“ oder „Aufgabe“? Kriterien von Strukturierung und pädagogisch-didaktischer Interaktion in komplexen Zusammenhängen 5. Geometrie-Expeditionen auf dem Campus-Gelände oder: Von der Produktivität provozierter selektiver Wahrnehmungen 5.1 Angebotsbeschreibung 5.2 Strukturanalyse der „Geometrie-Expedition“ im Hinblick auf multi- professionelles, übergangsbezogenes und offenes Arbeiten 6. Erkenntnisse für die Gestaltung einer Lernkultur am Übergang 7. Konsequenzen für Aus- und Fortbildung 8. Literatur 4 1. Einleitung In den letzten Jahren sind in der Diskussion um die institutionen-übergreifen- de Arbeit besonders die „Grenzfragen“ nach einer zu vermeidenden Verschu- lung des Kindergartens bzw. einer Bewahrung der Schule vor zu viel „spiele- rischem“ Lernen thematisiert worden (Diller u.a. 2010). Dabei ist jeweils zu fragen, welches Bild von Kindergarten und Schule in solchen Aussagen ge- dacht wird. Denn in (grundschul-)pädagogischen Zusammenhängen halten Be- strebungen, systematischen Unterricht für die Aktivitäten von Kindern immer mehr zu öffnen, seit der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. Nicht zuletzt tritt die Lernwerkstattbewegung seit den 1970er Jahren dafür ein (Verbund europäischer Lernwerkstätten 2009, Grundschule 2011, Hagstedt 2012). Zudem haben die durch PISA ausgelösten Weiterentwicklungen im Ele- mentarbereich neue Impulse für die Unterrichtsentwicklung im Grundschul- bereich gegeben (u.a. Graf & Samuel 2009, Graf 2010, Košinár & Carle 2012, Graf 2012). In der Verbindung einer kooperativen Gestaltung von Angebots- und Aufga- benkontexten zwischen Elementar- und Primarbereich, besonders in der un- mittelbaren Übergangskooperation, werden im Folgenden Kriterien für die Ge- staltung gemeinsamer Angebote für Kindergarten– und Grundschulkinder am Beispiel einer „Geometrie-Expedition“ vorgestellt. Kooperierende Einrichtun- gen können hier Anhaltspunkte finden, um eigene Angebote zu vereinbaren. 2. Der Kinder-Campus-Tag Die „Geometrie-Expedition“ ist ein Produkt des Kinder-Campus-Tages1, der als Pro- jekt zur Gestaltung gemeinsamer Aufgabenangebote am Übergang an der Univer- sität Osnabrück seit dem Sommer 2012 bisher jedes Semester stattgefunden hat. Das Hauptaugenmerk des Kinder-Campus-Tages liegt auf der Strukturierung von Angebots- und Aufgabenkontexten, in denen Kindern ihr individueller Zugang zu Welt erhalten bleibt und ihnen zeitgleich die kulturellen Zugänge (Schäfer 2006, 42f; Neuß 2007, 154) zur Erschließung dieser Welt zur Verfü- gung gestellt werden; in denen an ihren Interessen angeknüpft und zugleich Interessenausbildung durch die Begegnung mit bisher Fremdem ermöglicht Angebots- und Aufgabenkon- wird. Zudem steht Schule in ausgeprägter Weise für das „theoretische Den- texte sollen so gestaltet sein, ken“ (Schäfer 2004, 22f.), in dem Kinder von den subjektiv bedeutsamen Theo- dass sie den Kindern ihren in- rien zu den von der Kultur anerkannten wechseln. Um den Denkaktivitäten der dividuellen Zugang zur Welt Kinder weiterhin einen Raum zu geben, dürfen die Wahrheitskriterien, auf die erhalten und ihnen zugleich sich eine Kultur bezieht (z.B. Wissenschaftlichkeit), nicht einfach dargeboten, die kulturell vereinbarten Zu- sondern müssen die Kinder dafür gewonnen werden. gänge öffnen Die Entwicklung gemeinsamer Aufgaben für Kinder führt daher auch die bisher getrennt ausgebildeten und unter verschiedenen Bildungsaufträgen arbeitenden BildungsbegleiterInnen in einem gemeinsamen Handlungsfeld zusammen. 1 Vgl. http://www.schulpaedagogik.uni-osnabrueck.de/index.php/de/personen/ulrike-graf/ forschung 5 Am Kinder-Campus-Tag sind jeweils heterogene Gruppen von Vorschul- und Erstklassenkindern auf dem Schlossgelände der Universität zu Gast. Er basiert auf folgenden pädagogischen und didaktischen Prinzipien: Heterogene Grup- pen von Vorschul- und Erstklasskindern kooperierender Einrichtungen werden von heterogenen Studierenden-Gruppen einen halben Tag lang begleitet. Die Studierenden spiegeln die Mulitprofessionalität am Übergang insofern wider, als sie zum einen das Lehramt an Grundschule anstreben sowie zum anderen die Profilbildung Elementarbereich studieren. Damit können interprofessionel- Pädagogischer und didak- le Dialoge schon im Studium platziert werden, die seit Jahren in den Koope- tischer Bezugspunkt ist das rationsprojekten (nicht nur) in Niedersachsen zum beruflichen Profil beider lernwerkstattorientierte Ar- Institutionen gehören. Pädagogischer und didaktischer Bezugspunkt bildet beiten das lernwerkstattorientierte Arbeiten. Es ist charakterisiert durch einen eher offenen Angebotskontext, in dem es den Kindern ermöglicht wird, eigenen Interessen zu folgen. Die Bildungsaufträge spielen dabei für die erwachsenen BildungsbegleiterInnen folgende Rolle: Sie sind in der Vorbereitung des Ange- bots, der Beobachtung und Deutung der kindlichen Aktivitäten, der Partizipa- tion und Einmischung sowie der Reflexion zu berücksichtigen. Damit sind die Prinzipien aktueller wissenschaftlicher Diskurse benannt, die den weiteren Ausführungen zu Grunde liegen: • interprofessionelle Kooperation ((zukünftige) Lehrkräfte und Fachkräfte im Elementarbereich) • Übergangsgestaltung vom Elementar- zum Primarbereich unter dem Vor- zeichen verpflichtender Kooperation sowie der bildungspolitischen Ent- wicklung hin zu einer altersbezogenen Bildung von 0 bis 10 Jahren 6 • lernwerkstatt-orientiertes Arbeiten, bei dem eine Umgebung in ihrer Kom- plexität so strukturiert wird, dass Kinder auf der Basis ihre Entwicklungs- und Wissensvoraussetzungen Wirklichkeit erfassen und Welt (re-)konstru- ieren können.2 In der Heterogenität der Kinder und den Bildungsaufträgen ihrer jeweiligen Einrichtungen bildet unser Wissen über die Weltaneignung von Kindern den gemeinsamen Bezugspunkt pädagogischer wie didaktisch-methodischer Pla- nungen. 3. Weltaneignungsprozesse von Kindern Das gegenwärtige Paradigma des „eigenaktiven Kindes“, das sich die Welt an- eignet, indem es in und mit ihr handelt und mit den daraus hervorgegange- nen inneren Repräsentationen in jede weitere Weltbegegnung geht, führt in institutionellen Bildungskontexten regelmäßig zu der Frage: Welche Angebotsstrukturen sind dieser Dynamik gemäß? Wie kann die Eigen- aktivität auch dort erhalten bleiben, wo ein Bildungsauftrag zu bestimmten Inhalten und Strategien verpflichtet? Besonders relevant ist die Frage am Übergang vom Kindergarten zur Grund- schule deshalb, weil die Kinder von einem Kontext, der den Schwerpunkt auf individuelle Prozesse und individuelle Entwicklungen legt, hin zu einem Setting wechseln, das ihnen über Aufgaben eine „Brücke zur Leistung“ (Röbe 2000, 12) baut. Mit dem Schuleintritt werden Mit dem Schuleintritt werden die Leistungsansprüche unausweichlich und die Leistungsansprüche un- sind gleichzeitig eine Chance, sich die weiteren Bildungschancen zu erarbei- ausweichlich und sind gleich- ten. Zudem steht Schule für die Transformation subjektiver Theorien über die zeitig eine Chance, sich die Welt hin zum „theoretische(n) Denken“ (Schäfer 2004, 22f.)3, in dem Kinder weiteren Bildungschancen zu von den subjektiv bedeutsamen Theorien zu den von der Kultur anerkann- erarbeiten ten wechseln. Kinder schlagen diesen Weg im Zuge ihrer Entwicklung auch vor und neben der Schule ein. Erkennbar wird dies, wenn sie beginnen, sich an bestimmten Wahrheitskriterien zu orientieren (z.B. Unterschiede suchen und prüfen; Bezweifeln von Schlussfolgerungen, die sie aus Beobachtungen gewonnen haben). Schule greift diesen Zugang zur Welt nicht nur auf, sie be- fördert ihn und verpflichtet darauf in dem, was sie an abprüfbarer Leistung verlangt. Darin spiegelt sich das Interesse der Gesellschaft, Kindern die immer selbstständigere Gestaltung ihrer Welt und die Teilhabe an der Gesellschaft zu sichern. Aber: Gleichzeitig dürfen die Wahrheitskriterien nicht einfach darge- boten werden, vielmehr sind die Kinder dafür zu gewinnen. 2 Auf diese Weise ist ein Studienkontext modelliert, der die Möglichkeit bietet, Entwicklungen einer engeren institutionellen Verzahnung von Kindergarten und Grundschule im konkreten Feld in der ersten Qualifikationsphase zu antizipieren – insbesondere vor einer möglichen Ausweitung doppel-qualifizierender Studiengänge, wie sie nach bisherigen Recherchen einzig in Bremen und Erfurt existieren. 3 Schäfer verweist darauf, hier „den Begriff der „Theorie“ in einem sehr weiten Sinn (...) von Denk- zusammenhängen, die aber nicht streng logisch gedacht sein müssen“, zu verstehen. (Schäfer 2004, 22, A. 1) 7 Was tun die Kinder, wenn sie etwas tun? Sich gemeinsam Rechenschaft darüber zu geben, ist in interprofessionel- Die Sichtweisen auf das Kind len Planungskontexten unausweichlich. Die Sichtweisen auf das Kind und und sein Handeln in und mit sein Handeln in und mit der Welt sind geprägt von den eigenen, bisher un- der Welt sind in KiTa und terschiedlichen Ausbildungskontexten und –traditionen. Aus der Wahrneh- Grundschule geprägt von den mungspsychologie wissen wir, dass jeder Mensch sieht, was er kennt und eigenen, bisher unterschied- was er gewohnt ist, so zu sehen, wie er es sieht (selektive Wahrnehmung). Im lichen Ausbildungskontexten interprofessionellen Dialog können (un-)bewusste Konzepte des pädagogisch- und –traditionen didaktischen Handelns bewusst, zugänglich und thematisierbar werden. Die individuelle Entwicklung und anstehende Lernbedarfe von Kindern können dabei in unterschiedlicher Fachperspektive zur Geltung kommen und an die Notwendigkeiten der individuellen Bildungsbiografiebegleitung rückgebun- den werden – in einer die Institutionenzugehörigkeit übergreifenden Weise. Denn kein Kind darf durch Bildungsaufträge einer Institution in seinen Lernbe- wegungen begrenzt oder übergangen werden. Welche Erkenntnisse über Weltaneignung sind sowohl für elementar- wie pri- marpädagogisches Handeln basal? • Weltbegegnung ist ein konstruktiver Akt. Denn jede Welterfahrung ist eine Weltaneignung. Ob ein Kind seine Aktivitäten frei wählt oder ob ihm Dinge widerfahren, ob ein Kind etwas freiwillig tut oder dazu gezwungen wird, es zieht daraus Schlussfolgerungen. Diese Schlussfolgerungen, die auf kognitiver, emotionaler, sozialer und psychomotorischer Ebene beste- hen können, bilden die Wahrnehmungsperspektive des Kindes für jede weitere Weltbegegnung. a Pädagogisch-didaktische Kontexte müssen deshalb die bisherigen Welter- fahrungen des Kindes in der Weise berücksichtigen, dass sie diese als dessen individuelle Ausgangslage respektieren und lernförderlich in die Aktivitäten einbinden. Die Herausforderung am Übergang besteht darin, Aspekte, mit denen sich eine gelingende Schulkarriere prognostizieren lässt (Prävalenz- kriterien), nicht als Bringschuld des Kindes und seiner Familie zu behandeln. • Lernen geschieht in kontextueller Verflechtung von Anlage, Umwelt und Eigenaktivität (Krettenauer 2009). Das bedeutet: Die Potenziale von Anla- ge und Umwelt entfaltet ein Kind in seiner Eigenaktivität. Noch so anre- Die Potenziale von Anlage gungsreiches Material befördert die Entwicklung des Kindes nur, wenn es und Umwelt entfaltet ein Kind dieses nutzt. in seiner Eigenaktivität a Pädagogisch-didaktische Kontexte stehen in der Verantwortung, ent- wicklungsförderliche wie -fordernde Umgebungen zu schaffen. Ist dies eine bestens bekannte Tatsache, bleibt Folgendes eine anhaltende Aufgabe von Aus- und Weiterbildung: BildungsbegleiterInnen sind von Anfang ihrer Aus- bildung an darin zu schulen, die Potenziale von Umwelten zu erkennen und zugänglich zu machen. Nur wer weiß, welche Möglichkeiten im jeweiligen Material und in den jeweiligen Strukturen liegen, kann entwicklungsbeglei- tende Angebote sinnvoll platzieren und deren Nutzung diagnostisch einord- nen. Eine Herausforderung am Übergang besteht für die BildungsbegleiterIn- nen darin, das eigene Weltwissen über die Dinge und Phänomene zu pflegen, auch und gerade in subjektiv eher unbeliebten Bereichen (wie häufig im mathematisch-naturwissenschaftlichen Feld). 8 • Weltaneignung geschieht selbstbildend und sich verständigend. So sehr jedes Kind auf der Basis seines Vorwissens und seiner Vorerfahrungen agiert und dabei subjektive Theorien bildet, die (noch) mehr oder we- Eine Herausforderung für die niger realitätsgemäß sind, genauso sehr ist es im Kontakt mit anderen, Bildungsbegleitung ist im- die auf individueller Ebene dasselbe tun. Dabei begegnen die subjektiven mer wieder, wie der subjek- Konstrukte einander. Erkennt das eine Kind, dass die Bäume am Parkrand tive Fortschritt im sachlichen Natur sind, ergänzt das andere: „Die Bäume schon, aber die Allee nicht. Fehler des Kindes gewürdigt Sie ist von Menschen gemacht.“ (Kinder-Campus-Tag, Juni 2012). Die werden kann und gleichzeitig Wirklichkeit, auf die sich die je individuellen Wahrnehmungen beziehen, die Eigengesetzlichkeiten der bedarf der Verständigung. Der Prozess zielt auf einen Austausch der Per- Dinge vertreten werden spektiven und kann auch die Verständigung auf eine gemeinsame Deu- tung zum Ziel haben. Ein Kind formt eine Kugel aus Knetmasse und sagt „Das ist ein Kreis.“ Ein anderes Kind mischt sich ein. „Nein, das ist ein Ball. Ein Kreis ist so ...“ und drückt den Ball platt (Kinder-Campus-Tag, Januar 2013). Die subjektiven Theorien können metakognitiv verfügbar gemacht werden und stehen damit der gemeinsamen Betrachtung zur Verfügung. So kann Weltwissen erweitert werden. a Pädagogisch-didaktische Kontexte stehen in der Verantwortung, Kin- Pädagogisch-didaktische dern individuelle Zugänge und Theoriebildungen zu ermöglichen und sich Kontexte stehen in der Ver- für diese zu interessieren. Denn kognitive Entwicklung geschieht als „Wandel antwortung, Kindern indivi- domänenspezifischer intuitiver Theorien“ (Sodian 2005, 15) und der „Wis- duelle Zugänge und Theorie- senserwerb des Kindes als Prozess des Theoriewandels“ (Sodian 2005, 17). bildungen zu ermöglichen Eine ressourcenorientierte und beziehungssensible Diagnostik würdigt dabei und sich für diese zu interes- die sachlichen Fehler als momentan optimale Lösungsmöglichkeiten des Kin- sieren des und knüpft an diese an, um den nächsten Lernschritt zu ermöglichen. Eine solche Begleitung gibt zudem den Kindern ein Modell, wie mit unter- schiedlichen Lösungswegen wertschätzend umgegangen werden kann. Eine 9 Herausforderung für die Bildungsbegleitung ist immer wieder, wie der sub- jektive Fortschritt im sachlichen Fehler des Kindes gewürdigt werden kann und gleichzeitig die Eigengesetzlichkeiten der Dinge vertreten werden. Denn nur die „Reibung an der Sache“ führt zu weiteren Entwicklungsfenstern. •  Weltaneignung vollzieht sich in komplexen Zusammenhängen. Niemand lernt laufen, indem er zuerst die Abrollbewegung des linken Fußes lernt und dann die des rechten. Niemand lernt sprechen, indem ihm eine redu- zierte Sprachumgebung geboten wird, damit er es besser versteht. Und niemand käme auf die Idee, einem Kind zuerst einen Grashalm zu zeigen und es, wenn es diesen „verstanden hat“, auf eine Wiese zu führen. Im Gegenteil: Menschen „sehen“ und erkennen zuerst die Wiese und widmen sich dann ausgewählten Erkundungen. Und um ein Thema aus institu- tionellen Kontexten zu ergänzen: Isoliertes Vokabeltraining nutzt dem Erwerb einer Fremdsprache weniger als die Erweiterung des lexikalischen Verständnisses durch Sinnzusammenhänge und aktives sprachliches Han- deln. Pädagogisch-didaktische a Pädagogisch-didaktische Kontexte stehen in der Verantwortung, die Bil- Kontexte stehen in der Ver- dungs- bzw. Kompetenzbereiche, mit denen sie beauftragt sind, möglichst in antwortung, die Bildungs- ihrer Komplexität anzubieten. Dazu gehört, die Werkzeuge der jeweiligen bzw. Kompetenzbereiche, mit Disziplin zur Verfügung zu stellen (z.B. die Werkzeuge zur Produktion und denen sie beauftragt sind, Rezeption von Schriftsprache oder Werkzeuge für mathematische Operatio- möglichst in ihrer Komplexi- nen). Mit diesen Werkzeugen werden dem Kind Güter seiner Kultur zugäng- tät anzubieten lich, zu denen auch gehört, das theoretische Wissen kennen zu lernen, auf das sich die jeweilige Kultur verständigt hat. Im personal-sozialen Bereich zählen hierzu die Wertorientierungen einer Gesellschaft. Als Beispiel sei die Partizipation angeführt, die Basis jeder Demokratie ist. Partizipation ist nicht nur Aufgabe von Selbstverwaltung (im Fall von Schule: Schülermitver- antwortung), sondern auch ein pädagogisch-didaktisches Prinzip der Orga- nisation von Lernprozessen. Eine Herausforderung im Übergang besteht vor allem darin, dass mit der Schule die Verpflichtung auf jedes Kind zukommt, Lernfortschritte in definierten systematischen Wissenszusammenhängen nachzuweisen. Didaktische Entscheidungen stehen in der Schule deshalb im- mer wieder vor der Frage, was zur Sicherung des Könnens aus der Komplexi- tät gelöst werden kann. Zur Herausforderung des Übergangs zählt, das Kind für die Unausweichlichkeit des Leistungsanspruchs zu gewinnen UND sie ihm zu ermöglichen. • Weltaneignung geschieht weiterhin in der Bindung einer Person an eine Sache (Langeveld 1968). Alles, was ein Kind tut, macht für es Sinn: ob es sich freiwillig einer Sache widmet oder aus Angst vor Strafe den Befehl ausführt; ob es Freiräume nutzt, um eigene Betätigungsfelder zu wäh- len, oder sich an eine erwachsene Person hält, die für es entscheiden soll. Auch in diesen unterschiedlichen Zugängen äußern sich bisherige Welt- erfahrungen, daraus entwickelte (unbewusste) Konzepte und Handlungs- strategien. Die immer subjektive Sinndimension bewegt sich zwischen der Freiheit des Individuums und seiner Beanspruchung durch andere: der Wahl zwischen „Was möchte ich?“ (als unmittelbares Bedürfnis), „Was soll ich?“ (als Anforderung von außen) und „Was will ich?“ (als reflektierte Entscheidung in der Abwägung von momentanem Bedürfnis und Anfor- derung) (vgl. Cohn 1997, 145-151). Die letzte Frage ist eine vermittelnde Entscheidung zwischen individuellen und sozialen Bedürfnissen. Dabei 10 bewegt sich das Kind auf einer Achse zwischen Sicherheits- und Wachs- tumsbedürfnissen: Was traut es sich? Was sind nächste Schritte, die es geht? Wo benötigt es dabei „die Hand“ eines Erwachsenen? Wo verwei- Pädagogisch-didaktische gert es sich (noch), weil die Angst vor dem Neuen zu groß ist? Kontexte haben die Aufgabe, a Pädagogisch-didaktische Kontexte haben die Aufgabe, sich für den Sinn sich für den Sinn des Kindes des Kindes zu interessieren. Nur so kann es sich ernst genommen fühlen. zu interessieren. Nur so kann Anerkennung des subjektiven Sinns ist nicht gleich bedeutend damit, die es sich ernst genommen füh- Lösung sachlich einfach gelten zu lassen. Das gilt für unangemessen ausge- len. tragene soziale Konflikte wie für rechtschriftliche Falschschreibungen, auch wenn diese als individueller Lernfortschritt gewertet werden können. Die Herausforderung am Übergang besteht darin, dass die Lernerfolge des Kin- des mit Schuleintritt zunehmend (und ab der Notengebung ausschließlich) an der objektiven Richtigkeit und nicht mehr am individuellen Fortschritt bewertet werden. Emotional erfährt manches Kind zeitgleich einen Wechsel im Beziehungsgefüge seiner Familie, wenn die Leistungsbeurteilung Teil der Wertschätzung seiner ganzen Person wird. Zusammenfassend kann bei der Weltaneignung, die sich in einer Ver- schränkung von Eigenaktivität und Angewiesensein vollzieht, von fol- genden Aspekten ausgegangen werden: Im Bereich kognitiver und meta-kognitiver Eigenaktivitäten nimmt das Kind wahr, was es kennt (selektive Wahrnehmung), es vernetzt seine Wahrnehmungen mit vorhandenen Wissensbeständen und -strukturen, was zu Hypothesenbildungen führt, und kann über seine Erkenntnisse reflektieren (kognitiver und meta-kognitiver Bereich). Im Bereich sozial-emotionaler Eigenaktivitäten bewegt sich das Kind auf einem Wachstums-Sicherheits-Kontinuum; das heißt, es braucht subjektiv empfundene Sicherheit, um sich neuen Entdeckungen zu wid- men, die immer mit Unsicherheit verbunden sind; gleichzeitig ist es von Wachstumsimpulsen geleitet, die es zum Erkunden antreiben. Aufgrund von Bindungserfahrungen und Persönlichkeitseigenschaften verhält sich das Kind auf einer Bandbreite. Sie kann reichen von selbst die Initiative ergreifen über sich eher anderen anschließen bis hin zu für sich selbst sein wollen und alleine agieren. Zu den Dimensionen des Angewiesenseins gehören die professionel- len Kompetenzen zur Gestaltung pädagogisch-didaktisch begründbarer (Aufgaben-)Kontexte.

Description:
Ach nee, ein Kreis “ Gemeinsame Lernkultur im Übergang. Welchen Sinn kann es haben, Kinder des Elementar- und des Primarbereiches.
See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.